Landtag von Baden-Württemberg 15. Wahlperiode Drucksache 15 / 1457 19. 03. 2012 1Eingegangen: 19. 03. 2012 / Ausgegeben: 23. 04. 2012 K l e i n e A n f r a g e Wir fragen die Landesregierung: 1. Liegen ihr Erkenntnisse zum Neugeborenenscreening zur Erkennung angebo - rener Immundefekte vor? 2. Wie beurteilt sie das Neugeborenenscreening zur Erkennung angeborener Immundefekte ? 3. Erachtet sie eine Einführung des Neugeborenenscreenings zur Erkennung angeborener Immundefekte in Baden-Württemberg für sinnvoll? 19. 03. 2012 Mielich, Lucha GRÜNE Kleine Anfrage der Abg. Bärbl Mielich und Manfred Lucha GRÜNE und Antwort des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Neugeborenenscreening zur Erkennung von Immundefekten Drucksachen und Plenarprotokolle sind im Internet abrufbar unter: www.landtag-bw.de/Dokumente Der Landtag druckt auf Recyclingpapier, ausgezeichnet mit dem Umweltzeichen „Der Blaue Engel“. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 1457 2 B e g r ü n d u n g Das Neugeborenenscreening zur Früherkennung angeborener Hormon- und Stoffwechselstörungen ist seit 2008 für alle Neugeborenen eine Kassenleistung. Mithilfe einiger Tropfen Blut, die aus der Ferse des Kindes entnommen werden, kann das Neugeborene auf angeborene Stoffwechselkrankheiten untersucht werden. Oft kann eine Früherkennung der Disposition den Ausbruch der Krankheiten verhindern oder den Verlauf der Krankheit abmildern. Die Deutsche Selbsthilfe angeborene Immundefekte e. V. setzt sich dafür ein, das Neugeborenenscreening auf die Erkennung angeborener Immundefekte (schwerpunktmäßig SCID und B-Zell-Defekte) zu erweitern. Ein solches Screening sei in anderen Bundesländern (Sachsen, Bayern) bereits möglich. A n t w o r t Mit Schreiben vom 5. April 2012 Nr. 51-0141.5/15/1457 beantwortet das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren die Kleine Anfrage wie folgt: 1. Liegen der Landesregierung Erkenntnisse zum Neugeborenenscreening zur Erkennung angeborener Immundefekte vor? In den letzten Jahren hat sich durch die Entwicklung einer Nachweismethode zur Bestimmung von Nebenprodukten in der Entwicklung von B- und T-Zellen die Möglichkeit ergeben, aus getrocknetem Filterkartenblut, wie es heute bereits für das Neugeborenenscreening verwendet wird, angeborene Immundefekte spezifisch und frühzeitig zu erkennen. Angeborene Immundefekte, eine komplexe Gruppe von Erkrankungen, sind Erkrankungen mit schwerwiegenden Störungen in der Entwicklung und/oder Funktion der Immunzellen. Kinder mit schweren angeborenen T-Zelldefekten (wie dem schweren kombinierten Immundefekt) erscheinen zunächst gesund, entwickeln aber ab dem 3. bis 6. Lebensmonat schwerste Infektionen. Unbehandelt versterben die meisten Patienten im 1. Lebensjahr. Auch Impfungen mit Lebendimpfstoffen, wie beispielsweise die Rotavirusimpfung, können bei diesen Kindern zu tödlichen Komplikationen führen. Das mittlere Alter bei Diagnosestellung beträgt 6,5 Monate. Durch eine Stammzelltransplantation ist eine Heilung möglich, ihr Erfolg hängt aber entscheidend vom Fehlen vorbestehender schwerer Infektionen und somit von der rechtzeitigen Diagnosestellung ab (Studien zeigen beispielsweise, dass die Überlebenschance von Kindern mit schwerem kombinierten Immundefekt bei Transplantation vor dem Alter von 3,5 Monaten bei 96 % liegt, danach lediglich noch bei 69 %). Bei angeborenen Defekten der B-Zell-Entwicklung steht eine mangelhafte Antikörperbildung im Vordergrund. Das durchschnittliche Diagnosealter liegt hier bei 2 bis 3 Jahren. Bis zu diesem Alter bestehen bereits häufig irreparable Organschädigungen z. B. durch Lungen- oder Hirnhautentzündungen. Durch eine frühzeitig einsetzende Gabe von Antikörpern können Langzeitprognose und Gesundheitszustand dieser Patienten deutlich verbessert werden. Über die Häufigkeit von angeborenen Immundefekten ist insgesamt weltweit wenig bekannt. Die Häufigkeit von schweren kombinierten Immundefekten wird beispielsweise auf etwa 1:80.000 bis 1:50.000 Lebendgeburten geschätzt, das tatsächliche Vorkommen könnte aufgrund undiagnostizierter Todesfälle wesentlich höher liegen. Die Gesamthäufigkeit krankheitsrelevanter angeborener Immundefekte könnte nach den Ergebnissen US-amerikanischer Studien bei 1:20.000 Neugeborenen liegen. 3 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 1457 Seit 2009 wurden in mehreren Bundesstaaten der USA Pilotprojekte für ein Neugeborenenscreening auf schwere T-Zelldefekte initiiert. Es konnte gezeigt werden , dass Kinder mit niedrigen oder fehlenden T-Zellen mit Hilfe der oben beschriebenen Methode mit einer vertretbaren Anzahl falsch-positiver Ergebnisse entdeckt wurden. Im amerikanischen Setting konnten die Gesamtbehandlungs - kosten durch das Screening auf weniger als 1/5 der Kosten ohne Screening gesenkt werden. 2010 empfahl die amerikanische Gesundheitsministerin, schwere kombinierte Immundefekte in die Liste im Neugeborenenscreening erfasster Erkrankungen aufzunehmen. Das Neugeborenenscreening in Deutschland wird gemäß der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte- und Krankenkassen (G-BA) durchgeführt , die das Screening auf zwei endokrinologische Krankheiten und zwölf Stoffwechselkrankheiten festlegt. Ein Screening auf weitere Erkrankungen ist in der G-BA-Richtlinie – als untergesetzliche Norm – spezifisch ausgeschlossen. „Neue“ Erkrankungen wie angeborene Immundefekte können nur nach Antrag, Diskussion und Zustimmung des G-BA in den Katalog der Screeningerkrankungen für Deutschland aufgenommen werden. Ein Screening zur Erkennung von angeborenen Immundefekten kann in Deutschland daher nicht von einzelnen Laboratorien oder Ländern initiiert und durchgeführt werden. Auch in Sachsen und Bayern ist ein solches Screening somit noch nicht möglich. Die LMU München (von Haunersche Kinderklinik zusammen mit einem bayrischen Screeninglabor) plant jedoch ein Modellprojekt für ein Screening auf schwere T-Zell- und B-Zelldefekte im Kontext des bayerischen Neugeborenen- Stoffwechselscreenings. Die wissenschaftliche Begleitung dieses Modellprojekts ist ein Teil des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Deutschen Netzwerks für Primäre Immundefekte (www.pid-net.org). In Sachsen wird das Projekt „Screen-ID“ zum Neugeborenenscreening auf angeborene Immundefekte durch das zuständige Ministerium unterstützt. Auch das Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg erachtet eine Bearbeitung der Thematik „Einführung eines Screenings auf angeborene Immundefekte“ im Rahmen des Neugeborenenscreenings für sehr sinnvoll und zukunftweisend. Eine Absprache zu den Projekten in Bayern und Sachsen erscheint dem Universitätsklinikum Heidelberg sinnvoll. 2. Wie beurteilt sie das Neugeborenenscreening zur Erkennung angeborener Immundefekte ? Prinzipiell erscheint eine Integration angeborener Immundefekte in bestehende Neugeborenenscreening-Programme aufgrund der im Folgenden genannten Fakten sinnvoll: • symptomfreie Periode der Erkrankungen in der Zeit nach der Geburt, • tödlicher Verlauf der unbehandelten Immundefekte mit schwerer T-Zelldefizienz, • schwere Infektionskomplikationen und Organschäden bei unbehandelten B- Zelldefekten, • Vorhandensein eines einfachen, spezifischen und verlässlichen Testverfahrens, • Vorhandensein von effektiven und potenziell zur Heilung führenden Behandlungsstrategien , • frühe Erkennung und Intervention verbessert das Überleben der betroffenen Kinder. Nur mit einem effektiven Screening können angeborene Immundefekte rechtzeitig , d. h. vor dem Auftreten schwerer Infektionen, bleibender Schädigungen oder auch dem Tod betroffener Kinder, erkannt werden. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 1457 4 Ein Argument für das Screening auf angeborene T-Zelldefekte ist auch die neu eingeführte Rotaviruslebendimpfung in den ersten drei Lebensmonaten, die für Säuglinge mit T-Zell-Defekten ein großes Risiko darstellt. 3. Erachtet sie eine Einführung des Neugeborenenscreenings zur Erkennung angeborener Immundefekte in Baden-Württemberg für sinnvoll? Eine verbesserte Früherkennung angeborener Immundefekte ist anzustreben. Vor flächendeckender Einführung des Neugeborenenscreenings auf angeborene Immundefekte sollte jedoch in Modellprojekten beispielsweise die Prävalenz angeborener Immundefekte, über die bislang insgesamt wenig Sicheres bekannt ist, überprüft werden. Erst nach dem Abschluss von Pilotstudien auch in Deutschland und der Auswertung resultierender Daten können belastbare Aussagen über den Nutzen, die Machbarkeit und die Kosten eines Screenings auf angeborene Immundefekte getroffen werden. Altpeter Ministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren