Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Prof. Dr. Peter Paul Gantzer SPD vom 06.12.2016 Vollzugsdefizit in Bayern II Laut der Antwort der Staatsregierung auf meine Schriftliche Anfrage vom 6. Juni 2016 (Drs.: 17/12752) konnten (Stand 14. Juni 2016) 202 Haftstrafen gegen Täter, die wegen Mordes oder Totschlags verurteilt wurden, nicht vollstreckt werden. Auch 259 Haftstrafen gegen Täter mit begangenen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung werden derzeit nicht vollstreckt. Ich frage die Staatsregierung: 1. Um wie viele Täter handelt es sich dabei? 2. Wie lange liegen die Taten in den einzelnen Fällen zurück ? 3. Hat die Staatsregierung Kenntnis, ob sich die Straftäter derzeit in Bayern aufhalten? 4. a) Hat die Staatsregierung Kenntnisse, ob sich die Straftäter im Ausland aufhalten? b) Bejahendenfalls, in welchen Ländern und was wird unternommen , um den Straftätern auch im Ausland habhaft zu werden? 5. Wie viele Fahndungsmaßnahmen laufen derzeit gegen die oben genannten Täter? Antwort des Staatsministeriums der Justiz vom 08.02.2017 Der in den einleitenden Bemerkungen der Schriftlichen Anfrage enthaltenen pauschalen Feststellung, dass die den Haftbefehlen zugrunde liegenden Haftstrafen nicht vollstreckt würden, wird entgegengetreten. Alleine das Bestehen eines Haftbefehls gibt keinen Aufschluss über den Vollstreckungsstand im konkreten Einzelverfahren. Denn ein Haftbefehl kann auch dann noch erlassen werden, wenn die verhängte Freiheitsstrafe bereits im wesentlichen Umfang vollstreckt wurde. Dies ist etwa bei ausländischen Straftätern, hinsichtlich derer auf der Grundlage von § 456a der Strafprozessordnung (StPO) von der weiteren Strafvollstreckung abgesehen wird, der Fall. In diesen Konstellationen hat die Vollstreckungsbehörde nach Vollstreckung der Hälfte bzw. von 2/3 einer Freiheitsstrafe im Hinblick auf die Abschiebung des Verurteilten aus dem Bundesgebiet von der weiteren Strafvollstreckung abgesehen. Dabei wird der Verurteilte standardmäßig in Deutschland mit Vollstreckungshaftbefehl zur Fahndung ausgeschrieben, damit er bei jeglicher Wiedereinreise sofort wieder in Haft genommen und die Vollstreckung nachgeholt werden kann. Auch nach Teilvollstreckung einer Freiheitsstrafe, Gewährung einer Reststrafenaussetzung zur Bewährung und anschließendem Bewährungswiderruf kommt – etwa wenn der Verurteilte einer Ladung zum Strafantritt nicht nachkommt – nach Vollstreckung eines wesentlichen Teils der verhängten Haftstrafe der Erlass eines (Vollstreckungs-)Haftbefehls in Betracht . Der Erfahrung nach entfällt ein erheblicher Anteil der offenen Haftbefehle auf die erstgenannte Fallkonstellation (Absehen von der Strafvollstreckung nach § 456a StPO). Die vorliegende Schriftliche Anfrage knüpft an die Schriftliche Anfrage des Herrn Abgeordneten Prof. Dr. Peter Paul Gantzer vom 6. Juni 2016 betreffend „Vollzugsdefizit in Bayern “ und die korrespondierende Antwort des Staatsministeriums der Justiz vom 28. Juli 2016 (LT-Drucksache 17/12752 vom 30. September 2016) an. Wie bereits in der Antwort auf die vorgenannte Schriftliche Anfrage dargelegt, führt die bayerische Justiz keine Statistiken über die Anzahl der nicht vollstreckten Haftbefehle. Die entsprechenden statistischen Daten können automatisiert ausschließlich im Fahndungs- und Informationssystem der Bayerischen Polizei (IN-POL) recherchiert werden. Im IN- POL werden ausschließlich veröffentlichte Haftbefehle eingestellt , also solche, in denen der zu Verhaftende auch zur polizeilichen Fahndung ausgeschrieben ist. Haftbefehle, die von den örtlichen Polizeidienststellen ggf. im Zusammenwirken mit der Staatsanwaltschaft unmittelbar vollstreckt wurden oder werden sollen, sind nicht im INPOL erfasst und damit nicht recherchierbar. Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich daher ausschließlich auf veröffentlichte Haftbefehle, die im INPOL eingestellt waren bzw. sind. Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de –Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de–Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 18.04.2017 17/15383 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/15383 Um die nun gestellten Fragen für den aktuellen Gesamtbestand von Personen zu beantworten, die wegen Mordes, Totschlags oder begangenen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von bayerischen Justizbehörden zur Strafvollstreckung ausgeschrieben sind, wurde am 23. Dezember 2016 eine entsprechende Auswertung aus INPOL durch das Bayerische Landeskriminalalmt (BLKA) durchgeführt . Bei den folgenden Angaben handelt es sich um eine Momentaufnahme zum Stichtag. Veränderungen ergeben sich aus dem dynamischen Prozess des Erlasses und des Vollzugs der Haftbefehle; auf der einen Seite werden ständig offene Haftbefehle durch die Sicherheitsbehörden vollzogen, auf der anderen Seite werden neue Haftbefehle von den zuständigen Justizbehörden erlassen. Zudem ist bei der Bewertung der angegebenen Zahlen Folgendes zu berücksichtigen: Die Deliktsangaben erfassen jeweils auch versuchte Taten. Bei Vollstreckungshaftbefehlen kann zudem teilweise die Vollstreckung der Haftstrafen durch Zahlung einer Geldstrafe abgewendet werden, soweit Ersatzfreiheitsstrafen zur Vollstreckung anstehen. Vor diesem Hintergrund wird die Schriftliche Anfrage im Einvernehmen mit dem Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr wie folgt beantwortet: 1. Um wie viele Täter handelt es sich dabei? Nach Auskunft des BLKA handelt es sich insgesamt um 638 Personen, die zum Auswertungszeitpunkt (23. Dezember 2016) wegen vorsätzlicher Tötungsdelikte oder Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zur Strafvollstreckung ausgeschrieben sind. 2. Wie lange liegen die Taten in den einzelnen Fällen zurück? Auf Grundlage der durch das BLKA zur Verfügung gestellten Daten zu den im IN-POL eingestellten Haftbefehlen konnten aus dem elektronischen Datenverarbeitungsprogramm der bayerischen Staatsanwaltschaften ergänzt durch eine manuelle Auswertung die jeweils korrespondierenden Tatzeitpunkte ermittelt werden. Die Verteilung der Tatzeitpunkte auf die vergangenen Jahre ergibt sich aus der nachfolgenden Tabelle. Soweit den Haftbefehlen mehrere Taten zugrunde liegen, wurde jeweils der späteste Tatzeitpunkt in die Tabelle aufgenommen. Offene Haftbefehle für Taten aus dem Jahr 2016 sind im INPOL nicht verzeichnet. Jahr 1968 1970 1972 1975 1976 1977 Mord, Totschlag 1 1 2 2 1 1 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung - - - - - - 1978 1980 1981 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1 1 1 2 6 3 3 4 3 - - - 1 1 1 1 0 - 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 4 5 7 17 22 20 14 13 15 1 2 1 2 4 3 1 3 5 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 15 17 19 15 17 15 19 19 10 2 12 7 12 11 18 18 27 18 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 10 9 8 9 12 8 4 3 2 15 19 23 11 16 18 11 5 9 Es wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass der Tatzeitpunkt grundsätzlich keinen Schluss dahingehend erlaubt, wie lange nach einem Straftäter bereits mit Haftbefehl gefahndet wird. Denn ein Haftbefehl wird u. U. auch erst viele Jahre nach einer Tat erlassen. Vorstellbar ist etwa, dass eine Tat lange unentdeckt bleibt oder erst zu einem späteren Zeitpunkt ein Tatverdächtiger ermittelt wird. Auch bei einem Absehen von der weiteren Strafvollstreckung auf der Grundlage von § 456a StPO bzw. einem Widerruf einer Reststrafenaussetzung zur Bewährung (insoweit wird auf die Vorbemerkung Bezug genommen) erfolgt der Erlass eines Haftbefehls i. d. R. erst geraume Zeit nach der Tatbegehung. 3. Hat die Staatsregierung Kenntnis, ob sich die Straftäter derzeit in Bayern aufhalten? Nach Einschätzung des BLKA dürfte sich der weit überwiegende Teil dieser Straftäter nicht in Bayern aufhalten, zumal es sich bei den gesuchten Personen fast ausschließlich um ausländische Staatsangehörige (621) handelt, welche über kein Aufenthaltsrecht verfügen. Nur 18 der Ausgeschriebenen (etwa 2,5 Prozent) sind deutsche Staatsangehörige, 3 davon haben dazu eine weitere Staatsangehörigkeit. Wie in der Antwort zu Frage 2 ausgeführt, werden Vollstreckungshaftbefehle vor allem auch im Zusammenhang mit dem Absehen von der weiteren Strafvollstreckung auf der Grundlage von § 456a StPO erlassen. 4. a) Hat die Staatsregierung Kenntnisse, ob sich die Straftäter im Ausland aufhalten? Auf die Ausführungen zu Frage 3 wird Bezug genommen. Nach Auskunft des BLKA besteht neben der justiziellen Ausschreibung bei 269 der Betroffenen zusätzlich eine Ausschreibung zur Ausweisung/Abschiebung seitens der zuständigen Ausländerbehörde. Bei 28 (rund 4,5 Prozent) der Betroffenen liegen die Voraussetzungen des Europäischen Haftbefehls vor und besteht eine Ausschreibung zur Festnahme im Schengener Informationssystem. b) Bejahendenfalls, in welchen Ländern und was wird unternommen, um den Straftätern auch im Ausland habhaft zu werden? Liegen Erkenntnisse zum Aufenthalt von gesuchten Personen im Ausland vor, werden in Absprache mit der zuständigen Staatsanwaltschaft die zur Ergreifung erforderlichen und rechtlich zulässigen Maßnahmen auch im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen eingeleitet . Dies gilt allerdings nicht in den Fällen, in denen auf der Grundlage von § 456a StPO wegen der Abschiebung der Betroffenen in ihr Heimatland von der weiteren Strafvollstreckung abgesehen wurde. Es liegt gerade nicht im Interesse der Strafverfolgungsbehörden, dieser abgeschobenen Straftäter habhaft zu werden, solange sie sich nicht im Bundesgebiet aufhalten. Wie bereits zu Frage 4 a ausgeführt, sind 28 der Betroffenen aktuell mit Europäischem Haftbefehl schengenweit ausgeschrieben. Dazu, in welchen Fällen ergänzend auch Drucksache 17/15383 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 internationale Fahndungsmaßnahmen über Interpol ausgelöst wurden, liegen keine Zahlen vor. 5. Wie viele Fahndungsmaßnahmen laufen derzeit gegen die oben genannten Täter? Eine Feststellung, inwiefern neben den Ausschreibungen gezielte Fahndungsmaßnahmen laufen bzw. sinnvoll und angezeigt sind, kann in der Kürze der Bearbeitungszeit nicht erfolgen. Unabhängig davon werden von den Zielfahndungsstellen der Bayerischen Polizei fortwährend und eigeninitiativ die Ausschreibungen im Zusammenhang mit schwerwiegenden Straftaten in Bayern hinsichtlich möglicher gezielter Fahndungsmaßnahmen geprüft und daraus resultierende Zielfahndungen eingeleitet.