Landtag von Baden-Württemberg 16. Wahlperiode Drucksache 16 / 571 16. 09. 2016 1Eingegangen: 16. 09. 2016 / Ausgegeben: 20. 10. 2016 K l e i n e A n f r a g e Ich frage die Landesregierung: 1. Wie viele Vollzeit-Betreuungsplätze stehen in Baden-Württemberg in Form von Wohngruppen, Kinderheimen oder anderen Jugendhilfeeinrichtungen − aufgeschlüsselt nach Landkreisen − insgesamt zur Verfügung und wie ist die momentane Gesamtauslastung? 2. Wie viele dieser Plätze entfallen prozentual gesehen − aufgeschlüsselt nach Landkreisen und Jahren − im Moment an unbegleitete minderjährige Asylbewerber und wie ist deren Asylstatus? 3. Wie viele nichtbegleitete Minderjährige − aufgeschlüsselt nach Landkreisen und Jahren − wurden zwischen Januar 2010 und Juni 2016 in Jugendhilfeeinrichtungen in Baden-Württemberg aufgenommen? 4. Wie viele nichtbegleitete Minderjährige − aufgeschlüsselt nach Landkreisen − waren es verglichen damit in den zehn Jahren davor zwischen Januar 2000 und Dezember 2009? 5. Wie viele Anträge auf Inobhutnahme inländischer Kinder und Jugendlicher mussten aufgrund von Vollbelegung seit Januar 2010 − aufgeschlüsselt in Land - kreisen und Jahren − abgelehnt werden? 6. Wie werden die Anträge auf einen Betreuungsplatz gewichtet, falls der Platz für mehrere Klienten infrage kommt? Kleine Anfrage des Abg. Daniel Rottmann ABW und Antwort des Ministeriums für Soziales und Integration Umgang mit dem erhöhten Bedarf an dauerhaften Betreuungsplätzen in Jugendhilfeeinrichtungen durch den Zustrom nichtbegleiteter Minderjähriger Drucksachen und Plenarprotokolle sind im Internet abrufbar unter: www.landtag-bw.de/Dokumente Der Landtag druckt auf Recyclingpapier, ausgezeichnet mit dem Umweltzeichen „Der Blaue Engel“. Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 571 2 7. Wie oft − aufgelistet nach Landkreisen und Jahren − wurde im oben genannten Zeitraum ein Antrag eines inländischen Klienten zugunsten eines unbegleiteten minderjährigen Asylbewerbers abgelehnt? 8. Welche Maßnahmen werden ergriffen, um den Mehrbedarf auszugleichen? 16. 09. 2016 Rottmann ABW B e g r ü n d u n g Mit dem Flüchtlingsstrom kommen auch immer mehr unbegleitete Minderjährige nach Deutschland, die gemäß Sozialgesetzbuch (SGB) VIII in Jugendhilfemaßnahmen und in diesem Zusammenhang in Kinderheimen, im betreuten Jugendwohnen oder in ähnlichen Einrichtungen untergebracht werden. Damit diese Einrichtungen sich tragen, muss darauf geachtet werden, dass sie zu jedem Zeitpunkt mehr oder minder voll belegt sind. Der Bedarf war folglich auf die Situation vor dem Zustrom unbegleiteter Minderjähriger abgestimmt. Der Fragesteller möchte von der Landesregierung wissen, wie mit der neuen Belastungslage umgegangen wird und ob die Versorgung inländischer in Not geratener Kinder und Jugendlicher weiterhin gewährleistet werden kann. A n t w o r t Mit Schreiben vom 10. Oktober 2016 Nr. 22-0141.5/16/571 beantwortet das Minis - terium für Soziales und Integration auf der Grundlage der Stellungnahme des Kom - munalverbands für Jugend und Soziales (KVJS) – Landesjugendamt (überörtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe in Baden-Württemberg) die Kleine Anfrage wie folgt: 1. Wie viele Vollzeit-Betreuungsplätze stehen in Baden-Württemberg in Form von Wohngruppen, Kinderheimen oder anderen Jugendhilfeeinrichtungen – aufgeschlüsselt nach Landkreisen – insgesamt zur Verfügung und wie ist die momentane Gesamtauslastung? 2. Wie viele dieser Plätze entfallen prozentual gesehen – aufgeschlüsselt nach Landkreisen und Jahren – im Moment an unbegleitete minderjährige Asylbewerber und wie ist deren Aufenthaltsstatus? 3. Wie viele nichtbegleitete Minderjährige – aufgeschlüsselt nach Landkreisen und Jahren – wurden zwischen Januar 2010 und Juni 2016 in Jugendhilfeeinrichtungen in Baden-Württemberg aufgenommen? 4. Wie viele nichtbegleitete Minderjährige – aufgeschlüsselt nach Landkreisen – waren es verglichen damit in den zehn Jahren davor zwischen Januar 2000 und Dezember 2009? Die Unterbringung, Versorgung und Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Ausländerinnen und Ausländern (UMA) im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe ist nicht an einen bestimmten aufenthaltsrechtlichen Status geknüpft. Die gesetz - liche Verpflichtung der Jugendämter bezieht sich sowohl auf UMA, die einen Asylantrag gestellt haben als auch auf UMA, deren Aufenthalt geduldet wird. 3 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 571 UMA werden überwiegend im Rahmen von stationärer Heimerziehung und sons - tigen betreuten Wohnformen untergebracht, versorgt und betreut. Die Inanspruchnahme dieser Hilfeformen lässt sich vor allem anhand der landesweiten Entwicklung der einschlägigen Fallzahlen beschreiben. Für die Inobhutnahmen durch die Jugendämter gilt dies entsprechend. Daher werden zur Beschreibung der Entwicklung in Baden-Württemberg nachfolgend die entsprechenden Fallzahlen herangezogen. Die Jugendämter sind bei ihren Entscheidungen über die Gewährung von Leistungen zur stationären Unterbringung nicht auf die innerhalb ihres örtlichen Zuständigkeitsbereiches liegenden Einrichtungen beschränkt, weshalb nachstehend auf die landesweite Entwicklung der Fallzahlen eingegangen wird. Die Entwicklung der Fallzahlen der Hilfen in (stationärer) Heimerziehung und sonstigen betreuten Wohnformen im Sinne von § 34 des Achten Buches Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe – (SGB VIII) wird nachfolgend auf der Basis der Fallzahlerhebungen dargestellt, die das KVJS-Landesjugendamt jährlich bei allen 46 Jugendämtern in Baden-Württemberg durchführt. Die Angaben umfassen die am 31. Dezember des jeweiligen Jahres laufenden sowie die im jeweiligen Jahr beendeten Hilfen, was bedeutet, dass das gesamte Fallzahlvolumen erfasst ist. Die Fallzahlen der UMA werden zwar erst seit 2014 gesondert erfasst. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der Anteil von UMA an den ausgewiesenen Gesamtfallzahlen bis zum Jahr 2013 sehr gering gewesen und damit statistisch vernachlässigbar sein dürfte. Als sich abgezeichnet hat, dass im Kontext der verstärkten Flüchtlingsbewegungen nach Deutschland auch die Zahl der UMA ansteigen würde, hat das KVJS-Landesjugendamt seine Fallzahlerhebung bei den Jugendämtern ab 2014 entsprechend differenziert und die Fallzahl der UMA gesondert (zusätzlich) erfasst. Entsprechendes gilt für die Inobhutnahmen nach § 42 SGB VIII, die das KVJS-Landesjugendamt ebenfalls bei den örtlichen Jugendhilfeträgern erhebt, allerdings als Zahl der im jeweiligen Jahr neu vorgenommen Inobhutnahmen. Die beiden nachstehenden Tabellen zeigen die Fallzahlentwicklungen im Bereich der Hilfen nach § 34 SGB VIII und der Inobhutnahmen nach § 42 SGB VIII über den zurückliegenden Zehnjahreszeitraum. Die Fallzahlen der UMA sind, wie bereits ausgeführt, ab dem Jahr 2014 gesondert ausgewiesen. Hilfen in Heimerziehung und sonstigen betreuten Wohnformen/§ 34 SGB VIII in Baden-Württemberg (Summe Hilfen am 31. Dezember und beendete Hilfen) Inobhutnahmen/§ 42 SGB VIII in Baden-Württemberg (begonnene Inobhutnahmen) Der Umstand, dass die Fallzahlen der Hilfen nach § 34 SGB VIII im Übergang vom Jahr 2013 zu 2014 nur geringfügig zurückgegangen sind, deutet darauf hin, dass im Sinne der oben formulierten Annahme die UMA-Fallzahlen bis zum Jahr 2013 keine nennenswerte quantitative Bedeutung gehabt haben. Der leichte Rückgang der Fallzahlen im Bereich des § 34 SGB VIII seit 2012 (ab hier zeigt sich eine leichte „Trendwende“ in der Fallzahldynamik) dürfte in erster Linie eine Folge des demografischen Wandels sein. Die Population der 15- bis unter 21-Jähri- 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 § 34 10.293 10.459 10.944 10.453 10.494 10.587 10.735 10.674 11.433 13.183 nur UMA keine Daten keine Daten keine Daten keine Daten keine Daten keine Daten keine Daten keine Daten 842 2.888 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 § 42 2.087 2.321 2.832 2.965 3.246 3.568 3.587 3.709 5.010 10.509 nur UMA keine Daten keine Daten keine Daten keine Daten keine Daten keine Daten keine Daten keine Daten 1.431 6.716 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 571 4 gen – die Hauptzielgruppe der Hilfen nach § 34 SGB VIII – ist seit Beginn des laufenden Jahrzehnts rückläufig. Auch für die Inobhutnahmen nach § 42 SGB VIII gilt, dass angesichts der Zeit - reihe in der oberen Zeile der Tabelle die Zahl der UMA bis zum Jahr 2013 eine vergleichsweise geringe Rolle gespielt haben dürfte. Die vergleichsweise hohe Zahl der Inobhutnahmen in 2015 für UMA erklärt sich auch durch den Umstand, dass ein UMA im Verfahren der Verteilung in einen anderen Stadt- oder Landkreis mehrfach Inobhut genommen wird. Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass seit dem 1. November 2015 eine bundesweite Verteilung von UMA erfolgt. Da Baden-Württemberg zum Stichtag 31. Oktober 2015 unterhalb seiner anteiligen Soll-Länderquote lag, wurden Baden-Württemberg in den Monaten November und Dezember 2015 zahlreiche UMA zugewiesen . 5. Wie viele Anträge auf Inobhutnahme inländischer Kinder und Jugendlicher mussten aufgrund von Vollbelegung seit Januar 2010 – aufgeschlüsselt in Landkreisen und Jahren – abgelehnt werden? 6. Wie werden die Anträge auf einen Betreuungsplatz gewichtet, falls der Platz für mehrere Klienten infrage kommt? 7. Wie oft – aufgelistet nach Landkreisen und Jahren – wurde im oben genannten Zeitraum ein Antrag eines inländischen Klienten zugunsten eines unbegleiteten minderjährigen Asylbewerbers abgelehnt? 8. Welche Maßnahmen wurden ergriffen, um den Mehrbedarf auszugleichen? Der seit 1. November 2015 geltende § 42 a SGB VIII verpflichtet die Jugendämter, unbegleitete minderjährige Ausländerinnen und Ausländer in einer zeitlich begrenzten vorläufigen Inobhutnahme aufzunehmen, sobald deren unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Die vorläufige Inobhutnahme auslän - discher Kinder und Jugendliche dient der Schutzgewährung vor ihrer Verteilung. Die Verteilung auf andere Bundesländer beziehungsweise Jugendämter zur Durchführung der sich an die vorläufige Inobhutnahme anschließenden eigentlichen Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII erfolgt innerhalb eines festgelegten bundesweiten Verfahrens (§ 42 b SGB VIII). Am Primat der Kinder- und Jugendhilfe und an der Primärzuständigkeit des Jugendamtes für die Erstversorgung und Erstunterbringung von UMA hat der Bundesgesetzgeber festgehalten. Die Jugendämter sind verpflichtet, Inobhutnahmen gemäß § 42 SGB VIII durchzuführen , wenn dies im Einzelfall erforderlich ist (hoheitliche Aufgabe). „Ablehnungen “ von Inobhutnahmen sind bei Minderjährigen rechtlich ausgeschlossen, ein Handlungsermessen besteht nicht. Bei der Prüfung, ob eine Inobhutnahme erforderlich ist, wird nicht danach unterschieden, ob es sich um einen ausländischen oder inländischen Minderjährigen handelt. Handlungsleitend ist, dass gemäß SGB VIII Minderjährige vor Gefahren zu schützen sind und das Kindeswohl sichergestellt wird. Im Rahmen der Jugendhilfeplanung haben die Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach § 80 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII „die zur Befriedigung des Bedarfs notwendigen Vorhaben rechtzeitig und ausreichend zu planen; dabei ist Vorsorge zu treffen, dass auch ein unvorhergesehener Bedarf befriedigt werden kann.“ Die Schaffung neuer geeigneter Wohn- und Betreuungsangebote beansprucht naturgemäß stets eine gewisse Zeit. Es müssen Einrichtungsträger gefunden werden, die entsprechend Räume und Personal bereitstellen können. Es sind baurechtliche Aspekte zu prüfen und es muss eine Betriebserlaubnis durch das KVJS-Landes - jugendamt erteilt werden. 5 Landtag von Baden-Württemberg Drucksache 16 / 571 Temporär kam es infolge der hohen Zahl erforderlicher Inobhutnahmen zu Überbelegungen in Einrichtungen (z. B. wurden Einzelzimmer als Doppelzimmer oder Doppelzimmer als Dreibettzimmer genutzt) oder zu Unterbringungen in provisorischen Unterkünften. Durch die gute Zusammenarbeit zwischen den öffentlichen und freien Trägern sowie dem KVJS-Landesjugendamt konnte jedoch zu jedem Zeitpunkt die Betreuung und Versorgung aller Kinder und Jugendlichen im Sys - tem der Kinder- und Jugendhilfe in Baden-Württemberg gewährleistet werden. Inobhutnahmen werden nicht nur in Wohngruppen durchgeführt, sondern können auch bei geeigneten Personen im Rahmen von Vollzeitpflege erfolgen. Die Versorgung inländischer und ausländischer Kinder und Jugendlicher war und ist in Baden-Württemberg uneingeschränkt gewährleistet. Lucha Minister für Soziales und Integration