Landtag von Baden-Württemberg 15. Wahlperiode Drucksache 15 / 2193 03. 08. 2012 1Eingegangen: 03. 08. 2012 / Ausgegeben: 07. 09. 2012 K l e i n e A n f r a g e Ich frage die Landesregierung: 1. Wie haben sich die Anzahl oder die Themenschwerpunkte der Bürgeranfragen an sie zu den sogenannten Sekten und Psychogruppen in den vergangenen fünf Jahren verändert? 2. Welche Veränderungen gibt es in den Aktivitäten der sogenannten Sekten und Psychogruppen in den vergangenen fünf Jahren? 3. Welche Aktivitäten dieser Gruppen sind ihr bekannt, die insbesondere auf Kinder und Jugendliche abzielen? 4. Was unternimmt sie, um Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern die Gefahren bewusst zu machen, die von sogenannten Sekten und Psychogruppen ausgehen? 5. Wie berücksichtigt sie dabei den Aspekt, dass die neuen Medien und die Unkontrollierbarkeit des World Wide Web den Absichten der sogenannten Sekten und Psychogruppen entgegenkommen und ihre Wirksamkeit erhöhen? 6. Ist für die laufende Wahlperiode eine Mitteilung der Landesregierung zu den sogenannten Sekten und Psychogruppen geplant und falls ja, bis wann wird diese Mitteilung vorliegen? 7. Plant sie Umstrukturierungen in der Interministeriellen Arbeitsgruppe, die das Themengebiet der sogenannten Sekten und Psychogruppen bearbeitet und falls ja, welchen Zielen folgen diese Umstrukturierungspläne und welche konkreten Maßnahmen werden erwogen? 03. 08. 2012 Reusch-Frey SPD Kleine Anfrage des Abg. Thomas Reusch-Frey SPD und Antwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Aktivitäten sogenannter Sekten und Psychogruppen Drucksachen und Plenarprotokolle sind im Internet abrufbar unter: www.landtag-bw.de/Dokumente Der Landtag druckt auf Recyclingpapier, ausgezeichnet mit dem Umweltzeichen „Der Blaue Engel“. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 2193 2 B e g r ü n d u n g Dass die sogenannten Sekten und Psychogruppen gegenwärtig weniger im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit sind, kann nicht zwingend Entwarnung bedeuten : Ihre mitunter subversiven Umgangsformen und ihre kontrollierte, nach Nützlichkeitserwägungen gesteuerte Transparenz über ihre inneren Verhältnisse könnten dazu beitragen, ihre Aktivitäten nicht mit der notwendigen Aufmerksamkeit wahrzunehmen. Angesichts ihres Gefährdungspotenzials für unsere Kinder und Jugendlichen und für Menschen in krisenhaften, rezepthafte Orientierung verlangenden Lebenssituationen darf das Aufmerksamkeitsniveau für die Aktivitäten nicht nachlassen. A n t w o r t Mit Schreiben vom 21. August 2012 Nr. 53-7171.141/539/1 beantwortet das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport im Einvernehmen mit dem Staatsminis - terium, dem Ministerium für Finanzen und Wirtschaft, dem Innenministerium, dem Justizministerium, dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst und dem Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren die Kleine Anfrage wie folgt: Ich frage die Landesregierung: 1. Wie haben sich die Anzahl oder die Themenschwerpunkte der Bürgeranfragen an sie zu den sogenannten Sekten und Psychogruppen in den vergangenen fünf Jahren verändert? Bürgeranfragen aus allen Bereichen der Gesellschaft und teilweise aus dem ganzen Bundesgebiet stammend sind bei der Geschäftsstelle der Interministeriellen Arbeitsgruppe für Fragen sog. Sekten und Psychogruppen (IMA SuP) beim Kultusministerium ungebrochen zu verzeichnen. Reine Informationsanfragen zum Auftreten einschlägiger Gruppierungen haben durch das Informationsangebot im Internet deutlich abgenommen. Zugenommen haben Anfragen, die darauf hinzielen, von staatlicher Seite eine objektive Stellungnahme zu erhalten. Die fast täglich eingehenden Bürgeranfragen zu „Scientology“ verdeutlichen das besondere Problempotenzial dieser Gruppierung. Das aktuelle Anfragevolumen ist gegenüber früheren Jahren ungefähr konstant geblieben. Weitere Schwerpunkte bilden Anfragen zum Psychomarkt und weltanschaulich geprägten Angeboten zweifelhafter Lebensbewältigungshilfen. Verstärkt sind Anfragen zu verschiedenen islamisch geprägten Gruppierungen wie beispielsweise die „Gülen-Bewegung“ und die „Gemeinschaft Milli Görüs“ zu beobachten. In einer internen Erhebung der Geschäftsstelle der Interministeriellen Arbeitsgruppe zum Umgang mit einschlägigen „Beratungsanfragen“ ergaben sich für 2011 etwa 40 % Anfragen von Behörden und Institutionen, 35 % von Privatpersonen (Eltern, Jugendliche), 15 % von „betroffenen Angehörigen“, höchstens 5 % von „Aussteigern“ und etwa 5 % aus dem Bereich Presse/Medien. Grundsätzlich werden von der Geschäftsstelle der Interministeriellen Arbeitsgruppe keine Beratungsgespräche geführt. Bei Bedarf wird auf die bestehenden einschlägigen Beratungseinrichtungen wie die Aktion Bildungsinformation (ABI) in Stuttgart und die Parapsychologische Beratungsstelle/Beratungsstelle für Okkultismusopfer in Freiburg i. Br. sowie ggf. auf die kirchlichen Weltanschauungsstellen in Baden- Württemberg verwiesen. 3 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 2193 2. Welche Veränderungen gibt es in den Aktivitäten der sogenannten Sekten und Psychogruppen in den vergangenen fünf Jahren? Hinsichtlich dem Auftreten und Wirken von sog. Sekten und Psychogruppen ist kein einheitliches Verhaltensmuster feststellbar, was die Beurteilung von Zielen und Aktivitäten erschwert. Die Gruppierungen bewegen sich im Allgemeinen in dem durch die verfassungsmäßige staatliche Ordnung vorgegebenen Rahmen. Verstärkt zu beobachten ist die Tendenz von einzelnen Gruppierungen, ihre Aktivitäten ganz und gar in den Bereich der persönlichen Sphäre zu verlagern und somit Außenstehenden kaum Einblicke in die dort herrschenden „Binnenwelten“ zu geben. Insbesondere im Hinblick auf die Situation der Kinder werden so teilweise von außenstehenden Familienangehörigen sowie von Lehrkräften „Befürchtungen “ an Beratungseinrichtungen, aber auch an die Geschäftsstelle der Interministeriellen Arbeitsgruppe weitergegeben. Gewisse Einblicke in diese „abgeschotteten “ Strukturen werden bei rechtlichen Auseinandersetzungen zum Sorge - und Umgangsrecht, hinsichtlich Verfahren zur Betreuung sowie bei erbrechtlichen Auseinandersetzungen offenbar. Insgesamt kann festgestellt werden, dass nach wie vor die Szene der sog. Sekten und Psychogruppen durch ständigen Wandel geprägt ist. Eine gewisse Tendenz lässt sich erkennen, dass „synkretistische“ Strukturen verstärkt zu beobachten sind. Dies bedeutet: Bewusst werden religiöse Ideen oder Philosophien „vermischt “ und damit in Anspruch genommen, ein neues religiöses oder weltanschauliches System zu vertreten. Einen problematischen Schwerpunkt bilden weiterhin religiöse und weltanschauliche Gruppierungen mit extremistischen, aggressiven und totalitären Prägungen sowie einem unübersehbaren Absolutheits - anspruch. 3. Welche Aktivitäten dieser Gruppen sind ihr bekannt, die insbesondere auf Kinder und Jugendliche abzielen? In der Regel wird von einschlägigen Gruppierungen vermieden, nach außen hin gesonderte Werbeaktivitäten gezielt für Jugendliche zu entwickeln. Konflikte, in die Kinder und Jugendliche hineingezogen werden, ergeben sich u. a. durch Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Familienangehörigen, durch rituell motivierte sexuelle Übergriffe Erwachsener auf Kinder und Jugendliche und die Anwendung umstrittener religiös und weltanschaulich geprägter Heilungspraktiken. Deutlicher treten Kinder und Jugendliche als Zielgruppe bei Scientology in Erscheinung . Sie sind dort eine klare Zielgruppe im Rahmen der Expansionsstrategie von Scientology. Von Scientology werden Kinder, die scientologisch sozialisiert wurden, als Repräsentanten einer von Scientology geprägten „neuen Zivili - sation“, also einer nach scientologisch geprägten Grundsätzen funktionierenden Gesellschaftsordnung, betrachtet. Die der Scientology-Organisation zuzurechnende Einrichtung „Applied Scholastics“ bietet beispielsweise Lernhilfen an. Außerdem setzt Scientology in der Kindererziehung Lernhilfen ihres Gründers ein, u. a. „Kinder-Dianetik“. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Scientology-Anweisungen „zum Aufziehen von Kindern“, scientologisch gefärbte „Lernfibeln“ usw. Kritisch zu hinterfragen ist das von Scientology nach vorgegebenem Muster betriebene „Kinderauditing“, eine Art scientologische Befragungs- und Ausfragetechnik . Es gibt ferner spezielle Sicherheitsüberprüfungen, denen Kinder bei Scientology unterworfen sind, sowie „Reinigungsverfahren“, bei denen es sich um mehrstündige Saunagänge handelt und an denen auch Kinder und Jugendliche teilnehmen. Die Hinweise mehren sich, dass eine wachsende Zahl von Jugend - lichen unwissentlich zumindest in einen ersten Kontakt zu Scientology mittels Facebook-Freundschaftsanfragen gerät. Ein „Vehikel“ bildet dabei vor allem die Scientology-Gruppierung „Jugend für Menschenrechte“. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 2193 4 4. Was unternimmt sie, um Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern die Gefahren bewusst zu machen, die von sogenannten Sekten und Psychogruppen aus - gehen? Vor allem beim Kultusministerium zentrieren sich die Aktivitäten zur Prävention. Bei aktuell auftretenden Problemen, wie dem Versand von Werbe-DVDs der Scientology durch Einzelpersonen der Scientology an Elternvertreter von Schulen und Kindergärten, konnten durch elektronische Informationen mittels „Schul - leiterbrief“ die pädagogischen Einrichtungen im Land sehr rasch über scientologische Werbekampagnen informiert und Wege der Prävention aufgezeigt werden. Wenngleich die Geschäftsstelle der Interministeriellen Arbeitsgruppe für Fragen sog. Sekten und Psychogruppen im Kultusministerium keine Einzelfallberatung leisten kann, wenden sich immer wieder Hilfesuchende und Fragende an diese Stelle. Auf der Grundlage der interministeriellen Vernetzung der Thematik gelingt es in Baden-Württemberg sehr wirkungsvoll und zeitnah, Taktiken von Psychokultanbietern zu entlarven und Informationsangebote zu kommunizieren. Über die Aktivitäten der Scientology-Organisation informiert darüber hinaus regelmäßig das Landesamt für Verfassungsschutz, insbesondere in seinem Jahres - bericht und in seiner Sonderpublikation „Scientology-Organisation“. Das Thema „Sekten und Psychogruppen“ ist auch Gegenstand von einschlägigen Lehrerfortbildungsveranstaltungen. Diese Lehrerfortbildungsveranstaltungen zielen darauf, einen aktuellen Überblick über die Gefährdungssituation durch sog. Sekten und Psychogruppen, insbesondere auch zu „Scientology“ zu vermitteln, die Ursachen ihres „Zulaufs“ zu erhellen, die Konfliktträchtigkeit der Gruppierungen aufzudecken, psychische Manipulationstechniken zu entlarven und Hilfs- und Präventionsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die nächste Lehrerfortbildungstagung zum Thema „Psychosekten, Magieglaube, Neureligionen – Das Thema ‚Sekten‘ zwischen Hysterie und Verharmlosung“ ist für den 19. bis 21. Juni 2013 vorge - sehen und wird an der Landesakademie für Fortbildung und Personalentwicklung an Schulen, Standort Bad Wildbad, durchgeführt. 5. Wie berücksichtigt sie dabei den Aspekt, dass die neuen Medien und die Unkontrollierbarkeit des World Wide Web den Absichten der sogenannten Sekten und Psychogruppen entgegenkommen und ihre Wirksamkeit erhöhen? Das Internet und soziale Netzwerke werden immer stärker auch von konfliktträchtigen Gruppierungen genutzt. Sie versuchen in internen Foren, aber auch auf öffentlichen, grundsätzlich unpolitischen und weltanschaulich neutralen Platt - formen ihr Gedankengut zu verbreiten. Dies stellt in erzieherischer und medienpolitischer Hinsicht eine besondere Herausforderung dar. Die Zahl der Facebook-Gruppen, die auf Scientology zurückgehen, ist in den letzten Jahren ständig gewachsen. Sie tragen u. a. Namen wie „Parents against Drugs“ oder „Dianetik Freunde“. Nach Erkenntnissen der Interministeriellen Arbeitsgruppe werden neuerdings auch von einem internationalen Internetauktionshaus mit Business-to-Consumer Plattform Kunden durch ein kostenloses Angebot von Eintrittskarten für Aktionen einer Scientology-Unterorganisation gelockt. Hinweise zu den Themen „Scientologisch beeinflusste Nachhilfeangebote“ sowie von Lernhilfen anderer fragwürdiger Anbieter sind von der vom Land geförder - ten Aktion Bildungsinformation (ABI), Stuttgart erarbeitet worden, die unter www.abi-ev.de heruntergeladen werden können. Eine Orientierungshilfe bietet auch die Checkliste www.km.bayern.de/Checkliste-Nachhilfe, in der gleichfalls als Kontaktstelle die baden-württembergische ABI in Stuttgart erwähnt ist. Die Aspekte der Nutzung der neuen Medien durch sog. Sekten und Psychogruppen ist auch vom Bund-Länder-Gesprächskreis sog. Sekten und Psychogruppen (B.-L.-G.), einem Konsultationsgremium des Bundes und der Länder, aufgegriffen worden, da hier besonders ein abgestimmtes Handeln zwischen Bund und den Ländern Sinn macht. So wurden bei einem Treffen im April 2012 in Saarbrücken unter Einbeziehung der Institution „jugendschutz.net“ Erfahrungen zu den Themenfeldern „Scientology“ und „Islamismus“ ausgetauscht und Fragen der entsprechenden Informations- und Präventionsarbeit erörtert. 5 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 2193 6. Ist für die laufende Wahlperiode eine Mitteilung der Landesregierung zu den sogenannten Sekten und Psychogruppen geplant und falls ja, bis wann wird diese Mitteilung vorliegen? Der Landesregierung ist an einer zeitnahen umfassenden Information des Landtags auch hinsichtlich der aktuellen Aktivitäten sog. Sekten und Psychogruppen gelegen. Entsprechend der Praxis der vergangenen Zeit ist bis Mitte der Legis - laturperiode ein entsprechender Bericht vorgesehen. 7. Plant sie Umstrukturierungen in der Interministeriellen Arbeitsgruppe, die das Themengebiet der sogenannten Sekten und Psychogruppen bearbeitet und falls ja, welchen Zielen folgen diese Umstrukturierungspläne und welche konkreten Maßnahmen werden erwogen? Der Interministeriellen Arbeitsgruppe für Fragen sog. Sekten und Psychogruppen gehören das Ministerium für Finanzen und Wirtschaft, das Innenministerium, das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, das Justizministerium, das Ministe - rium für Wissenschaft, Forschung und Kunst sowie das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren an. Das Staatsministerium ist nachrichtlich an dieser Interministeriellen Arbeitsgruppe beteiligt. Die federführende Ressortierung von Fragen bezüglich sog. Sekten, Psychogruppen und Scientology beim Kultusministerium hat sich bewährt. In Vertretung Dr. Ruep Ministerialdirektorin