Landtag von Baden-Württemberg 15. Wahlperiode Drucksache 15 / 8058 12. 02. 2016 1Eingegangen: 12. 02. 2016 / Ausgegeben: 16. 03. 2016 K l e i n e A n f r a g e Ich frage die Landesregierung: 1. Welches sind die Gründe, weshalb sie die Toleranz gegenüber sexuell abweichendem Verhalten im Schulunterricht anders regeln will als im Bildungsplan 2004, insbesondere: Inwiefern haben die bisherigen Bestimmungen nicht ausgereicht oder zu Problemen geführt? 2. Worin bestehen die Unterschiede bezüglich des genannten Themas zwischen dem Bildungsplan 2004 und dem künftigen Bildungsplan, insbesondere: Was wird sich im Unterrichtsalltag ändern und was ist vorgesehen, um die erstrebten Änderungen zu bewirken? 3. Was bedeutet die Aufnahme der Zielformulierung „Akzeptanz sexueller Vielfalt “ (neben dem herkömmlichen Begriff der Toleranz) und was bedeutet sie nicht, insbesondere: Was ergibt sich aus den schulrechtlichen Maßstäben, z. B. dem Überwältigungsverbot, bei Schülern, die sexuell abweichendes Verhalten zwar tolerieren (hinnehmen), aber nicht akzeptieren (für gut befinden) wollen? 4. Bleibt es von ihrer Seite aus bei der Aussage des Ministers für Kultus, Jugend und Sport, die dieser am 3. Dezember 2015 machte, dass der Aktionsplan der Landesregierung zur Erhöhung von Toleranz und Akzeptanz von sexueller Vielfalt an den Schulen des Landes keine Rolle spielen werde? 5. Bleibt es bei der Aussage des Ministers für Kultus, Jugend und Sport vom 3. Dezember 2015, dass Aussagen und Schriften der Deutschen Gesellschaft für Sexualpädagogik im Unterricht an den Schulen des Landes keine Rolle spielen werden? Kleine Anfrage des Abg. Ulrich Müller CDU und Antwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Erziehung zu Toleranz und Akzeptanz sexueller Vielfalt Drucksachen und Plenarprotokolle sind im Internet abrufbar unter: www.landtag-bw.de/Dokumente Der Landtag druckt auf Recyclingpapier, ausgezeichnet mit dem Umweltzeichen „Der Blaue Engel“. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 8058 2 6. Sieht sie eine Unvereinbarkeit der von ihr in der Drucksache 15/6685 anerkannten schulrechtlichen Maßstäbe mit dem Gedankengut, den Materialien und Vorgehensweisen im Unterricht, wie es von der Deutschen Gesellschaft für Sexualpädagogik und ihrem Umfeld vertreten wird? 7. Anerkennt sie ihre Verantwortlichkeit für die zuverlässige, tatsächliche Gewährleistung eines Schulunterrichts, der den erwähnten schulrechtlichen Maßstäben entspricht, und wie will sie dieser ihre Rechtspflicht gestaltend und begrenzend nachkommen? 11. 02. 2016 Müller CDU B e g r ü n d u n g Der Antragsteller will mit Hilfe der Kleinen Anfrage eine verbindliche öffentliche Äußerung der Landesregierung zu den gestellten Fragen erhalten. Diese beruhen u. a. auf Aussagen des Minister für Kultus, Jugend und Sport vom 3. Dezember 2015. Die zwischen der Landesregierung und dem Antragsteller unstrittigen (vgl. Landtagsdrucksache 15/6685) schulrechtlichen Maßstäbe für die Unterrichtsgestaltung im Bereich der Erziehung zu Toleranz sexueller Vielfalt sind: Die Menschenwürde , das christliche Menschenbild, der besondere Schutz von Ehe und Familie, der Erziehungsauftrag der Eltern, die Persönlichkeitsrechte sowie die Glaubens- und Gewissensfreiheit von Kindern/Jugendlichen und von Lehrern, der weltanschauliche Pluralismus, die Altersangemessenheit, die Vermeidung der Sexualisierung des Unterrichts und das Überwältigungsverbot. Diese Rechtsgüter und Maßstäbe haben ihren Niederschlag gefunden im Grundgesetz (Artikel 6) einschließlich eines Bundesverfassungsgerichtsurteils, in der Landesverfassung (Artikel 12), im Schulgesetz (§ 1, § 100 b) und in einer Verwaltungsvorschrift vom 12. Mai 2001 „Richtlinien zur Familien- und Geschlechtserziehung in der Schule“. A n t w o r t Mit Schreiben vom 7. März 2016 Nr. 32-6510.20/371/124 beantwortet das Minis - terium für Kultus, Jugend und Sport im Einvernehmen mit dem Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren die Kleine Anfrage wie folgt: Ich frage die Landesregierung: 1. Welches sind die Gründe, weshalb sie die Toleranz gegenüber sexuell abweichendem Verhalten im Schulunterricht anders regeln will als im Bildungsplan 2004, insbesondere: Inwiefern haben die bisherigen Bestimmungen nicht ausgereicht oder zu Problemen geführt? 2. Worin bestehen die Unterschiede bezüglich des genannten Themas zwischen dem Bildungsplan 2004 und dem künftigen Bildungsplan, insbesondere: Was wird sich im Unterrichtsalltag ändern und was ist vorgesehen, um die erstrebten Änderungen zu bewirken? Toleranz ist bereits 2004 als ein wesentliches Ziel des baden-württembergischen Bildungsplans in dessen Einführungstext ausführlich beschrieben und als grund - legendes Ziel erzieherischen Handelns festgelegt. Obgleich die Thematik der Vielfalt sexueller Identitäten und Lebensweisen in den derzeit noch gültigen Bil- 3 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 8058 dungsplänen aus dem Jahr 2004 ihren Platz hat, haben zahlreiche Rückmeldungen an das Kultusministerium gezeigt, dass sich im Hinblick auf die Toleranz und Akzeptanz der geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung in Schulen in Baden-Württemberg noch manches verbessern muss. So sehen sich nicht- heterosexuelle Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer an ihren Schulen mitunter erheblichen Vorbehalten gegenüber. Die teilweise inakzeptable Ausdrucksweise auf manchen Schulhöfen unterstreicht den Handlungsbedarf. Ziel ist es, die Wertschätzung gegenüber der Vielfalt der geschlechtlichen Identität und sexueller Orientierung zu fördern sowie Respekt vor unterschiedlichen Lebensformen in der Gesellschaft zu entwickeln. Es geht dabei nicht um Sexualpräferenzen . In den neuen Bildungsplänen ist das Thema Vielfalt der geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung als Teilaspekt der Leitperspektive „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“ verankert im Sinne der Befähigung zu Toleranz und Akzeptanz von sowie zum diskriminierungsfreien Umgang mit Vielfalt in personaler, geschlechtlicher, kultureller, ethnischer und sozialer Hinsicht. Das Thema „Vielfalt der geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung“ wird dabei in einen größeren Kontext von Vielfalt und Toleranz gestellt. Der konstruktive Umgang mit Vielfalt stellt eine wichtige Kompetenz für die Menschen in einer zunehmend von Komplexität und Differenziertheit geprägten modernen Gesellschaft dar. Kernanliegen der Leitperspektive ist es, Respekt sowie die gegenseitige Achtung und Wertschätzung von Verschiedenheit zu fördern. Mit der sichtbaren Verankerung der Vielfaltsaspekte in den Bildungsplänen verbindet das Kultusministerium das Ziel, dass Ausgrenzung und verbale wie physische Gewalt an Schulen und in der Gesellschaft insgesamt abnehmen. Bei den Leitperspektiven handelt es sich um Themen, die nicht einem einzigen Fach zugeordnet werden, sondern übergreifend behandelt werden sollen. Die Bildungsplankommissionen hatten die Aufgabe, für deren spiralcurriculare Verankerung in den einzelnen Fächern zu sorgen. 3. Was bedeutet die Aufnahme der Zielformulierung „Akzeptanz sexueller Vielfalt “ (neben dem herkömmlichen Begriff der Toleranz) und was bedeutet sie nicht, insbesondere: Was ergibt sich aus den schulrechtlichen Maßstäben, z. B. dem Überwältigungsverbot, bei Schülern, die sexuell abweichendes Verhalten zwar tolerieren (hinnehmen), aber nicht akzeptieren (für gut befinden) wollen? In einer pluralistischen Gesellschaft kann ein friedliches Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger auf Dauer nur gewährleistet werden, wenn die Vielfalt nicht nur im Sinne der Toleranz in Kauf genommen wird, sondern wenn die Menschen einander akzeptieren, unabhängig von der Orientierung oder Lebensweise, die sie bei ihrem Gegenüber gegebenenfalls nicht billigen. Eine Erziehung in diesem Sinne ist keine Ideologie, keine Erziehung in eine bestimmte weltanschauliche Richtung, sondern genau das Gegenteil dessen. Sie soll die Schülerinnen und Schüler befähigen, den vielfältigen Erscheinungen einer pluralistischen Gesellschaft nicht wertneutral gegenüberzustehen, sondern auf der Grundlage der u. a. in der Schule zu vermittelnden Werte der Unterschiedlichkeit der Menschen respektvoll zu begegnen und die Unterschiedlichkeit der Herkunft, Religionen, geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung nicht als „gut oder schlecht“ zu kategorisieren. Die rechtlichen Grundlagen und Grundsätze bedürfen mit Blick auf die neuen Bildungspläne keiner Korrektur und behalten uneingeschränkt Gültigkeit. 4. Bleibt es von ihrer Seite aus bei der Aussage des Ministers für Kultus, Jugend und Sport, die dieser am 3. Dezember 2015 machte, dass der Aktionsplan der Landesregierung zur Erhöhung von Toleranz und Akzeptanz von sexueller Vielfalt an den Schulen des Landes keine Rolle spielen werde? Herr Minister Andreas Stoch MdL hat am 3. Dezember 2015 keine derartigen Aussagen bezüglich des Aktionsplans für Akzeptanz und gleiche Rechte Baden- Württemberg getroffen. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 15 / 8058 4 5. Bleibt es bei der Aussage des Ministers für Kultus, Jugend und Sport vom 3. Dezember 2015, dass Aussagen und Schriften der Deutschen Gesellschaft für Sexualpädagogik im Unterricht an den Schulen des Landes keine Rolle spielen werden? Herr Minister Andreas Stoch MdL hat am 3. Dezember 2015 keine derartigen Aussagen bezüglich der Gesellschaft für Sexualpädagogik getroffen. 6. Sieht sie eine Unvereinbarkeit der von ihr in der Drucksache 15/6685 anerkannten schulrechtlichen Maßstäbe mit dem Gedankengut, den Materialien und Vorgehensweisen im Unterricht, wie es von der Deutschen Gesellschaft für Sexualpädagogik und ihrem Umfeld vertreten wird? Auf die Erarbeitung der Leitperspektive „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“ hat die in der Frage genannte Gesellschaft für Sexualpädagogik bzw. deren Theorien keinen Einfluss genommen. In Baden-Württemberg genutzte Schulbücher bedürfen grundsätzlich der Zulassung durch das zuständige Landesinstitut für Schulentwicklung. Arbeitsmateria - lien wie Handreichungen und Broschüren sind hiervon ausgenommen; auch Handbücher oder sonstiges schulbezogenes Material für die Hand der Lehrkräfte unterliegen keiner Zulassung. Im Rahmen der pädagogischen Verantwortung entscheiden die Lehrerinnen und Lehrer eigenständig über den Einsatz geeigneter und altersangemessener Unterrichtsmaterialien, wobei die Übereinstimmung mit Grundgesetz, Landesverfassung, Schulgesetz, Bildungsstandards, die angemessene didaktische Aufbereitung des Stoffes, Gender Mainstreaming, gesicherte Erkenntnisse der Fachwissenschaft u. a. Bedingung für den Einsatz sind. Die Auswahl erfolgt auf der Basis der hohen fachdidaktischen und fachmethodischen Kompetenzen der einzelnen Lehrkräfte und der Fachkonferenzen in den Schulen Baden-Württembergs. Die letzte Verantwortung für den Einsatz von Unterrichtsmaterial liegt jeweils bei der Schulleitung. 7. Anerkennt sie ihre Verantwortlichkeit für die zuverlässige, tatsächliche Gewährleistung eines Schulunterrichts, der den erwähnten schulrechtlichen Maßstäben entspricht, und wie will sie dieser ihre Rechtspflicht gestaltend und begrenzend nachkommen? Das Pluralismusgebot verbietet es dem Staat (und damit dem Bildungsplan), im Schulwesen einseitige Sichtweisen und Standpunkte bei politisch oder gesellschaftlich kontroversen Fragen zu propagieren. Als Leitlinien gelten für den Bildungsplan 2016 ausdrücklich die Prinzipien des Beutelsbacher Konsens (Überwältigungsverbot, Kontroversität, Schülerorientierung ). Stoch Minister für Kultus, Jugend und Sport