17. Wahlperiode 30.05.2017 17/16121 Bayerischer Landtag Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Christine Kamm BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 18.01.2017 Suizide und Suizidversuche von Asylsuchenden in Bayern 2016 Viele Flüchtlinge machen sich sehr viele Sorgen über ihre Situation, können das Ergebnis ihres langen Anerkennungsverfahrens schwer einschätzen und fürchten, nach einer negativen Entscheidung sehr schnell und ohne Berücksichtigung ihrer individuellen Lage in ihr Heimatland abgeschoben zu werden. Im oberbayerischen Gaimersheim hat sich zu Beginn dieses Jahres ein 19-jähriger Afghane aus Verzweiflung über seine Lage in einem Supermarkt angezündet. Es ist zu befürchten, dass er die Folgen seiner Verbrennungen nicht überlebt. Ich frage die Staatsregierung: 1. Wie viele Suizide und wie viele Suizidversuche von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in bayerischen Asylbewerberheimen im Jahr 2016 sind der Staatsregierung bekannt (bitte aufgeschlüsselt nach Regierungsbezirken und Unterkunftsorten sowie nach Nationalität und Monat)? 2. Fanden in den benannten Fällen entsprechende polizeiliche Untersuchungen statt? 3. Welche Kenntnisse hat die Staatsregierung über die Motive bzw. Auslöser für den Suizid der jeweiligen Asylbewerberinnen und Asylbewerber? 4. Wie erklärt sich die Staatsregierung die Zunahme der Fälle im Vergleich zu den Vorjahren? 5. Welche Unterstützungen können Asylsuchende, die einen Suizidversuch überlebt haben, über adäquate ärztliche Unterstützung hinaus erhalten? 6. Wie viele der Suizide oder Suizidversuche stehen in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit Abschiebeanordnungen oder Abschiebeversuchen und könnten somit der Auslöser gewesen sein? 7. Wie viele der Suizide stehen in engem zeitlichen Zusammenhang mit negativen Verfahrensentscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge? 8. Wie viele Asylbewerber und Asylbewerberinnen wurden im Jahr 2016 präventiv wegen Suizidgefahr in psychiatrische Krankenhäuser eingeliefert? Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de –Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de – Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. Antwort des Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration vom 27.03.2017 Die Schriftliche Anfrage der Frau Abgeordneten Christine Kamm wird im Einvernehmen mit dem Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr wie folgt beantwortet: Vorbemerkung: Bei der Beantwortung der Schriftlichen Anfrage wird davon ausgegangen, dass sich der Begriff der „Asylbewerberheime “ auf Asylunterkünfte in Form von Erstaufnahmeeinrichtungen , Gemeinschaftsunterkünften und dezentralen Unterkünften bezieht. Bei „Asylsuchenden“ handelt es sich um Personen, die noch keinen Asylantrag gestellt haben, während bei „Asylbewerbern“ bereits eine Asylantragstellung erfolgt ist. Angesichts der Verwendung beider Begriffe in der Schriftlichen Anfrage wird davon ausgegangen, dass sich diese auf beide Personengruppen beziehen. Bei den Fragen 1 bis 4 sowie 6 und 7 wird angesichts der Formulierung „in bayerischen Asylbewerberheimen“ ferner davon ausgegangen, dass sich die Fragen auf Suizide und Suizidversuche bezieht, die in Asylbewerberunterkünften begangen wurden. Bei der Beantwortung der Frage 1 wird angesichts der Formulierung „in bayerischen Asylbewerberheimen“ davon ausgegangen, dass sich die Frage 1 auf Suizide und Suizidversuche bezieht, die in Asylbewerberunterkünften begangen wurden. Es wird bei der Beantwortung auf die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zurückgegriffen, wie dies auch in der Vergangenheit der Fall war, wenn diese Zahlen zum Zeitpunkt einer solchen Anfrage auch vorlagen. 1. Wie viele Suizide und wie viele Suizidversuche von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in bayerischen Asylbewerberheimen im Jahr 2016 sind der Staatsregierung bekannt (bitte aufgeschlüsselt nach Regierungsbezirken und Unterkunftsorten sowie nach Nationalität und Monat)? In der PKS für Bayern werden auch die der bayerischen Polizei bekanntgewordenen Suizide und Suizidversuche erfasst . Diese wurden für das Berichtsjahr 2016 für die jeweiligen Regierungsbezirke nach der Ereignisörtlichkeit „Asylbewerberunterkunft “ und „Zuwanderer“ ausgewertet. Unter „Zuwanderer“ werden in der PKS nach bundeseinheitlicher Definition „Unerlaubter Aufenthalt, Asylbewerber , Kontingent-/Bürgerkriegsflüchtling, Duldung (z. B. abgelehnte Asylbewerber) und international/national Schutz-/ Asylberechtigte“ subsumiert. Eine Auswertung nur nach dem Status „Asylbewerber“ ist im Rahmen der PKS nicht möglich. Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/16121 Als Unterkunftsort kann in der PKS nur die „Asylbewerberunterkunft “ ausgewertet werden. Hierunter fallen nach der Definition der PKS Unterkünfte – auch temporäre – die der behördlichen Unterbringung – auch Erstaufnahme – von Asylbewerbern/Flüchtlingen dienen, sowie im Bau befindliche und geplante Aufnahmeeinrichtungen. Eine retrospektive Aufschlüsselung der Fälle nach Monaten war im Rahmen der zur Beantwortung der Schriftlichen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Die PKS weist die in der nachfolgenden Tabelle aufgeführten Versuche und Vollendungen der Suizide von Zuwanderern in Asylunterkünften pro Regierungsbezirk aus. Suizide durch Zuwanderer in Asylbewerberunterkünften 2016 Regierungsbezirk Versuche Vollendungen Oberbayern 60 2 Niederbayern 23 0 Oberpfalz 13 0 Oberfranken 17 0 Mittelfranken 12 2 Unterfranken 19 0 Schwaben 14 0 Aus der nachfolgenden Tabelle sind die Nationalitäten der Suizidenten pro Regierungsbezirk ersichtlich. Nationalitäten der Suizidenten 2016 Regierungsbezirk Oberbayern Suizide Nationalität Versuche Vollendungen afghanisch 24 1 syrisch 8 0 pakistanisch 5 0 ungeklärt 3 0 somalisch 3 0 eritreisch 3 0 irakisch 2 0 sierraleonisch 1 1 senegalesisch 2 0 kosovarisch 2 0 gambisch 1 0 türkisch 1 0 albanisch 1 0 guineisch 1 0 marokkanisch 1 0 bosnisch-herzegowinisch 1 0 iranisch 1 0 Gesamtergebnis 60 2 Regierungsbezirk Niederbayern Suizide Nationalität Versuche Vollendungen afghanisch 7 0 syrisch 6 0 irakisch 4 0 somalisch 2 0 senegalesisch 1 0 indisch 1 0 russisch 1 0 pakistanisch 1 0 Gesamtergebnis 23 0 Regierungsbezirk Oberpfalz Suizide Nationalität Versuche Vollendungen syrisch 5 0 irakisch 3 0 iranisch 2 0 tunesisch 1 0 pakistanisch 1 0 libysch 1 0 Gesamtergebnis 13 0 Regierungsbezirk Oberfranken Suizide Nationalität Versuche Vollendungen afghanisch 6 0 iranisch 5 0 syrisch 3 0 äthiopisch 2 0 staatenlos 1 0 Gesamtergebnis 17 0 Regierungsbezirk Mittelfranken Suizide Nationalität Versuche Vollendungen iranisch 5 1 irakisch 4 0 syrisch 1 1 aserbaidschanisch 1 0 äthiopisch 1 0 Gesamtergebnis 12 2 Regierungsbezirk Unterfranken Suizide Nationalität Versuche Vollendungen syrisch 4 0 somalisch 4 0 afghanisch 3 0 irakisch 3 0 gambisch 1 0 algerisch 1 0 türkisch 1 0 kosovarisch 1 0 eritreisch 1 0 Gesamtergebnis 19 0 Regierungsbezirk Schwaben Suizide Nationalität Versuche Vollendungen syrisch 4 0 afghanisch 2 0 somalisch 2 0 pakistanisch 2 0 eritreisch 1 0 Gesamtergebnis 14 0 2. Fanden in den benannten Fällen entsprechende polizeiliche Untersuchungen statt? Sämtliche Vorgänge, die in der PKS registriert sind, werden auch polizeilich erfasst und bearbeitet. In Fällen von polizeilich bekannt gewordenen Suiziden und Suizidversuchen Drucksache 17/16121 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 erfolgt insofern eine polizeiliche Sachbehandlung und gegebenenfalls Todesermittlungen gemäß § 159 der Strafprozessordnung . 3. Welche Kenntnisse hat die Staatsregierung über die Motive bzw. Auslöser für den Suizid der jeweiligen Asylbewerberinnen und Asylbewerber? Bei der Beantwortung der Frage 3 wird davon ausgegangen, dass sich die Frage sowohl auf die Motive der Suizide als auch auf die der Suizidversuche bezieht. In der PKS werden teils auch die im Zuge der polizeilichen Ermittlungen festgestellten Motive für entsprechende Suizide erfasst. Zu den Rahmenbedingungen der Auswertung vgl. die Antwort zu Frage 1. Nachfolgende Auswertung der PKS schlüsselt die vollendeten Suizidarten der Zuwanderer in Bayern in Asylbewerberheimen 2016 auf: Vollendungen der Suizidart Suizidenten insgesamt Selbsttötungen insgesamt 4 Motive der vollendeten Suizide Krankheit, Schwermut, Nervenleiden 2 Wirtschaftliche Notlage 1 Sonstiger oder nicht erkennbarer Grund 1 Nachfolgende Auswertung schlüsselt die versuchten Suizidarten der Zuwanderer in Bayern in Asylbewerberheimen 2016 auf. Anzumerken ist hierbei, dass Personen mehrfach Suizidversuche begangen haben: Versuche der Suizidart Suizidenten insgesamt Selbsttötungen insgesamt 158 Motive der versuchten Suizide Krankheit, Schwermut, Nervenleiden 64 Familienzwistigkeiten 8 Liebeskummer 9 Wirtschaftliche Notlage 3 Drogenabhängigkeit 2 Sonstiger oder nicht erkennbarer Grund 72 4. Wie erklärt sich die Staatsregierung die Zunahme der Fälle im Vergleich zu den Vorjahren? Suizidentscheidungen der Betroffenen sind stark situativ geprägt, ferner spielen auch höchstpersönliche und individuelle Momente eine Rolle, sodass der Staatsregierung insofern keine Aussagen möglich sind. Eine mögliche Erklärung einer Zunahme der Fallzahlen stellt die Zunahme der Zahl der untergebrachten Asylbewerber insgesamt dar. 5. Welche Unterstützungen können Asylsuchende, die einen Suizidversuch überlebt haben, über adäquate ärztliche Unterstützung hinaus erhalten? Asylbewerberinnen und Asylbewerber erhalten Zugang zum allgemeinen medizinischen Versorgungssystem und mithin auch die Möglichkeit der Inanspruchnahme adäquater psychologischer Hilfe. Ergänzend stehen Asylbewerberinnen und Asylbewerbern eine Reihe weiterer Unterstützungsmöglichkeiten offen . Hierbei sind beispielhaft, aber nicht abschließend, die folgenden Angebote zu nennen: Im Regierungsbezirk Mittelfranken besteht die Möglichkeit , das Hilfsangebot des Krisendienstes Mittelfranken in Anspruch zu nehmen. Im Regierungsbezirk Schwaben steht in der Stadt Augsburg als Hilfestellung das sogenannte „HiFF-Projekt“ zur Verfügung, ein „Hilfsnetzwerk für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge“. Das Projekt unterstützt Betroffene mit traumatischen Erfahrungen und/oder psychischen Erkrankungen bei der Bewältigung ihrer Lebenssituation. Daneben besteht in den Regierungsbezirken Schwaben und Oberfranken das sogenannte „TAFF-Projekt – Therapeutische Angebote für Flüchtlinge“. Ziel des Projekts „TAFF“ ist die Verbesserung der Versorgung von psychisch erkrankten Flüchtlingen und Asylbewerberinnen und Asylbewerbern . Im Regierungsbezirk Unterfranken wurde in der Erstaufnahmeeinrichtung in Schweinfurt zu Beginn des Jahres 2017 ferner ein Projekt zur niederschwelligen psychosozialen Betreuung eingerichtet. Seitens des Bayerischen Roten Kreuzes wird ebenfalls seit Beginn des Jahres 2017 ein psychosoziales Beratungsangebot „ Initiative für traumatisierte Flüchtlinge“ in der Region Würzburg zur Verfügung gestellt. Ferner haben Betroffene die Möglichkeit, sich an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Asylsozialberatung, Selbsthilfegruppen oder Lebensberatungsstellen zu wenden. Zudem bieten auch ehrenamtliche Helferkreise oder die Sozialdienste karitativer Organisationen Unterstützung an. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, mit Hilfe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Sozialhilfeverwaltungen bzw. der Gesundheitsämter individuelle Ansprechpartner zu finden. Sofern der Suizidversuch auf Probleme im zwischenmenschlichen Umfeld zurückzuführen ist, besteht auch die Möglichkeit der Umverteilung. 6. Wie viele der Suizide oder Suizidversuche stehen in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit Abschiebeanordnungen oder Abschiebeversuchen und könnten somit der Auslöser gewesen sein? Entsprechende Daten werden in der PKS nicht erfasst und können mit vertretbarem Aufwand innerhalb der zur Beantwortung der Schriftlichen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit auch nicht ermittelt werden. 7. Wie viele der Suizide stehen in engem zeitlichen Zusammenhang mit negativen Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge? Vgl. die Antwort zu Frage 6. 8. Wie viele Asylbewerber und Asylbewerberinnen wurden im Jahr 2016 präventiv wegen Suizidgefahr in psychiatrische Krankenhäuser eingeliefert? Entsprechend dem Vorgangsverwaltungssystem der Bayerischen Polizei (IGVP) konnten für das Jahr 2016 anhand statistischer Parameter durch das Bayerische Landeskriminalamt 169 Fälle ermittelt werden, bei denen ein Asylbewerber als Suizident präventiv eingeliefert wurde. Bei der Datenquelle IGVP ist darauf hinzuweisen, dass diese eine sog. polizeiliche Einlaufstatistik, die PKS jedoch eine sog. polizeiliche Auslaufstatistik ist. Insofern sind beide Datenquellen in ihrer Aussagekraft nicht unmittelbar miteinander vergleichbar.