Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Kathrin Sonnenholzner SPD vom 10.03.2014 Schulbesuch von Kindern mit Diabetes mellitus Ich frage die Staatsregierung: 1. Hat die Staatsregierung Kenntnis, wieso das Rechtsschutzreferat Grundschullehrer(inne)n untersagt hat, Schüler/-innen bei der Kontrolle ihres Blutzuckers zu unterstützen? a) Wie beurteilt die Staatsregierung diese Anweisung? b) Welche Probleme sieht die Staatsregierung in diesem Zusammenhang? 2. Wie viele Schüler/-innen sind von dieser Anweisung betroffen? 3. Was will die Staatsregierung unternehmen, um Kindern mit Diabetes eine problemlose Teilhabe am Schulalltag zu ermöglichen? a) Wie kann die Problematik kurzfristig und langfristig gelöst werden? b) Welche Hilfestellung bietet die Staatsregierung Lehrern/ Lehrerinnen und betroffenen Eltern bzw. Schülern? 4. Hat die Staatsregierung Kenntnis von Handlungsanweisungen in anderen Bundesländern in diesem Zusammenhang ? Antwort des Staatsministeriums für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst vom 05.05.2014 1. Hat die Staatsregierung Kenntnis, wieso das Rechtsschutzreferat Grundschullehrer(inne)n untersagt hat, Schüler/-innen bei der Kontrolle ihres Blutzuckers zu unterstützen? a) Wie beurteilt die Staatsregierung diese Anweisung? b) Welche Probleme sieht die Staatsregierung in die- sem Zusammenhang? Das Bayerische Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst hat Lehrkräften an Grundschulen nicht untersagt, Schülerinnen und Schüler bei der Kontrolle ihres Blutzuckers zu unterstützen. Das Staatsministerium hat die Schulen in den Jahren 2005 und 2007 über die Grundsätze der Verabreichung von Medikamenten durch Lehrkräfte informiert. Danach gilt, dass subkutane Injektionen, wie z. B. Insulinspritzen, durch die Schülerin / den Schüler selbst oder durch Pflegekräfte ausgeführt werden. Lehrkräfte, die über keine besondere heilpflegerische Ausbildung verfügen (Erste-Hilfe-Kurs ist nicht genügend), sollten keine subkutanen Injektionen geben ; dies gilt auch für vordosierte Insulinspritzen. Aber auch für die insoweit „qualifizierten“ Lehrkräfte besteht keine Verpflichtung , regelmäßige Injektionen dieser Art vorzunehmen oder den Blutzuckerspiegel zu messen. Das Staatsministerium äußert sich bei entsprechenden Anfragen auch regelmäßig dahingehend, dass eine Vergabe von Medikamenten durch Lehrkräfte grundsätzlich nicht vorgesehen ist. Von Lehrkräften werden daher in der Regel keine Medikamente, auch nicht Kopfschmerztabletten oder vergleichbare Mittel, an die Schülerinnen oder Schüler ausgegeben oder sonstige medizinische Hilfsmaßnahmen vorgenommen . Ein Anspruch auf die Durchführung medizinischer Hilfsmaßnahmen durch Lehrkräfte besteht auch nicht (vgl. Verwaltungsgerichtshof Kassel, Urteil vom 18.05.2010 – Az. 7 B 257/10). Lehrkräfte sind zwar insbesondere in Notfällen verpflichtet , übliche Erste-Hilfe-Maßnahmen durchzuführen (z. B. den Schüler in die stabile Seitenlage bringen). Grundsätzlich kann aber nicht verlangt werden, dass Lehrkräfte als medizinische Laien die Verantwortung für die Entscheidung und die Durchführung einer Medikamentengabe übernehmen. Dies ist Aufgabe eines Notarztes oder der – im Rahmen ihrer Ausbildung – gegebenenfalls an der Schule vorhandenen Pflegekräfte . Auch werden Schülerinnen und Schüler, welche regelmäßig medizinisch versorgt werden müssen, vielfach von Schulbegleitern bzw. Integrationshelfern betreut, welche für diese Maßnahmen entsprechend qualifiziert sind. Das Staatsministerium hat Verständnis für die Forderung, dass Schülerinnen und Schüler im Grundschulalter mit Diabetes bei der Blutzuckermessung und der Insulinabgabe auch durch Lehrkräfte unterstützt werden können. Aus Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de –Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de – Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 13.06.2014 17/1889 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/1889 Gründen der Fürsorge für die beim Freistaat Bayern beamteten oder angestellten Lehrkräfte kann die gewünschte Unterstützung aber derzeit nur auf freiwilliger Basis mit Einverständnis der jeweiligen Lehrkraft gewährt werden. Denn aufgrund einer Stellungnahme der Kommunalen Unfallversicherung Bayern (KUVB) mit Schreiben vom 04.07.2012 bestehen derzeit ganz erhebliche Haftungsrisiken für Lehrkräfte , wenn sie medizinische Hilfsmaßnahmen durchführen oder die Verantwortung für die Einnahme und Dosierung von Medikamenten durch die Schülerin oder den Schüler selbst übernehmen: Nach o. g. Mitteilung der KUVB vom 04.07.2012 liegt der Schwerpunkt der Problematik in der Frage nach dem Bestehen bzw. der Reichweite des Versicherungsschutzes für die Schülerinnen und Schüler. Gesetzlicher Anknüpfungspunkt für das Bestehen des Versicherungsschutzes sei die Regelung des § 2 Abs. 1 Nr. 8 b SGB VII. Danach seien Schülerinnen und Schüler „während des Besuchs“ von allgemein- oder berufsbildenden Schulen kraft Gesetzes versichert. Eventuell geschädigte Schülerinnen und Schüler hätten gegenüber dem Freistaat Bayern (Letzterer haftet aufgrund der Haftungsüberleitung des Art. 34 GG in Verbindung mit § 839 BGB) nur dann zivilrechtliche Ansprüche, wenn die Schädigung auf einer vorsätzlichen Handlung beruht (Haftungsprivilegierung der §§ 104 ff. SGB VII). Infolgedessen seien sowohl die Lehrkräfte als auch der Freistaat Bayern weitestgehend vor zivilrechtlichen Haftungsansprüchen geschützt. Das versicherte Schulkind verlöre infolgedessen seine zivilrechtlichen Ansprüche. Dafür bestehe jedoch der inhaltlich gegenüber dem Zivilrecht wesentlich umfangreichere und eben auch von Amts wegen zu gewährende öffentlich-rechtliche Leistungsanspruch des Schulkindes gegenüber dem Unfallversicherungsträger. Im Ergebnis bestünde also grundsätzlich Versicherungsschutz , wenn sich die Schüler im sog. organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule bewegen. Dies gelte aber nur für diejenigen Verrichtungen, die mit der versicherten Tätigkeit – hier also dem Schulbesuch – in einem wesentlichen Zusammenhang stehen; demgegenüber blieben grundsätzlich solche Tätigkeiten und Verrichtungen unversichert , die dem eigenen privaten Lebensbereich zuzuordnen sind (sog. „eigenwirtschaftliche Tätigkeiten“). Geradezu klassische Beispiele einer solchen eigenwirtschaftlichen Tätigkeit seien die höchst privaten und sehr personenbezogenen Tätigkeiten der Nahrungsaufnahme, der Körperpflege oder des Toilettenbesuches. Folglich seien diese privaten Handlungen im Allgemeinen vom Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung ausgenommen. Diese Tätigkeiten seien im täglichen (Privat-)Leben ohnehin vorzunehmen und gerade nicht durch den Schulbesuch veranlasst. Danach sei auch die Arzneimitteleinnahme zunächst einmal eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit, weil sie offensichtlich sehr personenbezogen und – abgestimmt auf das jeweilige Krankheitsbild und die Medikamentenabstimmung – in hohem Maße individualisiert ist. Eigenwirtschaftliche Tätigkeiten sind weder vom Versicherungsschutz der Unfallversicherung noch von der beschriebenen Haftungsprivilegierung der §§ 104 ff. SGB VII erfasst. Dies bedeutet , dass die Lehrkraft entweder direkt zivilrechtlich in Anspruch genommen werden könnte oder gemäß den allgemeinen Grundsätzen der Amtshaftung gem. Art. 34 GG in Verbindung mit § 839 BGB der durch die Haftungsüberleitung haftende Freistaat Bayern bei einem grob fahrlässigen Handeln der Lehrkraft bei ihr Regress nehmen kann. Ein ganz erhebliches Haftungsrisiko für die Lehrkraft liegt daher vor. Nach o. g. Auskunft der KUVB ist – im Gegensatz zum Bereich der Kindestagesstätten – vonseiten des gemeinsamen Spitzenverbands Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V. (DGUV) nach wie vor nicht vollständig geklärt, ob bei Schülerinnen und Schülern im Grundschulalter generell von einer nicht eigenwirtschaftlichen und im wesentlichen Zusammenhang mit dem Schulbetrieb stehenden Tätigkeit auszugehen ist, weil wegen der im schulischen Bereich bestehenden Betreuungs- und Aufsichtspflicht möglicherweise eine für sich genommen eigenwirtschaftliche Tätigkeit diesen Charakter verliert und als eine mit dem Schulbesuch in einem wesentlichen Zusammenhang stehende Verrichtung unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht. Mit E-Mail vom 15.04.2014 hat die KUVB dem Staatsministerium mitgeteilt, dass der Spitzenverband DGUV sich zur o. g. Problematik des gesetzlichen Versicherungsschutzes der Durchführung medizinischer Hilfsmaßnahmen durch Lehrkräfte noch immer nicht geäußert habe, die KUVB aber nicht länger zuwarten wolle und die Frage künftig rechtlich nicht anders bewerten würde als in der KITA bzw. Kindergarten. Diese erstmals mit o. g. E-Mail mitgeteilte Einschätzung der KUVB wirft eine Reihe von Abgrenzungs- und Detailfragen auf. Die Kriterien, nach welchen gesetzlicher Unfallversicherungsschutz besteht, bedürfen daher noch einer umfassenden Erörterung mit der KUVB. Denn solange nicht eindeutig geklärt ist, unter welchen Voraussetzungen Schülerinnen und Schüler einen öffentlich-rechtlichen Leistungsanspruch gegenüber dem Unfallversicherungsträger aus § 2 Abs. 1 Nr. 8 b SGB VII haben, besteht im Einzelfall immer noch das bereits aufgezeigte ganz erhebliche Haftungsrisiko für Lehrkräfte. Die Medikamentengabe und die Durchführung anderer medizinischer Hilfsmaßnahmen durch dafür nicht ausgebildete Personen sind für diese zudem mit einem erheblichen Risiko strafrechtlicher Ahndung verbunden, insbesondere bei einer nicht den Regeln ärztlicher Kunst entsprechender Durchführung. Aufgrund der dargelegten Unsicherheiten gelten die vorstehenden Grundsätze für die Medikation durch Lehrkräfte und die Vornahme weiterer medizinischer Hilfsmaßnahmen auch bei Schülerinnen und Schülern im Grundschulalter unverändert fort. Eine Verpflichtung der Lehrkräfte zur Verabreichung von Medikamenten und zur Vornahme von medizinischen Hilfsmaßnahmen überschritte zudem das arbeitsrechtliche Direktions - und das beamtenrechtliche Weisungsrecht. 2. Wie viele Schüler/-innen sind von dieser Anweisung betroffen? Wie bereits in der Antwort zu Frage 1 erläutert, gibt es keine Anweisung, die es Grundschullehrern und Grundschullehrerinnen untersagt, Schüler und Schülerinnen bei der Kontrolle ihrer Blutzuckerwerte zu unterstützen. Die Zahl der von Diabetes mellitus betroffenen Schülerinnen und Schüler im Grundschulalter ist der Staatsregierung nicht bekannt, da sie auf Grundlage der geltenden Bestimmungen zur Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Daten an Schulen nicht erhoben werden darf. 3. Was will die Staatsregierung unternehmen, um Kindern mit Diabetes eine problemlose Teilhabe am Schulalltag zu ermöglichen? Drucksache 17/1889 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 a) Wie kann die Problematik kurzfristig und langfristig gelöst werden? b) Welche Hilfestellung bietet die Staatsregierung Lehrer(inne)n und betroffenen Eltern und Schülern? Das Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst ist regelmäßig im Kontakt mit der KUVB und mahnt die Klärung von Zweifelsfragen des gesetzlichen Unfallversicherungsschutzes an, damit Lehrerinnen und Lehrer, welche auf freiwilliger Basis ihre Unterstützung anbieten , möglichst umfassend vor Haftungsrisiken geschützt sind (s. auch die Antwort zu Frage 1). Sollte die KUVB die Medikation von Schülerinnen und Schülern und die Vornahme weiterer medizinischer Hilfsmaßnahmen durch Lehrkräfte grundsätzlich als vom Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung und damit auch von der Haftungsprivilegierung der §§ 104 ff. SGB VII erfasst ansehen, sodass das Haftungsrisiko der Lehrkräfte erheblich beschränkt ist, wird das Staatsministerium die o. g. Grundsätze überdenken. Aber auch für diesen Fall ist festzuhalten, dass keine Lehrkraft verpflichtet werden kann, entsprechende Maßnahmen vorzunehmen. 4. Hat die Staatsregierung Kenntnis von Handlungsanweisungen in anderen Bundesländern in diesem Zusammenhang? Hinreichende Erkenntnisse über die Vorschriften und die tatsächliche Handhabung der Medikamentengabe und Durchführung medizinischer Hilfsmaßnahmen an Schulen anderer Länder und die diesen zugrunde liegenden rechtlichen Erwägungen liegen der Staatsregierung nicht vor.