Landtag von Baden-Württemberg 16. Wahlperiode Drucksache 16 / 1416 24. 01. 2017 1Eingegangen: 24. 01. 2017 / Ausgegeben: 10. 03. 2017 K l e i n e A n f r a g e Ich frage die Landesregierung: 1. Wie bewertet sie die Chancen und Risiken der „Industrie 4.0“ und wie begründet sie dies in Bezug auf die Arbeitnehmer im Zollernalbkreis, auf den Regierungsbezirk Tübingen und auf ganz Baden-Württemberg? 2. Von welchen Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau geht sie aus? 3. In welchen konkreten Branchen rechnet sie mit einem Beschäftigungsrückgang und in welchen Branchen mit einem Beschäftigungszuwachs? 4. Welche Mittel nutzt sie, um die voraussichtlichen Auswirkungen der „Indus - trie 4.0“ zu prognostizieren? 5. Wie bewertet sie die Entwicklungen vor dem Hintergrund des Facharbeitermangels und wie begründet sie ihre Aussage? 6. Inwiefern kann die Entwicklung der „Industrie 4.0“ ihrer Ansicht nach eine Gefahr für die berufliche Integration von Asylbewerbern darstellen (auch im Hinblick auf heimische Arbeitnehmer)? 7. Wie wird sie die Auswirkungen der Entwicklungen steuern und insbesondere Geringqualifizierte vor der drohenden Arbeitslosigkeit schützen? 24. 01. 2017 Herre AfD Kleine Anfrage des Abg. Stefan Herre AfD und Antwort des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Auswirkungen der „Industrie 4.0“ auf den Arbeitsmarkt im Zollernalbkreis, den Regierungsbezirk Tübingen und in Baden-Württemberg Drucksachen und Plenarprotokolle sind im Internet abrufbar unter: www.landtag-bw.de/Dokumente Der Landtag druckt auf Recyclingpapier, ausgezeichnet mit dem Umweltzeichen „Der Blaue Engel“. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 1416 2 B e g r ü n d u n g Die digitale Gesellschaft und der Begriff „Industrie 4.0“ stehen für die vierte industrielle Revolution, in deren Verlauf die klassische Produktion mit dem Internet zusammenwächst. Einer Bitkom-Studie zufolge kann der Prozess in sechs volkswirtschaftlich zentralen Branchen, darunter Maschinen- und Anlagenbau, Elektrotechnik und chemische Industrie, bis zum Jahr 2025 für Produktivitätssteigerungen von 78,5 Milliarden Euro sorgen. Laut einer Veröffentlichung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wird die „Industrie 4.0“ zu einer beschleunigten Entwicklung des Strukturwandels hin zu Dienstleistungen führen. Weiter heißt es dort: „IT-Berufe und lehrende Berufe profitieren, Berufe des verarbeitenden Gewerbes und hier vor allem die Maschinen und Anlagen steuernden und wartenden Berufe sind dagegen vom Personalabbau am stärksten betroffen. Die Nachfrage nach höher Qualifizierten nimmt zu Lasten von Personen mit Berufsabschluss sowie ohne abgeschlossene Berufsausbildung zu. Der Bedarf an Berufen mit hohem Routineanteil geht zurück.“ Mit dieser Kleinen Anfrage soll diese Problematik näher beleuchtet werden und um Stellungnahme gebeten werden. A n t w o r t Mit Schreiben vom 21. Februar 2017 Nr. 61-4200.010/67 beantwortet das Minis - terium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau die Kleine Anfrage wie folgt. 1. Wie bewertet sie die Chancen und Risiken der „Industrie 4.0“ und wie begründet sie dies in Bezug auf die Arbeitnehmer im Zollernalbkreis, auf den Regierungsbezirk Tübingen und auf ganz Baden-Württemberg? Zu 1.: Die Landesregierung teilt insofern die fachliche Auffassung der brandenburgischen Landesregierung auf die dort nahezu wortgleich gestellte Kleine Anfrage Nr. 2318 (Drs. 6/5597) aus der AfD-Fraktion. Auch im Folgenden bestehen, wie sich aus der Antwort entnehmen lässt, erhebliche Deckungsfelder in der fach - lichen Einschätzung. Aus Sicht der Landesregierung entstehen durch die zunehmende Digitalisierung und Automatisierung der Wirtschaft Potenziale für Wachstum und die Schaffung neuer Arbeitsplätze in Industrie, Dienstleistung, Handwerk und Handel, vor allem im Mittelstand. Insbesondere die Vernetzung von IT und Geschäftsprozessen bietet die Chance für das Entstehen neuer Anwendungsmöglichkeiten und für die Erschließung neuer Geschäftsfelder. Durch die Digitalisierung und Globalisierung können neue, vielfach hochwertige Arbeitsplätze in spezialisierten Sparten geschaffen , flexiblere Arbeitsmodelle durch die Trennung von Ort der Arbeitsleis - tung und Ort des Arbeitserfolges ermöglicht und schwere körperliche Arbeit durch den Einsatz computergesteuerter Maschinen erleichtert werden. Eine Substitution von Tätigkeiten durch Computer oder computergesteuerten Maschinen ist allerdings nicht ausgeschlossen. Allgemein gilt, dass Tätigkeiten der Beschäftigten je nach Anforderungsniveau unterschiedlich stark gefährdet sind. Expertenberufe sind weitestgehend geschützt davor, substituiert zu werden, wäh - rend Tätigkeiten im Helfer- und Fachkraftbereich diesbezüglich ein höheres Risiko aufweisen. Es gilt daher, das Wissen und Können der Arbeitskräfte durch betriebsnahe Bildungsangebote und durch lebenslanges Lernen möglichst auf dem neuesten technologischen Stand zu halten, um den Anforderungen der fortschreitenden Digitalisierung zu begegnen. Diese Chancen und Risiken bewertet die Landesregierung in Bezug auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Zollernalbkreis, im Regierungsbezirk Tübingen und in ganz Baden-Württemberg grundsätzlich gleich. 3 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 1416 2. Von welchen Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau geht sie aus? 3. In welchen konkreten Branchen rechnet sie mit einem Beschäftigungsrückgang und in welchen Branchen mit einem Beschäftigungszuwachs? Zu 2. und 3.: Eine valide Prognose der Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau, d. h. auf den Umfang der Erwerbstätigkeit der erwerbsfähigen Bevölkerung im Vergleich zum aktuellen Stand, ist derzeit weder für den Arbeitsmarkt insgesamt, noch für einzelne Branchen möglich. Es ist zu erwarten, dass die Digitalisierung – wie bereits in der Vergangenheit – dazu beitragen wird, dass sich bestimmte Berufsbilder verändern oder weniger Menschen in bestimmten Berufen arbeiten werden. Auf der anderen Seite erschließen sich neue Beschäftigungsfelder durch die Digitalisierung . Die bisherigen Daten der Beschäftigungsstatistik geben keine Hin - weise darauf, dass die Digitalisierung negative Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau hat. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung rechnet für Baden-Württemberg im Jahr 2017 mit einer Wachstumsrate der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in Höhe von 1,8 Prozent. 4. Welche Mittel nutzt sie, um die voraussichtlichen Auswirkungen der „Indus - trie 4.0“ zu prognostizieren? Zu 4.: Vorliegende Prognosen über die voraussichtlichen Auswirkungen der Industrie 4.0 kommen – abhängig von den dabei jeweils gemachten Annahmen – zu quantitativ und qualitativ unterschiedlichen Ergebnissen, die die Landesregierung bei ihrer Arbeit kontinuierlich berücksichtigt. Besondere Beachtung erfahren dabei die Veröffentlichungen der Bundesregierung, namentlich die 2014 veröffentlichte „Digitale Agenda“ und die 2016 erschienene „Digitale Strategie 2025“. Die von der Bundesregierung herausgegebenen Dokumente geben den jeweils aktuellen Stand der Entwicklung wieder. Darüber hinaus bewertet die vom Wirtschaftsministerium initiierte Allianz Indus - trie 4.0 Baden-Württemberg in der Arbeitsgruppe „Arbeit und Organisation“ die aktuellen Beschäftigungseffekte und ihre Auswirkungen auf die spezielle Branchenund Betriebsgrößenstruktur der Wirtschaft in Baden-Württemberg und leitet daraus Empfehlungen für adäquate Maßnahmen ab. Die Landesregierung weist des Weiteren auf einen Forschungsbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hin, der sich ausführlich mit dem Thema auseinandersetzt (IAB-Regional Baden-Württemberg 3/2016: Digitalisierung der Arbeitswelt – Folgen für den Arbeitsmarkt in Baden-Württemberg). 5. Wie bewertet sie die Entwicklungen vor dem Hintergrund des Facharbeitermangels und wie begründet sie ihre Aussage? Zu 5.: Es wird auf die Ausführungen in den Antwort auf die Fragen 1 bis 3 verwiesen und ergänzend angemerkt, dass es einen generellen Fachkräftemangel derzeit nicht gibt. Fachkräftebedarfe bzw. Fachkräfteengpässe und -mangel stellen sich in den einzelnen Branchen bzw. Berufen sehr unterschiedlich dar. Insoweit wird auf die Fachkräfteengpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit hingewiesen. Die Fachkräfteallianz Baden-Württemberg hat sich zum Ziel gesetzt, einen Beitrag zur Sicherung des Fachkräfteangebots zu leisten. Hierzu wurden im Oktober 2016 konkrete Ziele vereinbart. Ergänzend kann festgestellt werden, dass dem Ausbilden, Halten und Gewinnen von Fachkräften vor dem Hintergrund der sich verändernden qualifikatorischen Anforderungen an die Beschäftigten zukünftig eine noch größere Bedeutung zu- Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 1416 4 kommen wird. Die Anforderungen an berufliche Kompetenzen verändern sich zunehmend . Kompetenzen im Umgang mit modernster Informations- und Kommunikationstechnik sowie übergreifende Kompetenzen wie Prozessknowhow, interdisziplinäres Arbeiten, Kommunikationsfähigkeit und Problemlösungskompetenz gewinnen an Bedeutung. Beschäftigte stehen vor der Herausforderung, sich durch kontinuierliche Weiterbildung fortlaufend neues Wissen anzueignen und dieses anzuwenden, um ihre Beschäftigungsfähigkeit zu sichern. 6. Inwiefern kann die Entwicklung der „Industrie 4.0“ ihrer Ansicht nach eine Gefahr für die berufliche Integration von Asylbewerbern darstellen (auch im Hinblick auf heimische Arbeitnehmer)? Zu 6.: In der Bewertung der Auswirkungen der Digitalisierung in der Arbeitswelt unterscheidet die Landesregierung nicht danach, ob Arbeitssuchende oder Beschäftigte Asylbewerber sind. Es besteht allgemein die Notwendigkeit, eine geeignete berufliche Qualifikation durch Ausbildung und berufliche Weiterbildung zu erwerben. Eine berufliche Aus- und Weiterbildung bieten am ehesten die Gewähr für die Integration in Beschäftigung. Dies gilt unabhängig von den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt. 7. Wie wird sie die Auswirkungen der Entwicklungen steuern und insbesondere Geringqualifizierte vor der drohenden Arbeitslosigkeit schützen? Zu 7.: Industrie 4.0 verändert die Anforderungen an die Qualifikation der Beschäftigten auf nachhaltige Weise. Um diese Herausforderung zu bewältigen, muss auch die berufliche Weiterbildung einen wichtigen Beitrag leisten. Schließlich kann sie relativ kurzfristig auf sich ändernde Qualifikationsanforderungen von Beschäftigten reagieren. Vor diesem Hintergrund hat das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau im September 2016 einen Projektaufruf „Digitalisierung und berufliche Weiterbildung“ gestartet, dessen Ziel zum einen darin besteht, neue oder sich verändernde Qualifikationsanforderungen in der Wirtschaft zu konkretisieren und auf der andern Seite die Akteuren der beruflichen Weiterbildung bei der Entwicklung entsprechender Maßnahmen und Angebote zu unterstützen. Daneben stehen insbesondere die Unternehmen und Betriebe in der Pflicht, die Beschäftigungsfähigkeit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch betriebliche Weiterbildung zu sichern und dabei einen besonderen Fokus auf die Perspektiven für Geringqualifizierte, etwa durch Unterstützung zum Erwerb von Ausbildungsabschlüssen , zu richten. Tarifliche Regelungen und Betriebsvereinbarungen können diese Anstrengungen befördern. Zudem stehen aber auch Angebote zur individuellen Entwicklung für Geringqualifizierte insbesondere seitens der Bundesagentur für Arbeit zur Verfügung, um im Rahmen von Nachqualifizierung bzw. Aufstiegsfortbildung die beruflichen Chancen zu erhöhen. In Vertretung Wicker Ministerialdirektor