Landtag von Baden-Württemberg 16. Wahlperiode Drucksache 16 / 493 07. 09. 2016 1Eingegangen: 07. 09. 2016 / Ausgegeben: 14. 10. 2016 K l e i n e A n f r a g e Ich frage die Landesregierung: 1. Fällt unter den Begriff der „Völker“ im Wortlaut des § 3 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 Landesverfassungsschutzgesetz („… Gedanken der Völkerverständigung …“) auch Israel bzw. das jüdische Volk Israels ? 2. Setzt sie begrifflich „Antizionismus“ mit „Antisemitismus“ gleich – bzw. betrachtet sie Antizionismus als eine (Unter-)Form von Antisemitismus? 3. Wertet sie öffentliche Boykottaufrufe von inländischen Organisationen gegen Firmen, die mit Völkern bzw. deren Staaten Handel treiben, als „Bestrebungen gegen den Gedanken der Völkerverständigung“ im Sinne der oben genannten Vorschrift? 4. Falls Frage 3 bejaht wird – wertet sie die Boykottaufrufe der Organisation „Muslim-Markt“ im Internet als „Bestrebung gegen den Gedanken der Völkerverständigung “ im Sinne der oben genannten Vorschrift, für die tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen? 5. Falls Frage 4 bejaht wird, warum wird die Organisation „Muslim-Markt“ nicht im Landesverfassungsschutzbericht erwähnt? 6. Erfährt Antizionismus bzw. Antisemitismus, sofern er aus den Reihen der hier ansässigen bzw. eingewanderten Ausländer aus islamischen Staaten geäußert wird, eine andere Wertung durch die staatlichen Behörden bzw. die von Regierungsmitgliedern mitverwalteten Medien, als Antizionismus bzw. Antisemitismus , der von deutschen Staatsangehörigen ohne Migrationshintergrund ausgeht? Kleine Anfrage des Abg. Dr. Rainer Balzer ABW und Antwort des Ministeriums für Inneres, Digitalisierung und Migration (Fehlende) Erwähnung des „Muslim-Markt“ im Verfassungsschutzbericht Drucksachen und Plenarprotokolle sind im Internet abrufbar unter: www.landtag-bw.de/Dokumente Der Landtag druckt auf Recyclingpapier, ausgezeichnet mit dem Umweltzeichen „Der Blaue Engel“. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 493 2 7. Falls Frage 6 verneint wird, weshalb fand im Verlauf einer am 26. Juli 2014 in Heilbronn stattgefundenen und von Nichtdeutschen durchgeführten Demonstration gegen Israel, in deren Verlauf „Kindermörder Israel“, „Allahu Akbar“ und „Sieg Heil“ skandiert wurde, ein Einschreiten der Polizei nicht statt? 8. Weshalb ging im Verlauf der oben genannten Demonstration die Polizei gegen einen einzelnen deutschen Gegendemonstranten vor – der eine kleine Israel- Fahne zeigte – und eröffnete gegen ihn ein Strafverfahren? 02. 09. 2016 Dr. Balzer ABW B e g r ü n d u n g Nach § 3 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 Landesverfassungsschutzgesetz sammelt das Landesamt für Verfassungsschutz Informationen über Bestrebungen durch Organisationen und Personen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts richtet sich eine Vereinigung dann objektiv gegen den Gedanken der Völkerverständigung , wenn ihre Tätigkeit oder ihr Zweck (schon) geeignet ist, den Gedanken der Völkerverständigung zu „beeinträchtigen“. Die Brüder Y. und G. Ö. – sie sind Brüder der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung , Frau Ö. – betreiben die Homepage „Muslim-Markt“. Dort sind auf einer Unterseite unter einem auffälligen rot-gelben Banner mit der Inschrift „Boykottaufrufe “ 20 in Deutschland ansässige Firmen aufgeführt, die nach der Inten - tion der Seitenbetreiber boykottiert werden sollen, da sie sich „eindeutiger und erheblicher Unterstützung des Zionismus“ schuldig machen sollen. Die Boykottaufrufe beschränken sich nicht auf Firmen etwa mit Aktivitäten in den von Israel besetzten Gebieten oder im israelischen Mutterland, sondern auch auf rein innerdeutsche Aktivitäten, so beispielsweise ein Unternehmen, das Provider der Internetseiten der israelischen Botschaft in Deutschland ist. Auch Unternehmen mit Sitz oder Niederlassung in Baden-Württemberg sind darunter. Auch im Übrigen agitiert die Seite in scharfer Form gegen den Staat Israel. Die Kleine Anfrage soll klären, ob sich die Aktivitäten der oben genannten Brüder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten − wenn nein − warum nicht und − wenn ja − warum der „Muslim-Markt“ nicht im Landesverfassungsschutzbericht als Organisation aufgeführt ist, die unter Beobachtung steht. Nach Auffassung des Fragestellers stellt die Nichterwähnung des „Muslim-Markt“ eine Bevorzugung dar gegenüber Organisationen auf der rechten Seite des politischen Spektrums, die weit weniger dezidiert und mit geringerer Reichweite öffentlich auftreten. Die Kleine Anfrage soll die Auffassung der Landesregierung hierzu klären. 3 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 493 A n t w o r t Mit Schreiben vom 4. Oktober 2016 Nr. 4-1086/166-1/ beantwortet das Ministe - rium für Inneres, Digitalisierung und Migration die Kleine Anfrage wie folgt: 1. Fällt unter den Begriff der „Völker“ im Wortlaut des § 3 Absatz 2 Satz 1 Nummer 4 Landesverfassungsschutzgesetz („… Gedanken der Völkerverständigung …“) auch Israel bzw. das jüdische Volk Israels? Zu 1.: Der Gedanke der Völkerverständigung nimmt Bezug auf die Idee der friedlichen Verständigung der Völker. Völkerverständigung zielt darauf ab, dass die Völker in Europa und in der Welt in friedlicher und möglichst freundschaftlicher Weise zusammenleben und etwaige Interessensgegensätze friedlich überwinden und ausgleichen sollen. Vom Begriff der „Völker“ im Wortlaut des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Landesverfassungsschutzgesetz (LVSG) ist daher auch Israel bzw. das jüdische Volk erfasst. 2. Setzt sie begrifflich „Antizionismus“ mit „Antisemitismus“ gleich – bzw. betrachtet sie Antizionismus als eine (Unter-)Form von Antisemitismus? Zu 2.: „Antizionismus“ ist nicht mit „Antisemitismus“ gleichzusetzen. Unter „Antisemitismus “ ist ein Begriff zu verstehen, der sich als Synonym für „Feindschaft gegen Juden“ durchgesetzt hat. „Antizionismus“ ist dagegen eine Haltung, die sich gegen den Zionismus als politische Bewegung zur Schaffung eines jüdischen Nationalstaates richtet. Soweit durch Antizionisten das Existenzrecht des Staates Israel an sich in Frage gestellt wird und die Argumentation sich gängiger antijüdischer Vorurteile bedient, kann „Antizionismus“ als eine sekundäre Form des „Antisemitismus “ aufgefasst werden. 3. Wertet sie öffentliche Boykottaufrufe von inländischen Organisationen gegen Firmen, die mit Völkern bzw. deren Staaten Handel treiben, als „Bestrebungen gegen den Gedanken der Völkerverständigung“ im Sinne der oben genannten Vorschrift? Zu 3.: Eine Bestrebung richtet sich gegen die Völkerverständigung, wenn sie auf eine Störung des Friedens unter den Völkern und Staaten zielt oder – entweder nach ihrem Programm oder nach ihrem Gebaren – eine friedliche Verständigung zwischen den Interessengegensätzen der Völker ablehnt oder bekämpft. Öffentliche Boykottaufrufe, insofern sie Vorurteile gegen Minderheiten oder definierte Menschengruppen beinhalten und befördern, können im Einzelfall als gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichtete Bestrebungen gewertet werden. 4. Falls Frage 3 bejaht wird – wertet sie die Boykottaufrufe der Organisation „Muslim-Markt“ im Internet als „Bestrebung gegen den Gedanken der Völkerverständigung “ im Sinne der oben genannten Vorschrift, für die tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen? Zu 4.: Weder die Kontaktadresse des Internetportals „Muslim Markt“ noch die Wohn - orte der Betreiber befinden sich in Baden-Württemberg. Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg (LfV) ist für eine etwaige Beobachtung und Bewertung des Portals daher nicht zuständig. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 493 4 5. Falls Frage 4 bejaht wird, warum wird die Organisation „Muslim-Markt“ nicht im Landesverfassungsschutzbericht erwähnt? Zu 5.: Auf die Antwort zur Frage 4. wird verwiesen. 6. Erfährt Antizionismus bzw. Antisemitismus, sofern er aus den Reihen der hier ansässigen bzw. eingewanderten Ausländer aus islamischen Staaten geäußert wird, eine andere Wertung durch die staatlichen Behörden bzw. die von Regierungsmitgliedern mitverwalteten Medien, als Antizionismus bzw. Antisemitismus , der von deutschen Staatsangehörigen ohne Migrationshintergrund ausgeht? Zu 6.: Nein. 7. Falls Frage 6 verneint wird, weshalb fand im Verlauf einer am 26. Juli 2014 in Heilbronn stattgefundenen und von Nichtdeutschen durchgeführten Demonstration gegen Israel, in deren Verlauf „Kindermörder Israel“, „Allahu Akbar“ und „Sieg Heil“ skandiert wurde, ein Einschreiten der Polizei nicht statt? Zu 7.: Am 26. Juli 2014 fand in Heilbronn eine angemeldete Demonstration zu dem Thema „Freiheit für Palästina – Ende aller Kampfhandlungen!“ statt. Kurz nach Beginn der Demonstration wurden von einem Teil der Demonstranten israelkritische Parolen („Israel Kindermörder“) skandiert. Der hierauf angesprochene Versammlungsleiter bemühte sich in der Folge, die Parolen zu unterbinden, was jedoch nicht vollständig gelang. Der Anfangsverdacht einer Straftat ergab sich in diesem Zusammenhang nicht. Die Ausrufe „Allahu Akbar“ sowie „Sieg Heil“ wurden von den Einsatzkräften nicht wahrgenommen. 8. Weshalb ging im Verlauf der oben genannten Demonstration die Polizei gegen einen einzelnen deutschen Gegendemonstranten vor – der eine kleine Israel- Fahne zeigte – und eröffnete gegen ihn ein Strafverfahren? Zu 8.: Während der Auftaktkundgebung der angemeldeten Demonstration bildete sich eine Gegendemonstration, die offensichtlich geplant und vorbereitet wurde, für die allerdings keine Anmeldung im Sinne des § 14 Versammlungsgesetz vorlag. Der Leiter der Gegendemonstration, welcher vorbereitete Plakate und Versammlungsmittel mitführte und diese an die Teilnehmer der Gegendemonstration verteilte , wurde daher von der Polizei im Sinne des § 26 Nr. 2 Versammlungsgesetz wegen der Durchführung einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel ohne Anmeldung bei der Staatsanwaltschaft Heilbronn zur Anzeige gebracht. Das Strafverfahren wurde vom Amtsgericht Heilbronn zwischenzeitlich nach § 153 a Strafprozessordnung gegen Bezahlung eines Geldbetrages (Auflage) eingestellt. Strobl Minister für Inneres, Digitalisierung und Migration