Landtag von Baden-Württemberg 16. Wahlperiode Drucksache 16 / 518 08. 09. 2016 1Eingegangen: 08. 09. 2016 / Ausgegeben: 14. 10. 2016 K l e i n e A n f r a g e Ich frage die Landesregierung: 1. Bei wie vielen Gerichtsverhandlungen in Baden-Württemberg haben sich seit Beginn 2015 bis heute Vorkommnisse und Vorfälle ereignet, die das körperliche Eingreifen von Justizwachtmeistern gegen Prozessbeobachter aus dem Publikum zum Schutz von Richtern, Staatsanwälten und anderen Verfahrensbeteiligten erforderten (bitte differenzieren nach Verwaltungsgerichten, Verwaltungsgerichtshof , Amtsgerichten und Landes- sowie Oberlandesgerichten)? 2. Bei wie vielen dieser Vorfälle handelte es sich um Verfahren gegen die sogenannten „Reichsbürger“? 3. Bei wie vielen dieser Vorfälle handelte es sich um Verfahren gegen Angehörige von libanesischen oder sonstigen arabischen oder türkischen Familien oder Großfamilien oder gegen Angehörige von Sinti- und Roma-Familien? 4. Bei wie vielen dieser Vorfälle handelte es sich um Verfahren gegen deutsche Staatsbürger ohne Migrationshintergrund, die auch nicht der „Reichsbürgerszene“ zuzurechnen sind? 5. Wie sind die Angehörigen der „Sicherheitsgruppen der Gerichte und Staatsanwaltschaften “ (SGS) hinsichtlich Waffen und anderen Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt ausgerüstet? 6. Werden gegen Personen, die im Gerichtssaal randalieren, Strafverfahren – und wenn ja, auf welcher Rechtsgrundlage – eingeleitet? Kleine Anfrage des Abg. Dr. Rainer Balzer ABW und Antwort des Ministeriums der Justiz und für Europa Ursachen von „Randale“ im Gericht Drucksachen und Plenarprotokolle sind im Internet abrufbar unter: www.landtag-bw.de/Dokumente Der Landtag druckt auf Recyclingpapier, ausgezeichnet mit dem Umweltzeichen „Der Blaue Engel“. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 518 2 7. In wie vielen Fällen wurde im oben genannten Zeitraum vom Richter gegen Störer Ordnungshaft nach § 177 Gerichtsverfassungsgesetz verhängt? 05. 09. 2016 Dr. Balzer ABW B e g r ü n d u n g Nach Pressemeldungen (u. a. Badische Neueste Nachrichten vom 5. September 2016) hat Justizminister Wolf 40 neue Stellen für Justizwachtmeister für den nächsten Landeshaushalt angemeldet. Zur Begründung wird „zunehmende ver - bale und körperliche Gewalt gegen Richter und Staatsanwälte“ genannt. Als Beispiele für die Verursacher dieser Gewalt werden ausschließlich die sogenannten „Reichsbürger“ genannt. Die sogenannten „Sicherungsgruppen der Gerichte und Staatsanwaltschaften“, welche durch die Neueinstellungen verstärkt werden sollen, können von den Gerichten bei sicherheitsrelevanten Verfahren angefordert werden. Aus anderen Medien wurden in der Vergangenheit als Verursacher von „Randale in Gerichtssälen“ bundesweit häufig – den Verfahren beiwohnende – Angehörige libanesischer, arabischer oder türkischer Großfamilien oder auch aus Sinti- und Roma-Großfamilien bekannt, von denen ein Mitglied vor Gericht stand. Insofern erweckt die alleinige Erwähnung der sogenannten „Reichsbürger“ beim Frage - steller den Eindruck, als sollten andere Verursacher von Störungen im Prozess - ablauf verschwiegen werden. A n t w o r t Mit Schreiben vom 30. September 2016 beantwortet das Ministerium der Justiz und für Europa die Kleine Anfrage wie folgt: 1. Bei wie vielen Gerichtsverhandlungen in Baden-Württemberg haben sich seit Beginn 2015 bis heute Vorkommnisse und Vorfälle ereignet, die das körperliche Eingreifen von Justizwachtmeistern gegen Prozessbeobachter aus dem Publikum zum Schutz von Richtern, Staatsanwälten und anderen Verfahrensbeteiligten erforderten (bitte differenzieren nach Verwaltungsgerichten, Verwaltungsgerichtshof , Amtsgerichten und Landes- sowie Oberlandesgerichten)? 2. Bei wie vielen dieser Vorfälle handelte es sich um Verfahren gegen die sogenannten „Reichsbürger“? 3. Bei wie vielen dieser Vorfälle handelte es sich um Verfahren gegen Angehörige von libanesischen oder sonstigen arabischen oder türkischen Familien oder Großfamilien oder gegen Angehörige von Sinti- und Roma-Familien? 4. Bei wie vielen dieser Vorfälle handelte es sich um Verfahren gegen deutsche Staatsbürger ohne Migrationshintergrund, die auch nicht der „Reichsbürger - szene“ zuzurechnen sind? Zu 1. bis 4.: Das Ministerium der Justiz und für Europa Baden-Württemberg verzeichnet – wie auch die Justizverwaltungen der anderen Länder – seit Jahren zahlreiche sicherheitsrelevante Vorfälle in der Justiz. Das Ministerium wird über ein internes Mel- 3 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 518 desystem über sicherheitsrelevante Vorkommnisse in den baden-württembergischen Gerichten und Staatsanwaltschaften informiert. Erfasst werden unterschiedliche Vorfälle, unter anderem Beleidigungen und Bedrohungen, Meldungen über körperliche Auseinandersetzungen oder über sichergestellte gefährliche Gegenstände bei Einlasskontrollen. Ob Vorkommnisse tatsächlich gemeldet werden, hängt stets vom subjektiven Bedrohungsgefühl der betroffenen Personen ab. Erkenntnisse aus dem regelmäßigen Austausch des Ministeriums der Justiz und für Europa mit der gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Praxis legen nahe, dass eine Vielzahl niederschwelliger Bedrohungssituationen nicht gemeldet werden, da das Gefährdungspotenzial subjektiv für gering erachtet wird. Dennoch handelt es sich auch in diesen Fällen objektiv um Gefährdungssituationen mit Eskalations - potenzial. Sofern in der vorliegenden Anfrage von „Randale“ in Gerichtsgebäuden die Rede ist, ist dieser Begriff irreführend. Randale im Sinne extremer körperlicher Gewalt mit Zerstörungsabsicht zum Nachteil von Personen oder Gegenständen kommen glücklicherweise nicht häufig vor. Für das Gesamtbild der Sicherheitslage in Gerichtsgebäuden und für Erkenntnisse zur allgemeinen Bedrohungssituation ist es wesentlich, auch niederschwellige Vor - kommnisse mit Eskalationspotenzial zu erfassen und vor dem Hintergrund zu beleuchten , inwieweit das Hinzuziehen von Einsatzkräften der Polizei und des Justiz wachtmeisterdienstes bereits im Vorfeld oder aber während der Situation deeskalierend und beruhigend gewirkt haben. Die dem Ministerium der Justiz und für Europa vorliegenden Zahlen umfassen deshalb sicherheitsrelevante Vorkommnisse nicht nur in Verhandlungssälen, sondern allgemein in Justizgebäuden. Die nachstehende Auflistung gibt eine Übersicht über die dem Ministerium der Justiz und für Europa seit Anfang 2015 bis Ende August 2016 gemeldeten Vorkommnisse , bei denen es sich um Bedrohungssituationen, Beleidigungen, Handgreiflichkeiten oder Körperverletzungen in Gerichtsgebäuden (einschließlich Gerichtsvollzieherbüros ) handelte, und Beamte der Polizei oder des Justizwacht - meisterdienstes (ggf. bereits im Vorfeld) zur Unterstützung hinzugezogen wurden. Instanz Vorkommnisse 2015 Vorkommnisse bis Ende August 2016 Oberlandesgericht 2 1 Landgericht 13 11 Amtsgericht (inkl. Gerichtsvollzieher) 70 43 Verwaltungsgerichtshof 0 0 Verwaltungsgericht 0 0 Landessozialgericht 0 1 Sozialgericht 3 0 Landesarbeitsgericht 0 0 Arbeitsgericht 0 1 Finanzgericht 0 0 Gesamt 88 57 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 518 4 Die Erfassung dieser Vorfälle erfolgt in anonymisierter Form. Die Justiz ist an Erkenntnissen zur Häufigkeit und Qualität der Gewalt- und Bedrohungssituationen interessiert, um entsprechenden Handlungsbedarf hinsichtlich der Sicherheitsmaßnahmen in Gerichtsgebäuden ermitteln zu können. Informationen zur Herkunft, zu religiösen oder politischen Anschauungen der Personen, von denen die Bedrohungssituationen ausgehen, erhebt die Justiz nicht. Unabhängig von der Erfassung sicherheitsrelevanter Vorkommnisse in Justiz - gebäuden hat der regelmäßige Austausch des Ministeriums der Justiz und für Europa mit den baden-württembergischen Gerichten und Staatsanwaltschaften sowie mit den Justizverwaltungen der anderen Länder gezeigt, dass das Phänomen der sogenannten „Reichsbürgerbewegung“ eine zunehmende Belastung der Justiz darstellt. Mit Sorge betrachtet die baden-württembergische Justiz insbesondere, dass solche Gruppierungen sich nicht auf spontane, einmalige Aktionen beschränken, sondern systematisch auf die Störung bzw. Verhinderung von Amtshandlungen oder ganzer Verfahren hinarbeiten, so geschehen allein in den letzten beiden Monaten bei jeweils einer Verhandlung vor dem Amtsgericht Albstadt, dem Amtsgericht Sigmaringen und dem Arbeitsgericht Heilbronn, Kammern Crailsheim sowie im Zuge einer Vollstreckungshandlung durch eine Gerichtsvollzieherin beim Amtsgericht Villingen-Schwenningen. 5. Wie sind die Angehörigen der „Sicherheitsgruppen der Gerichte und Staatsanwaltschaften “ (SGS) hinsichtlich Waffen und anderen Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt ausgerüstet? Die in den Sicherheitsgruppen der Gerichte und Staatsanwaltschaften (SGS) eingesetzten Justizwachtmeisterinnen und Justizwachtmeister sind nach § 9 Abs. 2 Justizwachtmeisterbefugnissegesetz i. V. m. Abschnitt 3 der Verwaltungsvorschrift des Justizministeriums über den Wachtmeisterdienst mit Reizstoff-Sprühgeräten sowie kurzen, ausziehbaren Einsatzstöcken ausgestattet. Die Berechtigung zum Führen dieser Waffen ist Voraussetzung für eine Verwendung in der SGS. Als Hilfsmittel der körperlichen Gewalt führen die Beamtinnen und Beamte außerdem Hand- und Fußfesseln. Die mit dem Führen von Reizstoffsprühgeräten und ausziehbaren Einsatzstöcken einhergehende Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten in einem grundrechts - relevanten Bereich erfordert einen äußerst verantwortungsvollen Umgang mit diesen Einsatzmitteln. Voraussetzung der Erteilung der Erlaubnis zum Führen dieser Hilfsmittel sind intensive Aus- und Fortbildungsmaßnahmen. 6. Werden gegen Personen, die im Gerichtssaal randalieren, Strafverfahren – und wenn ja, auf welcher Rechtsgrundlage – eingeleitet? Werden Amtshandlungen gestört, kann dies je nach Art und Qualität der Störung strafrechtlich relevantes Verhalten darstellen, z. B. unter den Voraussetzungen der § 113 StGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte), § 185 StGB (Beleidigung), § 223 StGB (Körperverletzung) und § 241 StGB (Bedrohung). Ob ein Strafverfahren im konkreten Fall eingeleitet wird, entscheiden die Staatsanwaltschaften nach dem Legalitätsprinzip. 7. In wie vielen Fällen wurde im oben genannten Zeitraum vom Richter gegen Störer Ordnungshaft nach § 177 Gerichtsverfassungsgesetz verhängt? Hierzu liegen dem Ministerium der Justiz und für Europa keine Zahlen vor. Die Richterinnen und Richter entscheiden über die Anordnung von Ordnungshaft nach § 177 Gerichtsverfassungsgesetz in sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit . Wolf Minister der Justiz und für Europa