Landtag von Baden-Württemberg 16. Wahlperiode Drucksache 16 / 459 24. 08. 2016 1Eingegangen: 24. 08. 2016 / Ausgegeben: 27. 09. 2016 K l e i n e A n f r a g e Ich frage die Landesregierung: 1. Hält sie das Verbot einer, mehrerer oder aller folgender Formen islamischer Verschleierung zum Zwecke der Darstellung religiöser Überzeugung grund - sätzlich für zulässig: Burka, Nikab, Hidschab (mit Gesichtsschleier) und Tschador (mit Gesichtsschleier)? 2. Wie steht sie zum Vorschlag, analog der Regelung im Schweizer Kanton Tessin , ein Verbot der Vermummung – genauer: der Gesichtsverhüllung – im öffentlichen Raum in der Landesverfassung festzuschreiben, nachdem der euro - päische Gerichtshof solche Regelungen für zulässig erklärt hat? 3. Wie steht sie zur sogenannten „Berliner Erklärung“, in deren Folge der Bundesinnenminister die Vollverschleierung zumindest in vielen behördlichen Bereichen untersagen will? 4. Welche Gründe außer jenem, religiöser Überzeugung Ausdruck zu geben, hält sie für Ausnahmen von einem Verbot der Gesichtsverschleierung für möglich? 5. Wenn sie in einem möglichen Vollverschleierungsverbot Nachteile für die baden -württembergische Wirtschaft sieht, welche sind das? 6. Hält sie es für notwendig, ein Verbot vom Bundesgesetzgeber zu fordern, demzufolge niemand Zwang auf eine Frau ausüben darf, ihr Gesicht aufgrund ihres Geschlechts zu verhüllen? 7. Ist ihr bekannt, ob die Ausländerbehörden im Land das Regel-/Ausnahmeverhältnis des § 60 Absatz 1 Satz 2 und 3 Aufenthaltsverordnung in Form einer Einzelfallentscheidung beachten, wonach Lichtbilder für den elektronischen Aufenthaltstitel und andere Identitätsdokumente die Person ohne Gesichts- und Kopfbedeckung zeigen müssen und dass die Ausländerbehörde nach dieser Vorschrift (im Einzelfall nach einer Ermessensabwägung) Ausnahmen zulassen kann, sofern die Identifikation der Person gewährleistet ist? Kleine Anfrage der Abg. Christina Baum AfD und Antwort des Ministeriums für Soziales und Integration Haltung der Landesregierung zu einem „Burkaverbot“ nach dem Vorbild anderer europäischer Staaten Drucksachen und Plenarprotokolle sind im Internet abrufbar unter: www.landtag-bw.de/Dokumente Der Landtag druckt auf Recyclingpapier, ausgezeichnet mit dem Umweltzeichen „Der Blaue Engel“. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 459 2 8. Existieren Vorschriften oder Erlasse der Rechtsaufsicht, bzw. ist es gängige Praxis in den Ausländerbehörden, dass generell und pauschal Bilder mit Kopftuch, Hidschab oder Tschador akzeptiert werden? 9. Sind ihr Fälle oder Streitfälle bekannt, die sich im Widerspruchs- oder Klageverfahren befanden oder befinden, in denen auch hinsichtlich einer Gesichtsbedeckung eine Ausnahme gemacht werden musste? 10. Wie stellt sich die Rechts- und Weisungslage in den Pass- und Ausweisbehörden für den Fall eingebürgerter weiblicher Personen mit Kopftuch hinsichtlich Fragen 7 und 8 dar? 22. 08. 2016 Dr. Baum AfD B e g r ü n d u n g Die Voll- bzw. Gesichtsverschleierung aus religiösen Gründen stellt im hiesigen Wertesystem eine Einschränkung der beiderseitigen Kommunikation dar. Nach Auffassung der Fragestellerin ist ein selbstbestimmtes Leben für vollverschleierte Frauen nicht möglich und sie versinnbildlicht – egal ob die Verschleierung auf männlichem Druck oder auf eigener Entscheidung beruht – die im orthodoxen Islam angelegte Schlechterstellung der Frau gegenüber dem Mann in vielen Lebensbereichen . Jüngst hat der Bundesinnenminister erste Schritte gegen die Gesichtsverschleierung in einigen Behörden angekündigt. Mit der Anfrage soll die Haltung der Landesregierung zu einigen Aspekten des Themas sowie zur Praxis der Ausländerbehörden erfragt werden. A n t w o r t Mit Schreiben vom 19. September 2016 Nr. 4-0141.5/16/459 beantwortet das Ministerium für Soziales und Integration im Einvernehmen mit dem Staatsministerium , dem Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration, dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, dem Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau und dem Ministerium der Justiz und für Europa die Kleine Anfrage wie folgt: 1. Hält sie das Verbot einer, mehrerer oder aller folgender Formen islamischer Verschleierung zum Zwecke der Darstellung religiöser Überzeugungen grund - sätzlich für zulässig: Burka, Nikab, Hidschab (mit Gesichtsschleier) und Tschador (mit Gesichtsschleier)? 2. Wie steht sie zum Vorschlag, analog der Regelung im Schweizer Kanton Tessin , ein Verbot der Vermummung – genauer: der Gesichtsverhüllung – im öffentlichen Raum in der Landesverfassung festzuschreiben, nachdem der euro - päische Gerichtshof solche Regelungen für zulässig erklärt hat? 3. Wie steht sie zur sogenannten „Berliner Erklärung“, in deren Folge der Bundesinnenminister die Vollverschleierung zumindest in vielen behördlichen Bereichen untersagen will? 4. Welche Gründe außer jenem, religiöser Überzeugung Ausdruck zu geben, hält sie für Ausnahmen von einem Verbot der Gesichtsverschleierung für möglich? 3 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 459 Zu 1. bis 4.: Die genannten Kleidungsstücke haben gemeinsam, dass sie das Gesicht der Trägerin nahezu vollständig bedecken. Die Landesregierung lehnt eine Vollverschleierung ab, weil sie im Gegensatz zur Verfasstheit einer offenen Gesellschaft steht und ihrem Verständnis der Menschenrechte und der Stellung von Frauen in unserer Gesellschaft zuwiderläuft. Jedenfalls dann, wenn dem nachvollziehbar ein als bindend empfundenes Religionsgebot zugrunde liegt, fällt das Tragen solcher Bekleidungsstücke allerdings in den Schutzbereich der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1, 2 Grundgesetz). Ob dieses religiöse Verständnis von anderen oder gar einer Mehrheit innerhalb der betreffenden Religion geteilt wird, ist für das Individualgrundrecht der Religionsfreiheit ohne Belang. Ein Verbot, die genannten Kleidungsstücke zu tragen, ist damit ein Grundrechtseingriff, der nur zulässig sein kann, soweit er verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Das setzt voraus, dass der Eingriff in verhältnismäßiger Weise kollidierende Grundrechte Dritter oder an - dere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter schützt. Vor diesem Hintergrund ist rechtlich zwischen einem generellen Verbot bestimmter Kleidungsstücke in der Öffentlichkeit und einem anlassbezogenen Verbot zu unterscheiden: Ein absolutes Verbot der Vollverschleierung ist verfassungsrechtlich im Zweifel unzulässig. Anders als in manchen anderen europäischen Ländern liegt dem Grundgesetz kein Prinzip der Laizität zugrunde. Das Grundgesetz versteht die Bundesrepublik Deutschland als „Heimstatt aller Bürger“, gleich welcher religiös -weltanschaulichen Überzeugung. Der Staat hat sich in weltanschaulich-religiösen Fragen neutral zu verhalten; diese Neutralitätspflicht des Staates hat Verfassungsrang und ist im Grundgesetz in Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 S. 1, Art. 33 Abs. 3 sowie in Art. 140 verankert. Die dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen. Der Staat enthält sich zum einen jeglicher Vorgaben hinsichtlich der Wahl des Bekenntnisses; zum anderen ermöglicht er die Ausübung von Religion auch im öffentlichen Bereich. Eine Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegt bislang nur zu Verboten in Staaten mit abweichenden staatskirchenrechtlichen Systemen vor. Eine gelingende Integrationspolitik setzt auf die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen in unserem Land ungeachtet ihres weltanschaulichreligiösen Bekenntnisses. Zielführend ist dabei auch eine konsequente Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Frauen. Hierzu bedarf es der Fortführung einer geschlechtersensiblen Integrationspolitik der Landesregierung, die u. a. auch frauenspezifische Integrationsmaßnahmen im Blick hat. Die Landesregierung plant aus den genannten verfassungsrechtlichen wie praktischen Erwägungen kein generelles Verbot der Vollverschleierung. Verfassungsrechtlich gerechtfertigt können jedenfalls anlassbezogene Verbote einer Vollverschleierung sein. So darf beispielsweise bereits nach geltendem Recht kein Kraftfahrzeug führen, wer kein ausreichend freies Sichtfeld hat. Wegen entsprechender Regelungen für Lichtbilder auf Pass und Personalausweis wird auf die Antwort zu 10. verwiesen. Ähnlich ist es für die Wahrheitsfindung im gerichtlichen Verfahren erforderlich, eine Bedeckung des Gesichts zu unterbinden, um dem Gericht die Identitätsfeststellung sowie Zeugen das Wiedererkennen des Angeklagten zu ermöglichen oder um die Mimik eines Zeugen während seiner Aussage beobachten zu können. Hier unterstützt die Landesregierung alle Initiativen, mit denen noch fehlende erforderliche Regelungen ergänzt werden sollen. 5. Wenn sie in einem möglichen Vollverschleierungsverbot Nachteile für die baden -württembergische Wirtschaft sieht, welche sind das? Zu 5.: Dem Wirtschaftsministerium liegen keine offiziellen statistischen Daten zur Anzahl der Frauen in Baden-Württemberg vor, die eine Vollverschleierung tragen. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 459 4 Aufgrund der vermutlich geringen Anzahl Betroffener schätzt das Wirtschafts - ministerium die Folgen eines Vollverschleierungsverbots für die baden-württembergische Wirtschaft als vernachlässigbar gering ein. Inwiefern ein Verbot der Vollverschleierung die wirtschaftlichen Aktivitäten der einzelnen Betroffenen, beispielsweise in Bezug auf ihr Erwerbs- und Konsumverhalten, beeinflussen würde, ist nicht abzusehen. 6. Hält sie es für notwendig, ein Verbot vom Bundesgesetzgeber zu fordern, demzufolge niemand Zwang auf eine Frau ausüben darf, ihr Gesicht aufgrund ihres Geschlechts zu verhüllen? Zu 6.: Wer eine Frau rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfind - lichen Übel zu einer Handlung nötigt, macht sich bereits jetzt der Nötigung (§ 240 Strafgesetzbuch) schuldig. Die Landesregierung hält eine darüber hinaus gehende gesetzliche Regelung derzeit nicht für erforderlich. Es wird darüber hinaus auf die Beantwortung der Fragen 1 bis 4 verwiesen. 7. Ist ihr bekannt, ob die Ausländerbehörden im Land das Regel-/Ausnahmeverhältnis des § 60 Absatz 1 Satz 2 und 3 Aufenthaltsverordnung in Form einer Einzelfallentscheidung beachten, wonach Lichtbilder für den elektronischen Aufenthaltstitel und andere Identitätsdokumente die Person ohne Gesichts- und Kopfbedeckung zeigen müssen und dass die Ausländerbehörde nach dieser Vorschrift (im Einzelfall nach einer Ermessensabwägung) Ausnahmen zulassen kann, sofern die Identifikation der Person gewährleistet ist? 8. Existieren Vorschriften oder Erlasse der Rechtsaufsicht, bzw. ist es gängige Praxis in den Ausländerbehörden, dass generell und pauschal Bilder mit Kopftuch , Hidschab oder Tschador akzeptiert werden? Zu 7. und 8.: Nach § 60 AufenthV kann die Ausländerbehörde hinsichtlich der Kopfbedeckung Ausnahmen zulassen oder anordnen, sofern gewährleistet ist, dass die Person hinreichend identifiziert werden kann. Hierfür werden die Regelungen des deutschen Pass- und Personalausweiswesens herangezogen. Inhaltlich wird daher auf die Antwort zu Frage 10 verwiesen. 9. Sind ihr Fälle oder Streitfälle bekannt, die sich im Widerspruchs- oder Klageverfahren befanden oder befinden, in denen auch hinsichtlich einer Gesichtsbedeckung eine Ausnahme gemacht werden musste? Zu 9.: Der Landesregierung sind keine Fälle bzw. Streitfälle bekannt, bei denen im Widerspruchs - oder Klageverfahren hinsichtlich einer Gesichtsbedeckung eine Ausnahme gemacht werden musste. 10. Wie stellt sich die Rechts- und Weisungslage in den Pass- und Ausweisbehörden für den Fall eingebürgerter weiblicher Personen mit Kopftuch hinsichtlich Fragen 7 und 8 dar? Zu 10.: Die aktuelle Rechtslage im Pass- und Personalausweiswesen hinsichtlich der Anforderungen an Lichtbilder für den deutschen Reisepass und Personalausweis stellt sich wie folgt dar: Aus sicherheitstechnischen Gründen haben der Reisepass und der Personalausweis unter anderem den Zweck, die amtliche Identifikation des Inhabers zu gewährleisten . Daher enthalten der Reisepass und der Personalausweis als sichtbar 5 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 459 angebrachte Angabe zum Pass- oder Ausweisinhaber ein Lichtbild (§ 5 Absatz 2 Nr. 5 Personalausweisgesetz und § 4 Absatz 1 Satz 2 Passgesetz). Das Lichtbild hat jeweils im Einzelfall bestimmte Anforderungen zu erfüllen. Ein Lichtbild muss die Person in einer Frontalaufnahme, ohne Kopfbedeckung und ohne Bedeckung der Augen zeigen. Ausnahmen von diesen Vorgaben kann die Personalausweisbehörde im konkreten Fall nur aus medizinischen oder, im Hinblick auf die Gewährleistung der Glaubensfreiheit aus Art. 4 Grundgesetz, aus religiösen Gründen zulassen. Insbesondere vom Verbot der Kopfbedeckung können aus religiösen Gründen Ausnahmen zugelassen werden (§ 7 Absatz 3 Personalausweisverordnung und § 5 Passverordnung). Jedoch hat auch in den Fällen, in denen aus religiösen Gründen eine Kopfbedeckung auf dem Lichtbild ausnahmsweise zugelassen wird, dieses wiederum bestimmten Vorgaben zu entsprechen, so dass eine Identifizierung der Person möglich ist. Das Gesicht muss von der unteren Kinnkante bis zur Stirn erkennbar sein. Es dürfen keine Schatten auf dem Gesicht entstehen (Anhang 3 Abschnitt 2 PAuswV – Kopfbedeckung – und Anlage 8 PassV – Kopfbedeckung –). Darüber hinaus sind keine weiteren Ausnahmen hinsichtlich der Kopfbedeckung aus religiösen Gründen zulässig. Auf die entsprechende Foto-Mustertafel des Bundesministeriums des Innern im Personalausweisportal wird verwiesen. Das Pass- und Personalausweisrecht ist Bundesrecht. Weitere Vorschriften und Erlasse von Seiten des Landes zu Lichtbildern liegen nicht vor. Lucha Minister für Soziales und Integration