Landtag von Baden-Württemberg 15. Wahlperiode Drucksache 15 / 777 26. 10. 2011 1Eingegangen: 26. 10. 2011 / Ausgegeben: 29. 11. 2011 K l e i n e A n f r a g e Ich frage die Landesregierung: 1. Welche Erkenntnisse liegen ihr über die Multiple Chemikalien Sensitivität (MCS) insbesondere hinsichtlich ihrer Entstehung, der Krankheitsmechanismen und ihrer Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor? 2. Welche Erkenntnisse liegen ihr über die Zahl der Menschen, die von einer MCS betroffen sind, vor und wie hat sich diese in den letzten fünf Jahren verändert ? 3. Aus welchen Gründen wird MCS bisher von den Sozialversicherungsträgern nicht als eigenständige Erkrankung anerkannt? 4. Welchen Einfluss üben Duftstoffe auf Menschen aus, die von MCS betroffen sind? 5. Liegen ihr Erkenntnisse über die von MCS-Betroffenen geäußerte Giftigkeit von Duftstoffen vor? 6. Welche Bedeutung misst sie einer duftstofffreien Umgebung in öffentlichen Räumen für die Verbesserung der Teilhabe von Menschen mit MCS bei und welche Schritte wird sie gegebenenfalls einleiten, um die Lage von MCS-Betroffenen zu verbessern? 26. 10. 2011 Haußmann FDP/DVP Kleine Anfrage des Abg. Jochen Haußmann FDP/DVP und Antwort des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Multiple Chemikalien Sensitivität (MCS) Drucksachen und Plenarprotokolle sind im Internet abrufbar unter: www.landtag-bw.de/Dokumente Der Landtag druckt auf Recyclingpapier, ausgezeichnet mit dem Umweltzeichen „Der Blaue Engel“. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 777 2 B e g r ü n d u n g Umwelterkrankungen stellen für betroffene Menschen eine wesentliche Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft dar. Dies trifft besonders auf Menschen zu, die von einer Multiplen Chemikalien Sensitivität (MCS) betroffen sind. Diese Personen sehen sich als insbesondere von Duftstoffen sehr nachteilig betroffen an. Die Kleine Anfrage soll darlegen, weshalb diese Erkrankung als solche von den Sozialversicherungsträgern bisher nicht anerkannt ist und vor allem, welchen wissenschaftlichen Hintergrund es für die beschriebene Erkrankung gibt und ob bei Duftstoffen von einer toxischen Wirkung ausgegangen werden muss. Insbesondere geht es aber auch darum, welche Schritte die Landes - regierung ggf. einleiten wird, um die Möglichkeiten der Teilhabe von Menschen, die von MCS betroffen sind, zu verbessern. A n t w o r t * ) Mit Schreiben vom 16. November 2011 Nr. 52-0141.5/15/777 beantwortet das Minis terium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren die Kleine Anfrage wie folgt: 1. Welche Erkenntnisse liegen ihr über die Multiple Chemikalien Sensitivität (MCS) insbesondere hinsichtlich ihrer Entstehung, der Krankheitsmechanismen und ihrer Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor? Unter dem Begriff MCS wird ein nicht einheitlich definierter Beschwerdekomplex umweltassoziierter Befindlichkeitsstörungen verstanden; eine einheitliche Definition für MCS gibt es nicht. Als Arbeitshypothese für wissenschaftliche Untersuchungen wurde von Cullen die Erkrankung einer MCS definiert als eine Schädigung des menschlichen Organismus durch eine nachweisbare, chemische Umweltbelastung, die initial einen toxischen (giftigen) Effekt hervorgerufen haben kann und bei wiederholten Belastungen zu erneuten Symptomen führt. Karenz (Vermeiden) der Schadstoffe führt zum Rückgang der Symptome. Die Symp tome werden durch Chemikalien hervorgerufen, die messbar sind, allerdings in sehr niedrigen Konzentrationen, die ein Vielfaches unter denen liegen, die allgemein beim Menschen toxische oder irritierende Wirkungen haben. Ein eindeutiger wissenschaftlicher Nachweis für den Zusammenhang zwischen den beschriebenen Symptomen und einer chemischen Noxe konnte bisher aber nicht erbracht werden. Die Erscheinungsformen des MCS sind subjektiv. Sie betreffen mehr als ein Organsystem , und es gibt keine Untersuchungsmethoden, die aufgrund von funktionellen Organbefunden die Symptome erklären können. Es gibt auch keine objek - tiven Anzeichen für Organschäden oder Fehlfunktionen. Als Auslöser einer manifesten Erkrankung stehen u. a. Lösemittel, Formaldehyde oder Biozide im Verdacht. Infolge einer erhöhten Schadstoffinkorporation (Schad - stoffaufnahme) kommt es bei diesen Stoffen zu Vergiftungserscheinungen. Als Hypothese wird angenommen, dass bei MCS-Patienten nach der ersten Intoxika - tion eine chemische Sensitivität gegenüber diesen Schadstoffen bereits bei sehr niedrigen Konzentrationen entsteht, die bei nicht sensibilisierten Personen nicht zu Symptomen führt. Eine Zuordnung von chemischen Stoffen zu einzelnen Erkrankungen bei MCS- Patienten konnte in wissenschaftlich anerkannten Studien bisher nicht nachgewiesen werden. Es besteht kein systematischer Zusammenhang zwischen Noxen- und Beschwerdekategorien. _____________________________________ *) Nach Ablauf der Drei-Wochen-Frist eingegangen. 3 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 777 Psychische Erkrankungen können bei MCS-Patienten häufiger beobachtet werden , als in allgemeinmedizinischen Kontrollgruppen. Die bei MCS-Patienten auftretenden unspezifischen Symptome lassen sich aber keinen konkreten chemischen Substanzen zuordnen. Es handelt sich jedoch fraglos um ein chronisches Leiden von in der Regel mehrjähriger Dauer. 2. Welche Erkenntnisse liegen ihr über die Zahl der Menschen, die von einer MCS betroffen sind, vor und wie hat sich diese in den letzten fünf Jahren verändert ? Bevölkerungsrepräsentative Prävalenzstudien zu MCS liegen nur in Form ein - facher Umfragen vor. Die gewählten Studiendesigns genügen wissenschaftlichen Anforderungen nicht. Die Prävalenz der von den Befragten selbst berichteten ärztlichen „MCS-Diagnosen“ reicht von 0,2 bis 6 %, wobei unklar ist, was sich im Einzelnen hinter einer derartigen Diagnose verbirgt. MCS im weiteren Sinne, das heißt im Rahmen eines psychosomatischen Ge - schehens oder im Kontext mit unerklärten Körperbeschwerden, kommt bei einem erheblichen Anteil der umweltmedizinischen Patienten vor. In Bezug auf demografische Merkmale haben die verschiedenen Studien – trotz der Diskrepanzen bei den Fall-Selektionskriterien – einigermaßen konsistente Ergebnisse geliefert. Die Patienten sind in der Regel im Alter zwischen 20 und 60 Jahren (mit einem Altersgipfel um das 40. Lebensjahr), Frauen sind mit einem Anteil von 60 bis 85 % deutlich häufiger betroffen als Männer, was einem Geschlechtsverhältnis von etwa 2:1 bis 3:1 entspricht. Absolute Zahlen über Menschen , die an MCS erkrankt sind, liegen dem Sozialministerium nicht vor. Insofern kann auch zu Änderungen der Anzahl Erkrankter in den vergangenen Jahren keine Aussage getroffen werden. 3. Aus welchen Gründen wird MCS bisher von den Sozialversicherungsträgern nicht als eigenständige Erkrankung anerkannt? Bei dem multiplen chemischen Syndrom handelt sich um Beschwerden, Symp - tome oder Phänomene, die derzeit (bio-)medizinisch nicht erklärbar sind und die vornehmlich einer besonderen individuellen Vulnerabilität zugeschrieben werden , wobei nicht klar ist, ob eine solche tatsächlich besteht oder, wenn sie besteht , welche krankheitsauslösenden Mechanismen ihr zugrunde liegen. Der Begriff Syndrom trifft bei der MCS nur bedingt zu, da bei MCS kein einigermaßen spezifizierter Symptomkomplex, sondern von Patient zu Patient verschiedene Beschwerdebilder vorliegen und auch intraindividuell die Symptome beträchtlich variieren. Außerdem impliziert die Bezeichnung MCS eine bestimmte, bisher aber nicht belegte Ätiologie („chemical“). Deshalb wird unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten von der Verwendung des Terminus abgeraten. Mit der aus medizinisch-terminologischer Sicht nicht sehr glücklich gewählten Bezeichnung „MCS“ wird demnach – trotz des „C“ – keine ätiologisch gesicherte krankhafte Eigenschaft benannt und keine Krankheit sowie keine Diagnose im eigentlichen Sinne bezeichnet. Insofern kann MCS von den Sozialversicherungsträgern nicht als eigenständige Erkrankung anerkannt werden. Die betroffenen Patienten erhalten selbstverständlich Leistungen der Sozialver - sicherung, wie der Gesetzlichen Krankenversicherung, die zur Behandlung der mit dem MCS einhergehenden Beschwerdebilder medizinisch notwendig und erforderlich sind. Insoweit kommt dem MCS bzw. den damit einhergehenden Beschwerden durchaus Krankheitswert im Sinne des krankenversicherungsrecht - lichen Krankheitsbegriffes zu, ohne dass sich das MCS unter eine abschließende Diagnose subsumieren lässt. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 777 4 4. Welchen Einfluss üben Duftstoffe auf Menschen aus, die von MCS betroffen sind? Manche Menschen berichten über eine besonders große Empfindlichkeit gegen - über Duftstoffen. Gerade Menschen mit umweltbezogenen Gesundheitsstörungen, wie MCS, leiden subjektiv stark unter Duftstoffen und anderen Chemikalien. Das zeigte sich auch bei der sogenannten MCS-1-Studie, einer an mehreren Standorten durchgeführten Studie, die das Robert Koch-Institut für das Umweltbundesamtes (UBA) vornahm. Nicht geklärt werden konnte bisher, ob die Beschwerden objektivierbare Reaktionen des Körpers auf bestimmte Substanzen sind oder ob die subjektive Wertung der Gerüche zu einer pathologischen (krankhaften) Reaktion führt. Als gesichert gilt lediglich , dass MCS-Patienten unter hohem Leidensdruck stehen. Infolge ihrer persönlichen Bewältigungsstrategie, die u. a. in der Vermeidung chemischer Stoffe, auch ohne objektivierbaren kausalen Zusammenhang besteht, resultieren oftmals soziale und ökonomische Konsequenzen, wie Vereinsamung und Arbeitsplatzverluste. Das Robert Koch-Institut hat insgesamt drei MCS-Projekte für das UBA durchgeführt . In einer Studie zum Verlauf und zur Prognose des MCS-Syndroms berichten 93 Prozent der 109 Patienten, die sich selbst als MCS-krank einschätzten, besonders geruchsempfindlich zu sein. Aber auch zwei Drittel der anderen Umweltambulanzpatienten (die sich nicht als MCS-krank einschätzten) gaben an, Ge - rüche stärker oder qualitativ anders wahrzunehmen. Eine Zusatzuntersuchung ergab jedoch nicht, dass MCS-Patienten eine überdurchschnittliche Riechleistung oder erhöhte Geruchsempfindlichkeit haben. 5. Liegen ihr Erkenntnisse über die von MCS-Betroffenen geäußerte Giftigkeit von Duftstoffen vor? Neben den unter Punkt 4 genannten Wirkungen von Duftstoffen auf MCS-Patienten ist darauf hinzuweisen, dass Duftstoffe, die in Kosmetika eingesetzt werden, beim direkten Kontakt mit der Haut häufig Kontaktallergien (Typ-IV-Allergien) auslösen können. Für Allergiker kann der unkontrollierte Einsatz von Duftstoffen in der Innenraumluft – etwa in öffentlichen Räumen, wie Kaufhäusern oder Büros – zum Problem werden. Bisher ist allerdings unklar, ob Duftstoffe als typische Kontakt - allergene (Substanzen, die bei Kontakt mit der Haut zu einer Entzündung [einem Kontaktekzem] führen) auch bei Inhalation zu allergischen Symptomen führen können . In Europa sind etwa 2 % der Kinder gegenüber Duftstoffen sensibilisiert. Neben der allergischen Wirkung haben viele Duftstoffe auch eine irritative Wirkung auf die Haut, Schleimhäute und Atemwege. 6. Welche Bedeutung misst sie einer duftstofffreien Umgebung in öffentlichen Räumen für die Verbesserung der Teilhabe von Menschen mit MCS bei und welche Schritte wird sie gegebenenfalls einleiten, um die Lage von MCS-Betroffenen zu verbessern? Aufgrund der Problematik des Einsatzes von Duftstoffen in öffentlichen Räumen – nicht nur im Bezug auf die Lage von MCS-Patienten – empfiehlt das Sozial - ministerium die Berücksichtigung des Hintergrundpapiers des UBA: „Duftstoffe: Wenn Angenehmes zur Last werden kann“ (Hintergrundpapier April 2006). Im Hintergrundpapier wurden folgenden Maßnahmen vorgeschlagen: • Anwendung von Duftstoffen bekannt geben „Prinzipiell sollten alle Personen frei entscheiden können, ob sie einer ‚Beduftung ‘ ausgesetzt sein wollen oder nicht. Diese Wahlmöglichkeit fehlt in der Praxis derzeit oft. Es gibt Menschen, die generell keine Anwendung von Duftstoffen wünschen. Bürgerinnen und Bürger sollten nicht ohne ihr Wissen oder ihren ausdrücklichen Wunsch einer vielfältigen Mischung zusätzlicher Chemikalien/Duftstoffen ausgesetzt sein. 5 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 777 Eine bessere Aufklärung über die Verwendung der Duftstoffe sowie der Grundsatz , auf eine ‚Beduftung‘ von Innenräumen zu verzichten, könnten schon für viele Menschen hilfreich sein. Werden Duftstoffe im öffentlich zugänglichen Bereich eingesetzt, kann ein deut - licher Hinweis helfen: ‚Die Raumluft dieses Warenhauses ist über die Klimaanlage mit Duftstoffen angereichert‘. Dies gilt insbesondere für den Einsatz der Duftstoffe um unangenehme Gerüche über die Klimaanlage zu maskieren.“ • Auf Raumbeduftung möglichst verzichten „Aus Gründen der Vorsorge empfiehlt das UBA, Duftstoffe in öffentlichen Gebäuden , wie Büros, Kaufhäusern und Kinos nicht einzusetzen, um die Gesundheit empfindlicher Verbraucherinnen und Verbraucher nicht zu beeinträchtigen. Sofern trotzdem Riech- und Aromastoffe in die Raumluft eingebracht werden sollen, darf dies nur mit Zustimmung aller Raumnutzer erfolgen, um Belästigungen zu vermeiden. Zurückhaltend sollten Bürgerinnen und Bürger mit Verdampfern (etwa Teelichtern) umgehen, die mit Essenzen, Duftölen und sonstigen Flüssigkeiten betrieben werden: Kommen diese Geräte zum Einsatz, kann sich die Konzentra - tion der in die Innenluft gelangenden Stoffe oft unnötig erhöhen. Auch Produkte mit esoterischem Hintergrund für den Bereich Wellness/Aromatherapie, bei denen es zur verstärkten Anwendung und Inhalation kommt, sollten die Verbraucher äußerst umsichtig nutzen. Das UBA rät davon ab, Riech- und Aromastoffe gezielt über Lüftungs- und Klimaanlagen in Gebäuden zu verbreiten, vor allem, falls dies ohne Kenntnis der Raumnutzerinnen und -nutzer erfolgt. Aus Sicht des UBA birgt ein solcher Zusatz im Zweifelsfall – bei bisher weit - gehend unbekannten Risiken – eher gesundheitlichen Schaden als Nutzen für die Verbraucherinnen und Verbraucher.“ Das Sozialministerium wird auf seiner Homepage Empfehlungen des UBA zu dieser Thematik einstellen, um betroffenen Bürgern und Institutionen den Zugang zu den Informationen zum MCS zu erleichtern. Altpeter Ministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren