Landtag von Baden-Württemberg 16. Wahlperiode Drucksache 16 / 35 23. 05. 2016 1Eingegangen: 23. 05. 2016 / Ausgegeben: 22. 06. 2016 K l e i n e A n f r a g e Wir fragen die Landesregierung: 1. Wie lange dauert es derzeit durchschnittlich bis zur Entscheidung über einen Antrag auf Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen im Gesundheitsbereich als gleichwertig beziehungsweise in welchen Fällen kann die dreimonatige Bescheidungsfrist nicht eingehalten werden? 2. Welche Mangelberufe konnte sie im Bereich der Gesundheitsberufe ‒ insbesondere bezüglich des Bedarfs an Medizinisch-Technischen Angestellten und Physiotherapeuten ‒ lokalisieren? 3. Inwieweit können in den Verfahren zur Berufsanerkennung besondere Bedarfe des Arbeitsmarktes im Berufsfeld Gesundheitsberufe in Baden-Württemberg berücksichtigt werden? 4. Inwieweit können einschlägige Berufserfahrungen im Ausland berücksichtigt werden, sofern Unterschiede zwischen der Auslands- und der Inlandsqualifikation festgestellt werden? 5. Welche Fälle sind ihr bekannt, in denen eine im Ausland erworbene Berufsbildung als Physiotherapeut nicht als gleichwertig anerkannt werden konnte, obwohl die dortige Ausbildung akademisiert ist und von Bewerbern mit einem Hochschuldiplom abgeschlossen wurde? 6. Welcher Nachqualifizierungsbedarf kann in solchen Fällen hinsichtlich der materiellen Vergleichbarkeit der Ausbildung festgestellt werden, etwa in Form von Pflichtpraktika oder theoretischen Unterweisungen, obwohl ein vierjähriges Hochschulstudium beispielsweise in Bosnien absolviert wurde? Kleine Anfrage der Abg. Andreas Glück und Dr. Erik Schweickert FDP/DVP und Antwort des Ministeriums für Soziales und Integration Anerkennungspraxis von im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen im Gesundheitsbereich beim Regierungspräsidium Stuttgart Drucksachen und Plenarprotokolle sind im Internet abrufbar unter: www.landtag-bw.de/Dokumente Der Landtag druckt auf Recyclingpapier, ausgezeichnet mit dem Umweltzeichen „Der Blaue Engel“. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 35 2 7. Trifft es zu, dass in derartigen Fällen theoretische Unterweisungen als Nachqualifizierungsmaßnahme im Umfang von über 700 Stunden beziehungsweise einem Zeitaufwand von bis zu einem Jahr an einer physiotherapeutischen Schule für erforderlich gehalten werden? 8. Sind ihr Fälle bekannt, in denen in der Bundesrepublik ausgebildete Physiotherapeuten aus Gründen des Bildungsgrads (Mittlere Reife) und der nicht-akademischen Ausbildung ihrerseits keine Berufsanerkennung erhielten ‒ etwa in Kanada ‒ wo die entsprechende Ausbildung akademisiert ist? 9. Welche Möglichkeiten sieht sie, um diese Hürden der Arbeitsmigration abzubauen , beispielsweise durch die Ermöglichung von berufsbegleitenden Nachqualifizierungsmaßnahmen oder einer stärkeren Berücksichtigung vorhandener Berufspraxis im Ausland? 18. 05. 2016 Glück, Dr. Schweickert FDP/DVP A n t w o r t Mit Schreiben vom 14. Juni 2016 Nr. 3-0141.5/108 beantwortet das Ministerium für Soziales und Integration die Kleine Anfrage wie folgt: 1. Wie lange dauert es derzeit durchschnittlich bis zur Entscheidung über einen Antrag auf Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen im Gesundheitsbereich als gleichwertig beziehungsweise in welchen Fällen kann die dreimonatige Bescheidungsfrist nicht eingehalten werden? Aufgrund von Art. 51 Abs. 2 der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen in der Fassung der Richtlinie 2013/55/EU ist bei den Gesundheitsberufen Antragstellern spätestens nach vier Monaten ein rechtsmittelfähiger Bescheid über wesentliche Unterschiede von ausländischen Berufsabschlüssen zu erteilen (vgl. z. B. § 21 c Abs. 1 Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Physiotherapeuten). Dabei unterscheidet die bundesrechtliche Umsetzung nicht danach, ob die Berufsqualifikation in einem EU-Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat erworben wurde. Die Frist beginnt zu laufen, nachdem der zuständigen Behörde alle erforderlichen Unterlagen vorliegen. Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer wird beim landesweit zuständigen Regierungspräsidium Stuttgart – Landesprüfungsamt für Medizin und Pharmazie – statistisch nicht erfasst, aber in aller Regel kann die gesetzlich vorgegebene Bearbeitungsfrist bis zu einer abschließenden Entscheidung über den Antrag eingehalten werden. Die jeweilige Bearbeitungszeit hängt hierbei allerdings stark vom Einzelfall ab. So unterliegen in einem EU-Mitgliedstaat, EWR-Vertragsstaat oder der Schweiz vor einem bestimmten Stichtag abgeschlossene ärztliche/zahnärztliche Ausbildungen , dort abgeschlossene Ausbildungen als Apothekerin/Apotheker, als Krankenpflegerin /Krankenpfleger und als Hebamme/Entbindungspfleger der sog. automatischen Anerkennung. Die abschließende Entscheidung über den Antrag kann bei Vorliegen aller benötigten Unterlagen dann ohne nähere Prüfung bereits in wenigen Tagen erfolgen. Im Jahr 2014 bezogen sich in den genannten Berufen jeweils deutlich mehr als die Hälfte der gestellten Anträge auf EU-Qualifikationen . In allen anderen Fällen sind genauere Prüfungen erforderlich. 3 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 35 2. Welche Mangelberufe konnte sie im Bereich der Gesundheitsberufe ‒ insbesondere bezüglich des Bedarfs an Medizinisch-Technischen Angestellten und Physiotherapeuten ‒ lokalisieren? Nach Mitteilung der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit kann für Medizinisch-Technische Assistentinnen und Assistenten sowie Physiotherapeutinnen und -therapeuten kein nennenswerter Fachkräftemangel festgestellt werden . Ein hoher Fachkräftebedarf besteht allerdings im Bereich der Pflegeberufe. 3. Inwieweit können in den Verfahren zur Berufsanerkennung besondere Bedarfe des Arbeitsmarktes im Berufsfeld Gesundheitsberufe in Baden-Württemberg berücksichtigt werden? Bei allen Verfahren der Anerkennung ausländischer Abschlüsse können beson dere Bedarfe des Arbeitsmarktes nur eingeschränkt berücksichtigt werden. Qualitative Abstriche zur Berücksichtigung besonderer Bedarfe des Arbeitsmarktes sind bei den das Verfahren abschließenden Entscheidungen, insbesondere bei den Gesundheitsberufen vor dem Hintergrund der Patientensicherheit, nicht vorgesehen. 4. Inwieweit können einschlägige Berufserfahrungen im Ausland berücksichtigt werden, sofern Unterschiede zwischen der Auslands- und der Inlandsqualifikation festgestellt werden? Bei Vorlage aussagekräftiger Arbeitszeugnisse können einschlägige Berufserfahrungen im Ausland zum Ausgleich festgestellter Nachqualifizierungsbedarfe herangezogen werden. 5. Welche Fälle sind ihr bekannt, in denen eine im Ausland erworbene Berufsbildung als Physiotherapeut nicht als gleichwertig anerkannt werden konnte, obwohl die dortige Ausbildung akademisiert ist und von Bewerbern mit einem Hochschuldiplom abgeschlossen wurde? Solche Fälle gibt es, sie werden aber zahlenmäßig nicht erfasst. Denn für die Feststellung der Gleichwertigkeit einer ausländischen Ausbildung spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob sie in akademischer Form erfolgt ist. Entscheidend ist vielmehr , ob sie inhaltlich im Wesentlichen der jeweiligen deutschen Ausbildung entspricht . Viele der dem Landesprüfungsamt vorgelegten ausländischen Ausbildungen zum „Physiotherapeut-Techniker“ und der „Bachelor/Master-Studiengänge“ in Physiotherapie sind im Ergebnis nicht gleichwertig. Oftmals fehlen bei ausländischen akademischen Physiotherapie-Ausbildungen Fächer komplett oder sind mit deutlich geringerer Stundenanzahl absolviert worden . Stattdessen sind häufig Vorlesungen in solchen Fächern Bestandteil mehrjähriger Studiengänge, die in Deutschland für die stärker praxisorientierte Ausbildung in der Physiotherapie nicht von Bedeutung sind. 6. Welcher Nachqualifizierungsbedarf kann in solchen Fällen hinsichtlich der materiellen Vergleichbarkeit der Ausbildung festgestellt werden, etwa in Form von Pflichtpraktika oder theoretischen Unterweisungen, obwohl ein vierjähriges Hochschulstudium beispielsweise in Bosnien absolviert wurde? Werden wesentliche Nachqualifizierungsbedarfe in Theorie oder Praxis festgestellt , müssen diese durch entsprechende Praktika und theoretische Unterweisung ausgeglichen werden. Alternativ wird immer auf die Möglichkeit hingewiesen, einen gleichwertigen Kenntnisstand unmittelbar durch eine Eignungs- bzw. Kenntnisprüfung nachzuweisen. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 35 4 7. Trifft es zu, dass in derartigen Fällen theoretische Unterweisungen als Nachqualifizierungsmaßnahme im Umfang von über 700 Stunden beziehungsweise einem Zeitaufwand von bis zu einem Jahr an einer physiotherapeutischen Schule für erforderlich gehalten werden? Der Umfang der erforderlichen Nachqualifizierungsmaßnahme hängt vom Einzelfall sowie von Art und Umfang der festgestellten Defizite ab und kann daher auch über 700 Stunden betragen. Für ihre Dauer ist auch die Stundenplangestaltung der physiotherapeutischen Schule von Bedeutung. Soweit der Antragsteller den Zeitaufwand für die Nachqualifizierungsmaßnahme nicht tragen möchte, hat er die Alternative, seine der deutschen Ausbildung entsprechende Qualifikation unmittelbar durch das Ablegen einer Eignungs- bzw. Kenntnisprüfung nachzuweisen. Aufgrund der Änderungsrichtlinie 2013/55/EU ist nun sicherzustellen, dass diese Prüfung innerhalb von sechs Monaten stattfinden kann. 8. Sind ihr Fälle bekannt, in denen in der Bundesrepublik ausgebildete Physiotherapeuten aus Gründen des Bildungsgrads (Mittlere Reife) und der nicht-akademischen Ausbildung ihrerseits keine Berufsanerkennung erhielten ‒ etwa in Kanada ‒ wo die entsprechende Ausbildung akademisiert ist? Hierüber liegen der Landesregierung keine Informationen vor. 9. Welche Möglichkeiten sieht sie, um diese Hürden der Arbeitsmigration abzubauen , beispielsweise durch die Ermöglichung von berufsbegleitenden Nachqualifizierungsmaßnahmen oder einer stärkeren Berücksichtigung vorhandener Berufspraxis im Ausland? Eine wesentliche Hürde der Arbeitsmigration im Kontext der Berufsanerkennung ist die Antragstellung selbst. Aufgrund der Komplexität der Materie ist eine umfassende Beratung der Antragsteller bereits im Vorfeld des Antragsverfahrens unerlässlich . Wie bereits ausgeführt wurde, kann die Dauer des Verfahrens in erheblichem Maße von der Mitwirkung des Antragstellers abhängen (vgl. Ziff. 1). Deshalb garantiert Baden-Württemberg anders als der Bund und die meisten Länder die Beratung mit einem gesetzlichen Anspruch. Die hierfür regelmäßig geschulten Migrationsberatungsdienste sowie die vom IQ Netzwerk und dem Land geförderten Erstanlaufstellen und Kompetenzzentren für die Anerkennungsberatung in jedem Regierungsbezirk gewährleisten eine flächendeckende und wohnortnahe Umsetzung dieses Beratungsanspruchs. Damit entlasten sie auch die für die Anerkennung zuständigen Stellen. Darüber hinaus leisten die Agenturen für Arbeit und die gemeinsamen Einrichtungen Arbeitsmarktberatung im Hinblick auf die Anerkennung des ausländischen Abschlusses, soweit diese für die Integration in Ausbildung und Beschäftigung relevant ist. Sie umfasst die Einschätzung der Integrationschancen, den Hinweis auf die für die Anerkennung zuständige Stelle und die Aushändigung einer Checkliste. Kosten zur Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse können im Rahmen des Vermittlungsbudgets nach § 44 SGB III (i. V. m. § 16 Abs. 1 SGB II) übernommen werden, soweit dies für die Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt erforderlich ist. Für Antragsteller, die keine Förderung von der Bundesagentur für Arbeit erhalten können, hat die Baden-Württemberg Stiftung das Stipendienprogramm Berufliche Anerkennung in Baden-Württemberg eingerichtet. Damit werden die anfallenden Kosten für Anerkennungsverfahren und Zeugnisbewertungen durch die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen, für Anpassungsmaßnahmen und Vorbereitungskurse für Kenntnis- und Eignungsprüfungen, für zur Berufszulassung notwendige Sprachkurse und für Vorbereitungsmaßnahmen für Personen mit akademischen Abschlüssen in nicht reglementierten Berufen getragen. Dies umfasst neben unmittelbaren Verwaltungs- oder Kursgebühren auch Übersetzungskosten, Lehrmaterialien , Lebenshaltungskosten, Fahrtkosten und Kinderbetreuungskosten als Einmalzahlung von bis zu 1.000 Euro oder als monatliches Stipendium für einen Zeitraum von maximal 12 Monaten. Das Programm ist zunächst als dreijähriges Modellprojekt angelegt und befindet sich derzeit noch in der Vorbereitungsphase. 5 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 35 Im Zuge der Umsetzung der Änderungsrichtlinie 2013/55/EU wurden weitere Verfahrenserleichterungen eingeführt. So wird im Regelfall auf die Einreichung beglaubigter Kopien von benötigten Dokumenten verzichtet. Damit wird auch eine elektronische Abwicklung im Portal service-bw ermöglicht. Bei größeren Unterschieden im Tätigkeitsspektrum kann auf Einzelfallbasis der partielle Zugang zu reglementierten Berufen gewährt werden. Schließlich können seit der Richtlinienumsetzung Personen mit EU-Qualifikationen als Krankenpfleger, Apotheker, Physiotherapeuten, Bergführer oder Immo - bilienmakler einen Europäischen Berufsausweis beantragen. Elektronische Verwaltungszusammenarbeit der beteiligten Mitgliedstaaten ermöglicht hier ein beschleunigtes Anerkennungsverfahren. Nach den der Landesregierung vorliegenden Informationen wird gerade von Physiotherapeuten dieses neue Instrument gut angenommen. Die Berufspraxis im Ausland ist bereits nach geltendem Recht bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse zu berücksichtigen. Wesentliche Unterschiede in der Ausbildung können durch sie ausgeglichen werden (vgl. Ziff. 4). Bei akademischen Heilberufen ist auf der Grundlage einer fachlich eingeschränkten Berufs - erlaubnis der Ausgleich von Defiziten durch eine vorübergehende Ausübung des Berufs unter fachlicher Aufsicht möglich. Lucha Minister für Soziales und Integration