Landtag von Baden-Württemberg 15. Wahlperiode Drucksache 15 / 2397 26. 09. 2012 1Eingegangen: 26. 09. 2012 / Ausgegeben: 25. 10. 2012 K l e i n e A n f r a g e Ich frage die Landesregierung: 1. In welchen Städten veranstalteten die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) oder andere neonazistische Gruppierungen Kundgebungen im Rahmen einer Sommertour? 2. In welchen Städten gelang es der NPD bzw. ihr nahestehenden Gruppierungen, ihre Veranstaltungen ohne öffentlichen Protest dagegen durchzuführen? 3. Welche Gliederungen der NPD und ihrer Jugendorganisation waren daran beteiligt , und waren ggf. auch andere Gruppierungen auf der gesamten Tour oder einzelnen Etappen vertreten? 4. Wie viele Anhänger konnten die Neonazis nach ihren Erkenntnissen auf ihrer Sommertour mobilisieren und wie viele Aktive nahmen an der Tour durch Baden-Württemberg teil? 5. Wie bewertet sie diese neue Aktionsform einer Sommertour mit der äußerst kurzfristigen Anmeldung von Kundgebungen? 6. Unter welchen Voraussetzungen haben Kommunen die Möglichkeit, Kund - gebungen dieser Art zu verbieten, und hält sie den bestehenden rechtlichen Rahmen für ausreichend? 25. 09. 2012 Storz SPD Kleine Anfrage des Abg. Hans-Peter Storz SPD und Antwort des Innenministeriums Sommertour der NPD in Baden-Württemberg Drucksachen und Plenarprotokolle sind im Internet abrufbar unter: www.landtag-bw.de/Dokumente Der Landtag druckt auf Recyclingpapier, ausgezeichnet mit dem Umweltzeichen „Der Blaue Engel“. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 2397 2 B e g r ü n d u n g Im Sommer 2012 sind NPD-Mitglieder und Anhänger in Bussen durch Baden- Württemberg gereist und haben an verschiedenen Orten zu Kundgebungen und Demonstrationen aufgerufen. Die Anmeldungen der Kundgebungen erfolgten jeweils sehr kurzfristig, um Demonstrationen oder andere Aktionen gegen die Neonazis zu erschweren. Möglicherweise ändern Neonazigruppen wie die NPD ihre Aktionsformen, sodass kommunal und staatlich Zuständige gezwungen sind, anders zu reagieren. A n t w o r t Mit Schreiben vom 17. Oktober 2012 Nr. 4-1113.1/86 beantwortet das Innenminis - terium die Kleine Anfrage wie folgt: 1. In welchen Städten veranstalteten die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) oder andere neonazistische Gruppierungen Kundgebungen im Rahmen einer Sommertour? Zu 1.: Die sogenannte „Sommertour“ der NPD bezeichnet eine zentral durch den Bundesvorstand der NPD unter dem Begriff „Deutschlandfahrt“ organisierte Veranstaltungsreihe in bundesweit über 50 Städten mit Kundgebungen und Informa - tionsständen im Zeitraum von 12. Juli bis 11. August 2012. In Baden-Württemberg fanden Veranstaltungen in Mannheim (28. Juli 2012), Stuttgart (30. Juli 2012) und Ulm (30. Juli 2012) statt. Vergleichbar mit dem bundesweiten Veranstaltungscharakter der „Sommertour“ sind die sogenannten Aktionstage der NPD. Dabei sollen am selben Tag möglichst bundesweit Veranstaltungen zu einer bestimmten Thematik stattfinden. Im Jahr 2012 fanden bislang drei bundesweite Aktionstage statt, die sich hinsichtlich ihrer Thematik alle mit der Kritik am Euro befassten. Bisweilen wurden in der Öffentlichkeit einzelne Veranstaltungen dieser Aktionstage irrtümlich der „Sommertour “ zugerechnet. Die NPD in Baden-Württemberg beteiligte sich am 21. April 2012 an einem Ak - tionstag unter dem Motto „Raus aus dem Euro“. Hierzu fanden Veranstaltungen in Stuttgart, Heilbronn, Öhringen, Künzelsau sowie in den Landkreisen Rems- Murr und Böblingen (einschließlich Stadt Böblingen) statt. Ein weiterer Aktionstag fand am 9. Juni 2012 statt. Die NPD in Baden-Württemberg beteiligte sich mit Aktionen in Schwäbisch Hall und Wiesloch. Die Veranstaltung in Wiesloch fand allerdings erst am 16. Juni 2012 statt. Am dritten Aktionstag am 15. September 2012 wurden in Baden-Württemberg in folgenden Gemeinden Aktivitäten festgestellt: – im Main-Tauber-Kreis: Bad Mergentheim, Königshofen, Lauda, Tauberbischofs - heim, Weikersheim, Niederstetten – im Kreis Schwäbisch Hall: Crailsheim, Roßfeld, Schrozberg – im Rhein-Neckar-Kreis: Sinsheim, Rauenberg, Malsch, Weinheim, Heddesheim , Leutershausen, Schriesheim, Ladenburg – im Kreis Konstanz: Singen – im Kreis Rottweil: Rottweil – im Kreis Tuttlingen: Tuttlingen – im Kreis Böblingen: Gärtringen. 3 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 2397 2. In welchen Städten gelang es der NPD bzw. ihr nahestehenden Gruppierungen, ihre Veranstaltungen ohne öffentlichen Protest dagegen durchzuführen? Zu 2.: An allen drei Veranstaltungsorten der „Sommertour“ der NPD fanden Gegenkundgebungen statt. In Mannheim fand eine Gegenveranstaltung des Bündnisses „Mannheim gegen Rechts“ mit ca. 150 Personen statt. In Ulm waren ca. 40 Kundgebungsgegner , vorwiegend Angehörige des linken Spektrums, vor Ort. Bei der Gegendemonstration in Stuttgart nahmen ca. 150 überwiegend dem linken Spektrum zugehörige Personen teil. Bei den Veranstaltungen im Rahmen der Aktionstage sind Protestaktionen in Rottweil und Wiesloch bekannt geworden. In Rottweil kam es zu spontanen verbalen Protesten von ca. 50 Passanten. In Wiesloch waren ca. 1.500 Personen an der Protestaktion beteiligt, darunter auch Linksautonome. Zu den übrigen Veranstaltungen der Aktionstage liegen keine Erkenntnisse über Protestaktionen vor. Dies ist darauf zurückzuführen, dass es sich im Wesent - lichen um Verteilaktionen oder „Propagandafahrten“ mit Werbefahrzeugen wie Fahrrad oder Pkw-Anhänger gehandelt hat, die im Vorfeld nicht öffentlich bekannt wurden. 3. Welche Gliederungen der NPD und ihrer Jugendorganisation waren daran beteiligt , und waren ggf. auch andere Gruppierungen auf der gesamten Tour oder einzelnen Etappen vertreten? Zu 3.: Die Veranstaltungen der „Sommertour“ wurden durch den Bundesverband der NPD initiiert. Bei den einzelnen Veranstaltungsorten in Baden-Württemberg waren neben Bundesfunktionären der NPD teilweise auch Vertreter der jeweils zuständigen regionalen Parteiuntergliederung (Kreis- bzw. Regionalverband der NPD) vor Ort. Anlässlich der vom Landesverband der NPD und seinen Orts- und Kreisverbänden betriebenen Aktionstage wurde die NPD durch ihre Jugendorganisation, die „Jungen Nationaldemokraten“ (JN) und zum Teil von „Freien Kräften“ unterstützt . 4. Wie viele Anhänger konnten die Neonazis nach ihren Erkenntnissen auf ihrer Sommertour mobilisieren und wie viele Aktive nahmen an der Tour durch Baden-Württemberg teil? Zu 4.: Im Zuge der Veranstaltungen anlässlich der Sommertour der NPD in Stuttgart, Mannheim und Ulm konnten jeweils bis zu ca. 15 Teilnehmer festgestellt werden. Darunter waren teilweise bekannte Vertreter des Bundes- und Landesvorstands bzw. erkannte Mitglieder eines Kreisverbands der NPD. Eine belastbare Differenzierung nach Mitgliedern, Anhängern oder Aktiven ist nicht gesichert möglich. Bei den Veranstaltungen im Rahmen der Aktionstage nahmen in Wiesloch (9. Juni 2012) ca. 30, in Singen und Rottweil (15. September 2012) jeweils ca. 40 Anhänger der NPD teil. Zur Teilnehmerzahl bei den weiteren Aktivitäten an den drei Aktionstagen liegen keine Erkenntnisse vor. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 2397 4 5. Wie bewertet sie diese neue Aktionsform einer Sommertour mit der äußerst kurzfristigen Anmeldung von Kundgebungen? Zu 5.: Bei der „Sommertour“ handelt es sich nicht um eine neue Aktionsform. Vergleichbare Propagandaveranstaltungen der NPD, auch in Form von bundesweiten Aktionstagen, hat es auch in der Vergangenheit gegeben. Die NPD will sich mit solchen Veranstaltungen öffentlichkeitswirksam präsentieren. Bus- oder auch Fahrradtouren, mit denen etappenweise in ausgewählten Städten bzw. Gemeinden auf ein bestimmtes öffentliches Anliegen aufmerksam gemacht werden soll, können Versammlungen im Sinne des Versammlungsgesetzes sein. Voraussetzung ist, dass es sich bei der jeweiligen Aktion vor Ort oder aber während der gesamten Bus- und Fahrradtour um eine Zusammenkunft von meh - reren Personen zur gemeinschaftlichen, überwiegend auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Kundgebung oder Erörterung handelt. Auch rechtsextreme Vereinigungen, die vom Bundesverfassungsgericht nicht gemäß Artikel 21 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz für verfassungswidrig erklärt wurden und damit das sogenannte Parteienprivileg genießen, stehen im gleichen Maße unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit aus Artikel 8 Grundgesetz. Kurzfristige Anmeldungen von Kundgebungen können die Organisation koordinierter Gegenkundgebungen im Einzelfall erschweren. Gemäß § 14 Absatz 1 Versammlungsgesetz reicht es aus, wenn Versammlungen spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Versammlungsbehörde unter Angabe des Gegenstands der Versammlung angemeldet werden. Bei den der „Sommertour“ zuzurechnenden Veranstaltungen in Mannheim, Stuttgart und Ulm wurde diese Anmeldefrist eingehalten. 6. Unter welchen Voraussetzungen haben Kommunen die Möglichkeit, Kund - gebungen dieser Art zu verbieten, und hält sie den bestehenden rechtlichen Rahmen für ausreichend? Zu 6.: Die Versammlungsfreiheit besitzt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundlegende Bedeutung für die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen und für die demokratische Ordnung. Ein Verbot ist aufgrund seiner Eingriffsintensität an strenge Voraussetzungen gebunden und setzt als Ultima Ratio voraus, dass das mildere Mittel der Auflagenerteilung ausgeschöpft ist. Dabei muss die zuständige Behörde bei der Verbotsverfügung stets die konkreten Umstände des Einzelfalls im Rahmen einer anzustellenden Gefahrenprognose berücksichtigen, sodass allgemeingültige Überlegungen zum Versammlungsverbot per se ausgeschlossen sind (§ 15 Versammlungsgesetz). Zudem darf ein Verbot nur ausgesprochen werden, wenn dies zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist (z. B. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Schutz der Würde der Opfer des Nationalsozialismus) und eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung abgewendet werden muss. Die Ablehnung des fremdenfeindlichen Gedankenguts durch den ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung rechtfertigt für sich allein keine Beschränkung des Versammlungsrechts rechtsextremer Versammlungsteilnehmer. Vielmehr lassen das Grundgesetz und die übrige Rechtsordnung ein Verbot von Meinungsäußerungen nur unter ganz engen Voraussetzungen zu. Die Meinungsäußerungsfreiheit findet ihre Grenzen in den allgemeinen Gesetzen im Sinne des Artikels 5 Absatz 2 Grundgesetz. Dazu zählen besondere Strafrechtsnormen, die zur Abwehr von kommunikativen Angriffen auf Schutzgüter der Verfassung geschaffen worden sind, z. B. Volksverhetzung gemäß § 130 Strafgesetzbuch. 5 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 2397 Die im Versammlungsgesetz des Bundes geschaffenen Möglichkeiten, eine Versammlung im Einzelfall zu verbieten, stellen aufgrund der herausragenden Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einen ausreichenden Rechtsrahmen dar. Sofern Kundgebungen dieser Art keine Versammlung im Sinne des Versammlungsrechts darstellen, ist an Hand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob ein Verbot auf die polizeirechtliche Generalklausel gestützt werden kann. Voraussetzung für ein Verbot ist eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung. Dies erfordert eine sorgfältige Abwägung aller betroffenen Be lange. Für ein Verbot können zum Beispiel eine hohe Gewaltbereitschaft der Veranstaltungsteilnehmer oder auch Gefahren für die Verkehrssicherheit, die mit großen Menschenansammlungen im öffentlichen Straßenraum einhergehen, sprechen. Gall Innenminister