Landtag von Baden-Württemberg 16. Wahlperiode Drucksache 16 / 2990 23. 11. 2017 1Eingegangen: 23. 11. 2017 / Ausgegeben: 10. 01. 2018 K l e i n e A n f r a g e Ich frage die Landesregierung: 1. Ist die Anzeige „Aufruf an alle Wählerinnen und Wähler der Europastadt Breisach.“ der Fraktionsvorsitzenden des Gemeinderats der Stadt Breisach vom 23. September 2017 in der Badischen Zeitung aus ihrer Sicht mit § 24 Absatz 1 der Gemeindeordnung vereinbar? 2. Wie beurteilt sie die Tatsache, dass die Vertreter des Gemeinderats im Vorfeld der Bundestagswahl derart dezidiert Einfluss auf die Wahlentscheidung eines großen Teils der Einwohnerschaft ausüben? 3. Sind die Aussagen in der Anzeige vollinhaltlich von dem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes gedeckt? 4. Besteht aus ihrer Sicht Anlass zur Vermutung, dass der Vorwurf der Verleumdung nach § 187 des Strafgesetzbuchs berechtigt sein könnte (insbesondere von den verunglimpften AfD-Politikern)? 5. Ist der als Gymnasiallehrer tätige Mitunterzeichner der SPD-Fraktion verbeamtet ? 6. Ist die Anzeige mit dem Mäßigungsgebot für Beamte nach § 33 Absatz 2 des Beamtenstatusgesetzes vereinbar, falls die vorige Frage bejaht werden kann? 13. 11. 2017 Baron AfD Kleine Anfrage des Abg. Anton Baron AfD und Antwort des Ministeriums für Inneres, Digitalisierung und Migration Rechtmäßigkeit des Wähleraufrufs in Breisach am 23. September 2017 Drucksachen und Plenarprotokolle sind im Internet abrufbar unter: www.landtag-bw.de/Dokumente Der Landtag druckt auf Recyclingpapier, ausgezeichnet mit dem Umweltzeichen „Der Blaue Engel“. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 2990 2 B e g r ü n d u n g Am 23. September 2017 wurde im Anzeigenteil der Badischen Zeitung die Anzeige „Aufruf an alle Wählerinnen und Wähler der Europastadt Breisach.“ geschaltet , und zwar im Namen der Vorsitzenden aller Stadtratsfraktionen (abgesehen von der aus einem Mitglied bestehenden BLB/AfB-Fraktion), nämlich jenen der CDU, der SPD, der ULB, der FDP/FW sowie von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Die AfD wird in dieser Anzeige bezichtigt, undemokratisch und nicht rechtsstaatlich orientiert zu sein. Ebenfalls werden „Kandidaten“ als rechtsradikal bezeichnet und namentlich die Personen „Höcke, Gauland und Weidel“ beschuldigt, für „Rassismus, Hass und eine gefährliche Spaltung der Gesellschaft“ zu stehen. Zudem ist nach § 24 Absatz 1 der Gemeindeordnung für Baden-Württemberg „Der Gemeinderat […] die Vertretung der Bürger […] der Gemeinde.“ Insofern stellt sich angesichts der jeweils 11,1 Prozent Erst- und Zweitstimmen für die AfD bei der Bundestagswahl 2017 in Breisach die Frage, inwiefern tatsächlich noch alle Bürger adäquat durch den Gemeinderat vertreten werden. A n t w o r t Mit Schreiben vom 18. Dezember 2017 Nr. 2-1054.-17/74 beantwortet das Minis - terium für Inneres, Digitalisierung und Migration im Einvernehmen mit dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport und dem Ministerium der Justiz und für Europa die Kleine Anfrage wie folgt: 1. Ist die Anzeige „Aufruf an alle Wählerinnen und Wähler der Europastadt Breisach.“ der Fraktionsvorsitzenden des Gemeinderats der Stadt Breisach vom 23. September 2017 in der Badischen Zeitung aus ihrer Sicht mit § 24 Absatz 1 der Gemeindeordnung vereinbar? 2. Wie beurteilt sie die Tatsache, dass die Vertreter des Gemeinderats im Vorfeld der Bundestagswahl derart dezidiert Einfluss auf die Wahlentscheidung eines großen Teils der Einwohnerschaft ausüben? Zu 1. und 2.: § 24 Absatz 1 der Gemeindeordnung (GemO) regelt die Stellung des Gemeinderats als Vertretung der Bürger und Hauptorgan der Gemeinde und bestimmt die grundsätzlichen Aufgaben des Gemeinderats in Abgrenzung zum Bürgermeister. Entsprechend dem Wirkungskreis der Gemeinde (§ 1 Absatz 2 und § 2 GemO) beschränkt sich die Zuständigkeit des Gemeinderats auf Angelegenheiten der bürgerschaftlichen Selbstverwaltung der Gemeinde sowie die Erfüllung der von Land und Bund zugewiesenen Aufgaben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 44, 125) und des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg (ESVGH 31, 81) besteht für Staatsorgane im Vorfeld von Wahlen eine Neutralitätspflicht. Dies gilt auch für kommunale Organe. Der Gemeinderat darf sich deshalb vor Wahlen nicht in der Öffentlichkeit für oder gegen einzelne Parteien oder Kandidaten aussprechen, selbst wenn er vom Wahlausgang bestimmte Auswirkungen auf die Gemeinde erwartet . Dies ist in dem angesprochenen Fall durch den Gemeinderat der Stadt Breisach am Rhein auch nicht geschehen. Der an die Wählerinnen und Wähler der „Europastadt Breisach“ gerichtete Aufruf zur Bundestagswahl am 24. September 2017 wurde in einer Anzeige im Anzeigenteil der Badischen Zeitung in der Rubrik „Veranstaltungen und Reisen“ veröffentlicht . Er ist von den fünf Fraktionsvorsitzenden des Gemeinderats der Stadt Breisach am Rhein unterzeichnet. Aus dem Wortlaut ergibt sich weder, dass der Aufruf durch das Organ Gemeinderat erfolgte noch dass die Unterzeichner im Namen der anderen Gemeinderatsmitglieder oder der jeweiligen Fraktionsmitglieder handelten. Der Gemeinderat hat den Aufruf weder beschlossen noch sich sonst 3 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 2990 damit befasst. Es wurden auch keine kommunalen Haushaltsmittel für die Anzeige eingesetzt. Es handelte sich hier um eine Meinungsäußerung der unterzeichnenden Fraktionsvorsitzenden , die mit den Aufgaben des Gemeinderats nicht im Zusammenhang steht. Den ehrenamtlichen Gemeinderäten ist es ebenso wie anderen politischen Mandatsträgern nicht verwehrt, sich auch außerhalb ihres Mandats politisch zu betätigen und sich am Wahlkampf für die Bundestagswahl zu beteiligen. 3. Sind die Aussagen in der Anzeige vollinhaltlich von dem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes gedeckt? 4. Besteht aus ihrer Sicht Anlass zur Vermutung, dass der Vorwurf der Verleumdung nach § 187 des Strafgesetzbuchs berechtigt sein könnte (insbesondere von den verunglimpften AfD-Politikern)? Zu 3. und 4.: Nach Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) – der auch in der Landesverfassung (LV) durch die Implementierung in Artikel 2 Absatz 1 LV unmittelbar geltendes Recht ist – hat jeder das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Jedermann hat insbesondere in der öffentlichen Auseinandersetzung, zumal im politischen Meinungskampf, das Recht, auch in überspitzter und polemischer Form Kritik zu äußern (vgl. Bundesverfassungsgericht , Beschluss vom 24. September 2009 – 2 BvR2179/09 –, juris, Rn. 3). Da der Aufruf der Fraktionsvorsitzenden des Gemeinderats der Stadt Breisach am Rhein durch Werturteile geprägt ist, stellt er eine Meinungsäußerung in Schriftform dar, die dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfällt. Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass sich vorliegend Fraktionsvorsitzende eines Gemeinderats geäußert haben. Denn auch Äußerungen von Fraktionsvorsitzenden eines Gemeinderats unterfallen grundsätzlich dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit (vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 11. Oktober 2000 – 1 S 2624/99 –, juris, Rn. 29). Das Grundrecht der Meinungsfreiheit kann gemäß Artikel 5 Absatz 2 GG durch allgemeine Gesetze beschränkt werden. Zu diesen allgemeinen Gesetzen gehören unter anderem auch die Normen des Strafrechts. Es ist Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden , konkrete Sachverhalte auf ihre strafrechtliche Relevanz zu prüfen und, sofern ein für die Strafverfolgung erforderlicher Strafantrag vorliegt, gegebenenfalls die Ermittlungen aufzunehmen. Dagegen ist es nicht Sache der Landes - regierung, sich zu der Frage der Erfüllung eines Straftatbestandes durch den „Wähleraufruf“ zu äußern. Die Landesregierung beschränkt sich daher auf den Hinweis, dass bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts die wertsetzende Bedeutung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit zu beachten ist. Dabei verbietet Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 GG eine Auslegung der §§ 185 ff. des Strafgesetzbuchs, von der ein abschreckender Effekt auf den Gebrauch des Grundrechts ausgeht, der dazu führt, dass aus Furcht vor Sanktionen auch zulässige Kritik unterbleibt (vgl. Bundesverfassungsgericht , Beschluss vom 10. Oktober 1995 – 1 BvR 1476/91, 1 BvR 1980/91, 1 BvR 102/92, 1 BvR 221/92 –, juris, Rn. 118). In besonderem Maße hat dies zu gelten, wenn es sich – wie hier – um Auseinandersetzungen in einem Wahlkampf handelt, also einer Situation, in welcher der politische Meinungskampf auf das höchste intensiviert ist. Nach Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 GG wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Diese Aufgabe verträgt als eine wesensgemäß politische prinzipiell keine inhaltlichen Reglementierungen . Soweit es sich um eine Auseinandersetzung zwischen politischen Parteien in einem Wahlkampf handelt, ist deshalb Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 GG für die Zuordnung von Meinungsfreiheit und beschränkenden Gesetzen von wesentlicher Bedeutung. Er verstärkt die Vermutung für die Zulässigkeit freier Rede mit der Folge, dass gegen das Äußern einer Meinung nur in äußersten Fällen eingeschritten werden darf (zum Ganzen vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 22. Juni 1982 – 1 BvR 1376/79, BVerfGE 61, 1<11 f.>). Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 2990 4 5. Ist der als Gymnasiallehrer tätige Mitunterzeichner der SPD-Fraktion verbeamtet ? 6. Ist die Anzeige mit dem Mäßigungsgebot für Beamte nach § 33 Absatz 2 des Beamtenstatusgesetzes vereinbar, falls die vorige Frage bejaht werden kann? Zu 5. und 6.: Unabhängig davon, ob es sich bei dem genannten Gymnasiallehrer um einen Beamten handelt, kann allgemein Folgendes gesagt werden: Beamte sind berechtigt, sich außerdienstlich politisch zu betätigen; sie können sich dabei auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung nach Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 GG berufen. Der Freiheit der Meinungsäußerung wird durch § 33 Absatz 2 des Beamtenstatusgesetzes (BeamtStG) Grenzen gesetzt, wonach Beamtinnen und Beamte bei politischer Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren haben, die sich aus ihrer Stellung gegenüber der Allgemeinheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten ihres Amtes ergeben. Allerdings schränken die beamtenrechtlichen Pflichten die freie Meinungsäußerung nicht einseitig ein. Bei der Beurteilung, ob ein bestimmtes Verhalten einer Beamtin oder eines Beamten Rückschlüsse auf die Amtsführung zulässt, ist daher Zurückhaltung geboten (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 16. Juli 2012 – 2 B 16.12 –). Im Einzelfall ist das Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit gegen die Mäßigungspflicht abzuwägen. Einschränkungen ergeben sich insbesondere für den Stil der politischen Betätigung und die Wortwahl der Meinungsäußerungen. Die Anzeige wurde von den Unterzeichnern als Vorsitzende der Gemeinderatsfraktionen unterzeichnet. Ein Amtsbezug zur hauptberuflichen Tätigkeit ist nicht erkennbar. Auch ist nicht erkennbar, dass durch die Anzeige Zweifel an einer politisch neutralen, nur dem Allgemeinwohl verpflichteten Amtsführung als verbeamtete Lehrkraft hervorgerufen werden könnte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich im vorliegenden Fall um eine Anzeige im Rahmen des politischen Wahlkampfs handelte, der regelmäßig auch mit plakativen, überspitzten Aussagen geführt wird. Daher ist davon auszugehen, dass durch die Unterzeichnung der Anzeige eine Verletzung der Mäßigungspflicht nach § 33 Absatz 2 BeamtStG durch eine verbeamtete Lehrkraft nicht vorliegen würde. Strobl Minister für Inneres, Digitalisierung und Migration