Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Christine Kamm BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 26.02.2014 Ignorierung des Kirchenasyls durch Polizei und Ausländerbehörden in Augsburg In Augsburg ist eine alleinerziehende Mutter mit vier Kindern aus dem Kirchenasyl geholt und noch am selben Tag nach Polen abgeschoben worden. Sie flüchtete vor Misshandlungen und Übergriffen aus Tschetschenien nach Polen und von dort weiter nach Deutschland, als die Wohnung einer Nachbarin, ebenfalls eine Tschetschenin, von Neonazis in Brand gesetzt wurde. Ein deutscher Psychotherapeut habe ihr eine posttraumatische Belastungsstörung bescheinigt und habe vor den „Folgeschäden“ einer „übereilten Abschiebung“ gewarnt. Die Frau und ihre vier Kinder im Alter von vier bis 14 Jahren hatten am Montag bei der katholischen Pfarrgemeinde St. Peter und Paul in Augsburg-Oberhausen Zuflucht gefunden . Am Dienstagmorgen um sechs Uhr standen Polizeibeamte vor der Tür des Pfarrhauses. Sie hatten vom Ausländeramt der Stadt den Auftrag, die Familie abzuholen und an die polnische Grenze zu fahren. Pfarrer Karl Mair gab nach Gesprächen mit den Beamten und einem Telefonat mit dem Amt seinen Widerstand gegen die Abschiebung auf. Ich stelle folgende Anfrage: 1. a) Wer traf die Entscheidung für die sofortige Räumung des Kirchenasyls? b) Wer ist dafür verantwortlich, dass die Kirchengemeinde nicht mal die Chance hatte, sich zu äußern und bessere Wege zu suchen? 2. a) Wer trägt die politische Verantwortung für den Polizeieinsatz ? b) Erfolgte die Anordnung des Ausländeramts der Stadt auf Weisung des Innenministeriums? c) Spielte bei der übereilten Abschiebung die Tatsache eine Rolle, dass die Halbjahresfrist bald abgelaufen wäre, und somit die Familie in Deutschland einen Asylantrag stellen und vorerst hierbleiben hätte können? 3. a) Trifft es zu, dass bei Dublin-III-Fällen, deren Verfahren in Deutschland durchgeführt werden, die zuständige Kommune die Kosten für das Verfahren übernehmen muss, wie vom Ausländeramt behauptet wurde? b) Inwieweit wird bei Dublin-III-Abschiebungen berücksichtigt , wenn Menschen in den Zielländern rassistischen Übergriffen ausgesetzt waren? c) Inwieweit wird bei Dublin-III-Abschiebungen berücksichtigt , wenn Menschen von den Zielländern ohne sachgerechtes Verfahren in Länder weiterabgeschoben werden, in denen sie bedroht sind? 4. a) Welche städtischen Stellen waren im Vorfeld über die geplante Abschiebung der Familie jeweils ab wann informiert ? b) Welche Stellen im Innenministerium und bei der Regierung von Schwaben waren jeweils ab wann informiert ? 5. Was hat die Stadtspitze unternommen, um die Abschiebung der Familie zu verhindern? 6. a) Teilt das Innenministerium die Ansicht, dass Kirchenasyle bei besonderen humanitären Notlagen gewährt werden sollen und deshalb unantastbar sind? b) Wenn nein, warum nicht? 7. a) Wurde bei der Abschiebung psychischer oder physischer Druck ausgeübt? b) Trifft es zu, dass ein Psychotherapeut festgestellt haben soll, dass die Frau schwer traumatisiert ist? c) Warum wurde dies von der Ausländerbehörde nicht berücksichtigt? Antwort des Staatsministeriums des Innern, für Bau und Verkehr vom 31.03.2014 Vorbemerkung: Der Anfrage liegt der Einzelfall einer tschetschenischen Frau mit vier Kindern zugrunde, die im Juli 2013 aus Polen kommend nach Deutschland eingereist war und einen Asylantrag gestellt hatte. Mit Bescheid vom 12.09.2013 stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (sog. Dublin-II-Verordnung)*, fest, dass Polen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, und ordnete die Überstellung nach Polen an. Dieser Bescheid ist seit dem 03.10.2013 bestandskräftig und vollziehbar . Am 03.02.2014 bat die Ausländerbehörde der Stadt Augsburg das Polizeipräsidium Schwaben-Nord um Benennung eines Rücküberstellungstermins. Der Termin wurde nach Abstimmung mit der polnischen Behörde am Grenz- Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de –Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de – Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 09.05.2014 17/1430 Bayerischer Landtag *) Die Neufassung dieser Verordnung, Verordnung (EU) Nr.604/2013 vom 26. Juni 2013 (sog. Dublin-III-Verordnung), war nach einer Übergangsvorschrift noch nicht anwendbar. Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/1430 übergang Görlitz auf den 18.02.2014 festgelegt und am 05.02.2014 durch das Bundesamt bestätigt. Mit Schreiben vom 14.02.2014 beauftragte die Ausländerbehörde die Polizei mit der Durchführung der Überstellung. Am 17.02.2014 teilte der Pfarrer der Pfarrgemeinde St. Peter und Paul in Augsburg der Ausländerbehörde schriftlich mit, dass die Familie sich seit dem Morgen desselben Tages im Kirchenasyl befinde. Die Ausländerbehörde verständigte daraufhin die Polizei, dass der Transportauftrag bestehen bleibe und die Rückführung ohne Anwendung von Zwang versucht werden solle. Als die Polizei am Morgen des 18.02.2014 beim katholischen Pfarramt eintraf, wurde sie durch Mieter des Pfarramtes informiert, dass mit ihrem Erscheinen gerechnet wurde. Der Pfarrer kam um 6.00 Uhr. Die Polizeibeamten wiesen den Pfarrer auf die Zuständigkeit der Ausländerbehörde hin und gaben ihm Gelegenheit, mit der Ausländerbehörde zu telefonieren. Die von ihm angerufene Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde verwies im Wesentlichen auf die zu vollziehende Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und die Zuständigkeit Polens für das Asylverfahren. Die Polizeibeamten sagten dem Pfarrer zu, die Rückführung abzubrechen und die Betroffenen zurück nach Augsburg zu bringen, wenn die Ausländerbehörde die Überstellung doch noch stoppen sollte. Daraufhin gewährte der Pfarrer den Polizeibeamten Zutritt zum Pfarrhaus. Die Betroffenen verhielten sich äußerst kooperativ. Sie packten ihre Sachen und begaben sich in Begleitung der Polizeibeamten zum Fahrzeug der Polizei. Die Überstellung erfolgte dann wie vorgesehen am 18.02.2014. Nach Angaben der polnischen Behörden war die Familie bereits am 30.11.2007 nach Polen eingereist und hatte dort am 26.11.2008 ein Aufenthaltsrecht (sog. „ergänzenden Schutz“) zuerkannt bekommen. 1. a) Wer traf die Entscheidung für die sofortige Räumung des Kirchenasyls? Auf die Vorbemerkung wird verwiesen. Eine zwangsweise „Räumung des Kirchenasyls“ fand nicht statt. b) Wer ist dafür verantwortlich, dass die Kirchengemeinde nicht mal die Chance hatte, sich zu äußern und bessere Wege zu finden? Auf die Vorbemerkung wird verwiesen. Danach fanden sowohl mit der Polizei wie auch mit der Ausländerbehörde Gespräche statt. 2. a) Wer trägt die politische Verantwortung für den Polizeieinsatz ? Die Überstellung wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angeordnet und von der Stadt Augsburg – Ausländerbehörde – vollzogen. Die Polizei leistete entsprechende Vollzugshilfe. b) Erfolgte die Anordnung des Ausländeramts der Stadt auf Weisung des Innenministeriums? Nein. c) Spielte bei der übereilten Abschiebung die Tatsache eine Rolle, dass die Halbjahresfrist bald abgelaufen wäre und somit die Familie in Deutschland einen Asylantrag stellen und vorerst hierbleiben hätte können? Die Überstellungsfrist wäre am 23.02.2014 ausgelaufen. Die Abschiebung fand jedoch nicht übereilt statt, sondern wurde, wie üblich, innerhalb des bestehenden und durch das Europarecht vorgegebenen Zeitrahmens geplant und durchgeführt. Die Familie hatte sich zuvor in Rückkehrberatung bei der Zentralen Rückkehrberatung (ZRB) befunden, sodass zu einem früheren Zeitpunkt keine Überstellung vorgenommen wurde, um der Familie die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise zu belassen. Nachdem die ZRB dem Ausländeramt am 31.01.14 mitteilte, dass eine freiwillige Ausreise nach Tschetschenien nicht erfolgen werde, begann die Ausländerbehörde am 03.02.2014 mit der Organisation der Rücküberstellung nach Polen. Erst am 17.02.2014, also in der letzten Woche der laufenden Überstellungsfrist, begab sich die Familie ins Kirchenasyl. 3. a) Trifft es zu, dass bei Dublin-III-Fällen, deren Ver- fahren in Deutschland durchgeführt werden, die zuständige Kommune die Kosten für das Verfahren übernehmen muss, wie vom Ausländeramt behauptet wurde? Ein Fall, in dem ein Bundesland oder eine Kommune wegen Unterlassens einer Überstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat vom Bund in Anspruch genommen worden wäre, ist hier nicht bekannt. b) Inwieweit wird bei Dublin-III-Abschiebungen berücksichtigt , wenn Menschen in den Zielländern rassistischen Übergriffen ausgesetzt waren? Alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sowie Norwegen , Island, die Schweiz und Liechtenstein, in die nach der Dublin-Verordnung überstellt werden kann, haben die Europäische Menschenrechtskonvention anerkannt und sind daher verpflichtet, die Menschenrechte zu achten und zu wahren. Falls es zu rassistischen Übergriffen kommen sollte, besteht für die Betroffenen die Möglichkeit, den Schutz der örtlichen Behörden in Anspruch zu nehmen. Nach der Rechtsprechung des EuGH können die Mitgliedsstaaten grundsätzlich darauf vertrauen, dass alle Mitgliedsstaaten die ihnen obliegenden Verpflichtungen einhalten . Sie dürfen jedoch nicht in einen anderen Mitgliedsstaat überstellen, wenn ihnen bekannt ist, dass dort systemische Mängel bei der Durchführung der Asylverfahren bestehen, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Ausländer tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn ein Staat Asylsuchenden den ihnen zustehenden Schutz verweigert oder zu einem solchen, z. B. wegen Überlastung des Asylsystems, nicht in der Lage ist, kann dies einen solchen systemischen Mangel darstellen. Ob ein solcher Fall vorliegt, hat nicht die Ausländerbehörde , sondern allein das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu prüfen und ggf. vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Die Entscheidungen des Bundesamts unterliegen der Überprüfung durch die Verwaltungsgerichte. c) Inwieweit wird bei Dublin-III-Abschiebungen berücksichtigt , wenn Menschen von den Zielländern ohne sachgerechtes Verfahren in Länder weiterabgeschoben werden, in denen sie bedroht sind? Die Staaten, in die nach der Dublin-Verordnung abgeschoben wird, sind an die Genfer Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (GFK) gebunden. Deren Kernstück ist das sog. „Non-Refoulement-Prinzip“. Art 33 Abs. 1 der GFK lautet: Drucksache 17/1430 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 „Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit , seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“ Auch diesbezüglich gilt die unter 3. b) dargelegte Rechtsprechung des EuGH. 4. a) Welche städtischen Stellen waren im Vorfeld über die geplante Abschiebung der Familie jeweils ab wann informiert? Die Ausländerbehörde der Stadt Augsburg hat das Büro des Oberbürgermeisters am 17.02.2014 spätnachmittags über die durch das Pfarramt mitgeteilte neue Adresse der Betroffenen im katholischen Pfarramt St. Peter und Paul informiert . Der Oberbürgermeister hat diese Information im Laufe des Vormittags des 18.02.2014 zur Kenntnis genommen. Ebenfalls im Laufe des Vormittags informierte ihn der Pfarrer in einem Telefonat über das Kirchenasyl und die Ereignisse am frühen Morgen. b) Welche Stellen im Innenministerium und bei der Regierung von Schwaben waren jeweils ab wann informiert? Das zuständige Sachgebiet des Staatsministeriums des Innern, für Bau und Verkehr wurde am 17.02.2014 gegen 16.30 Uhr von der Ausländerbehörde darüber informiert, dass die Überstellung der Familie für den nächsten Tag geplant sei und diese sich im Kirchenasyl befinde. Das zuständige Sachgebiet der Regierung von Schwaben wurde am 18.02.2014 gegen Mittag informiert. 5. Was hat die Stadtspitze unternommen, um die Abschiebung der Familie zu verhindern? Der Oberbürgermeister nahm am 18.02.2014 im Laufe des Vormittags telefonischen Kontakt mit dem Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr auf, um sich die Rechtslage erläutern zu lassen. Außerdem führte er ein Telefonat mit dem Bischof von Augsburg, um den Vorgang zu erörtern. 6. a) Teilt das Innenministerium die Ansicht, dass Kirchenasyle bei besonderen humanitären Notlagen gewährt werden sollen und deshalb unantastbar sind? b) Wenn nein, warum nicht? Die deutsche Rechtsordnung enthält keine Grundlage für die Anerkennung des Kirchenasyls. Die im Rechtsstaat vom demokratischen Gesetzgeber erlassenen Gesetze haben Geltungsanspruch gegenüber jedermann, auch gegenüber den Kirchen. Das geltende Recht berücksichtigt in vielfältiger Weise humanitäre Belange; in Dublin-Verfahren besteht insbesondere die Möglichkeit des Selbsteintritts, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ausüben kann. Jede Entscheidung einer Behörde kann durch unabhängige Gerichte überprüft werden. Bayerische Behörden und Kommunen sind verpflichtet, das geltende Bundes- und Europarecht zu vollziehen . Gleichwohl wird in Fällen von Kirchenasyl mit Rücksicht auf die besondere Stellung der Kirchen von Vollzugsmaßnahmen abgesehen und auf Verhandlungslösungen gesetzt. 7. a) Wurde bei der Abschiebung psychischer oder physischer Druck ausgeübt? Weder gegen den Pfarrer noch gegenüber den Betroffenen wurde körperlicher Zwang angedroht oder ausgeübt. Für die eingesetzten Polizeibeamten ergaben sich auch keine Anhaltspunkte, dass der Pfarrer ihr Verhalten als Ausübung psychischen Zwangs empfunden hätte. b) Trifft es zu, dass ein Psychotherapeut festgestellt haben soll, dass die Frau schwer traumatisiert ist? c) Warum wurde dies von der Ausländerbehörde nicht berücksichtigt? Bis zur Beendigung der Rückführung der Familie lag der Ausländerbehörde keine Mitteilung zu einer Traumatisierung der Frau vor. Eine Traumatisierung wurde gegenüber der Ausländerbehörde erstmals am 27.02.2014 durch Vertreter des „Grandhotels“ unter Vorlage einer fachärztlichen Bescheinigung vom 02.10.2013 thematisiert. In dieser Bescheinigung wird die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ gestellt. Informationen zum Schweregrad der Traumatisierung finden sich darin nicht.