Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Markus Rinderspacher SPD vom 08.01.2018 Suizide in bayerischen Justizvollzugsanstalten Ich frage die Staatsregierung: 1. Wie viele Suizide gab es in den bayerischen Justizvollzugsanstalten seit 2013 (bitte nach Jahren, im Gesamten, nach JVA, Untersuchungshaft, Haftdauer, Lebensalter aufschlüsseln)? 2. Wie werden die Suizide untersucht? 3. Welche Gründe wurden für die Suizide ermittelt? 4. Welche Suizidmethoden sind vorherrrschend? 5. a) Welche Präventionsmaßnahmen gibt es in bayerischen Justizvollzugsanstalten? b) Hält die Staatsregierung die Prävention für ausreichend ? 6. a) Wie wird eine Suizidgefahr ermittelt? b) Welche psychologische Hilfe wird Häftlingen angeboten ? 7. Wieso wird in Bayern keine Statistik über die Suizidversuche in bayerischen Justizvollzugsanstalten geführt , anders als in anderen Bundesländern? Antwort des Staatsministeriums der Justiz vom 03.02.2018 1. Wie viele Suizide gab es in den bayerischen Justizvollzugsanstalten seit 2013 (bitte nach Jahren, im Gesamten, nach JVA, Untersuchungshaft, Haftdauer , Lebensalter aufschlüsseln)? Der bayerische Justizvollzug unternimmt alles Vertretbare, um die Zahl der Todesfälle in den Justizvollzugsanstalten so gering wie möglich zu halten, auch wenn sich solche Ereignisse – ebenso wie in Freiheit – nie gänzlich ausschließen lassen. Dies umfasst neben der Sicherstellung einer adäquaten medizinischen Versorgung der Gefangenen insbesondere umfangreiche Maßnahmen im Bereich der Suizidprävention . Insofern darf auf die Antwort zur Frage 5 a Bezug genommen werden. Die Zahl der Suizide im bayerischen Justizvollzug unterliegt nicht unerheblichen jährlichen Schwankungen, wobei festgehalten werden kann, dass im langjährigen Mittel die Zahl der Selbsttötungen seit 1991 tendenziell rückläufig ist. Seit 2013 gab es (Stand 20.01.2018) in den bayerischen Justizvollzugsanstalten insgesamt 56 Fälle. Im Einzelnen: Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de – Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de–Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 05.04.2018 Drucksache 17/20623 Bayerischer Landtag Todesdatum: Justizvollzugsanstalt: Eintrittsdatum: voraussichtliches Strafende: 21.04.2013 München 08.10.2012 Untersuchungshaft 10.07.2013 Straubing 19.01.2007 lebenslange Freiheitsstrafe 27.07.2013 München 16.04.2013 09.10.2013 27.10.2013 München 30.06.2013 Untersuchungshaft 30.10.2013 Würzburg 24.10.2013 Untersuchungshaft 22.12.2013 München 23.10.2013 Untersuchungshaft 10.01.2014 Garmisch-Partenkirchen 06.09.2013 05.03.2014 15.02.2014 Kronach 25.08.2013 Untersuchungshaft 24./25.04.2014 Nürnberg 12.10.2013 Untersuchungshaft 08.05.2014 Kempten 16.01.2014 14.09.2014 28.05.2014 Regensburg 25.05.2014 Untersuchungshaft Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/20623 18.06.2014 Ansbach 07.04.2014 Untersuchungshaft 13./14.07.2014 Bayreuth 04.01.2011 09.01.2020 10.09.2014 Passau 08.11.2013 28.01.2019 24.09.2014 Traunstein 20.09.2014 Untersuchungshaft 25.12.2014 München 18.12.2014 Untersuchungshaft 22.01.2015 Straubing 09.12.2004 07.06.2017 18.02.2015 Passau 09.02.2015 Untersuchungshaft 22.02.2015 München 24.01.2015 Untersuchungshaft 20.03.2015 Traunstein 19.03.2015 Untersuchungshaft 14.04.2015 Straubing 31.12.2014 Untersuchungshaft 21.06.2015 München 01.08.2014 30.10.2015 02.07.2015 Hof 27.12.2014 25.06.2016 11.08.2015 Memmingen 08.08.2015 Untersuchungshaft 18.08.2015 Landsberg a. Lech 03.11.2014 05.06.2017 18.11.2015 Hof 16.10.2015 Untersuchungshaft 19.11.2015 Nürnberg 10.08.2015 Untersuchungshaft 20.11.2015 Kronach 07.07.2015 Untersuchungshaft 26.11.2015 Würzburg 25.08.2015 23.04.2016 16.01.2016 Aichach 17.12.2014 13.06.2018 07.04.2016 Bayreuth 23.09.2014 22.09.2023 22.05.2016 Weiden i. d. OPf. 21.04.2016 Untersuchungshaft 15.07.2016 Landsberg a. Lech 15.05.2015 02.10.2017 30.07.2016 Straubing 24.09.2014 06.08.2016 04.08.2016 Würzburg 17.04.2016 Untersuchungshaft 02.09.2016 Kronach 07.07.2015 04.10.2017 15.10.2016 Bayreuth 14.10.2016 Untersuchungshaft 10./11.11.2016 Würzburg 07.05.2016 Untersuchungshaft 17.11.2016 Augsburg-Gablingen 13.11.2015 20.07.2017 22.11.2016 Amberg 16.09.2016 Untersuchungshaft 23.11.2016 Kempten 22.02.2016 Untersuchungshaft 11.01.2017 Würzburg 21.12.2016 Untersuchungshaft 03.03.2017 Passau 24.02.2017 Untersuchungshaft 11.03.2017 München 04.03.2017 Untersuchungshaft 08.05.2017 Landshut 13.01.2017 Untersuchungshaft 15.05.2017 Nürnberg 01.11.2016 02.03.2019 Drucksache 17/20623 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 09.06.2017 Erding 18.04.2017 Untersuchungshaft 28.06.2017 München 27.04.2017 Abschiebungshaft 16.07.2017 Kaisheim 26.11.2015 24.09.2019 29.07.2017 Bernau 03.04.2016 02.01.2018 25.09.2017 Landsberg a. Lech 01.04.2017 01.10.2017 03.11.2017 Nürnberg 12.10.2017 Untersuchungshaft 05.11.2017 Straubing 14.05.2016 09.04.2018 10.11.2017 München 24.10.2017 Untersuchungshaft 27.12.2017 Augsburg-Gablingen 22.04.2017 Untersuchungshaft 04.01.2018 Nürnberg 12.05.2017 Untersuchungshaft 2. Wie werden die Suizide untersucht? Zur Sicherstellung einer umfassenden und transparenten Aufklärung jedes einzelnen Todesfalls in Justizvollzugsanstalten erfolgt eine frühzeitige Einbeziehung von parlamentarischen Anstaltsbeiräten, Polizei, Staatsanwaltschaft und Aufsichtsbehörde. Gemäß Ziffer 1 Abs. 1 und 2 sowie Ziffer 2 der Verwaltungsvorschrift zu Art. 68 des Bayerischen Strafvollzugsgesetzes (BayStVollzG) hat die betroffene Justizvollzugsanstalt im Falle des Todes eines Gefangenen dementsprechend umfangreiche Informations-, Dokumentations - und Berichtspflichten zu erfüllen. Regelmäßig prüft die zuständige Staatsanwaltschaft im Rahmen eines Todesermittlungsverfahrens, ob es Anzeichen für ein Fremdverschulden gibt und weitere Ermittlungen erforderlich sind. Zu diesem Zweck ist gemäß Nr. 33 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren bei Sterbefällen von Personen, die sich in Haft oder sonst in amtlicher Verwahrung befunden haben – und damit bei sämtlichen Sterbefällen in Justizvollzugsanstalten – grundsätzlich durch die Staatsanwaltschaft die Leichenöffnung zu veranlassen. Daneben erfolgt in der Justizvollzugsanstalt eine intensive Aufarbeitung des Suizides; gerade auch um Optimierungspotenzial für die Zukunft zu identifizieren. Seit Juli 2017 werden unter wissenschaftlicher Begleitung durch den Kriminologischen Dienst des bayerischen Justizvollzugs bei vollendeten Selbsttötungen regelmäßig sog. Suizidkonferenzen in den Justizvollzugsanstalten durchgeführt. Im Rahmen der Konferenz sollen die Umstände eines Suizids möglichst in ihrer Gesamtheit unter Einbeziehung aller relevanten Beteiligten erörtert werden. Als Ergebnis ist ein Erkenntnisgewinn dahin gehend anzustreben, ob und gegebenenfalls wie eine Verbesserung der Suizidprävention beziehungsweise der Abläufe in der Anstalt erreicht werden kann. Der bayerische Justizvollzug unterstützt zudem eine wissenschaftliche Untersuchung der Suizide in allen deutschen Haftanstalten durch das Bildungsinstitut des niedersächsischen Justizvollzuges. Ziel der seit dem Jahr 2000 laufenden Studie ist es, einerseits Erkenntnisse über die Ursachen von Suiziden in Haftanstalten zu erlangen und andererseits mit diesem Wissen die Grundlage für präventives Arbeiten zu schaffen. 3. Welche Gründe wurden für die Suizide ermittelt? Im Rahmen der Aufarbeitung einer Selbsttötung versuchen die Anstalten stets, die hinter einem Suizid stehenden Beweggründe zu ermitteln. Diese sind oftmals vielschichtig, vom individuellen Einzelfall abhängig und können nicht abschließend aufgezählt werden. Nicht selten können jedoch, wenn z. B. Erkenntnisquellen wie ein Abschiedsbrief nicht vorhanden sind, keine belastbaren Feststellungen zu den Motiven getroffen werden. 4. Welche Suizidmethoden sind vorherrrschend? In der weit überwiegenden Zahl der Fälle wird der Tod bei Suiziden in den Justizvollzugsanstalten durch Erhängen herbeigeführt. So kam diese Methode im Jahr 2017 bei allen vollendeten Selbsttötungen von Gefangenen zur Anwendung . 5. a) Welche Präventionsmaßnahmen gibt es bayerischen Justizvollzugsanstalten? Die Präventionsarbeit zum Schutz des Lebens hat in bayerischen Justizvollzugsanstalten seit jeher einen enorm hohen Stellenwert. Dem bayerischen Justizvollzug ist nicht nur eine konsequente Aufklärung von Todesfällen außerordentlich wichtig. Entscheidend ist, dass diese – soweit überhaupt möglich – bereits verhindert werden. Um das Rechtsgut des Lebens bestmöglich zu schützen, werden erhebliche Anstrengungen unternommen: So wird in den Anstalten sorgfältig darauf geachtet, ob bei einem Gefangenen Anzeichen für eine etwaige Suizidgefahr zu erkennen sind, damit durch entsprechende Betreuungsoder Behandlungsangebote Selbstmordversuche schon im Ansatz verhindert werden können. Die Abklärung einer Suizidgefahr ist z. B. Gegenstand des mit den Gefangenen geführten Zugangsgesprächs und der ärztlichen Untersuchung nach der Aufnahme. Zudem ist jeder Bedienstete, der eine Gefahr für die gesundheitlichen Verhältnisse zu erkennen glaubt, verpflichtet, dies unverzüglich zu melden. Um die Vollzugsbediensteten dafür zu sensibilisieren, Anzeichen für Suizidgedanken bei Gefangenen zu erkennen, ist das Thema Suizidprophylaxe immer wieder Gegenstand der Aus- und Fortbildung der Justizvollzugsbediensteten. Ferner wurde in allen Justizvollzugsanstalten ein „Beauftragter für die Suizidprophylaxe“ benannt. Seite 4 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/20623 Speziell in sich krisenhaft zuspitzenden Situationen erfahren die Gefangenen eine psychologische oder psychiatrische Betreuung durch die Fachdienste der Anstalten oder durch externe Psychologen und Psychiater. Ist eine stationäre psychiatrische oder neurologische Behandlung erforderlich, werden die Inhaftierten gegebenenfalls für die Dauer der Behandlungsbedürftigkeit in die psychiatrischen Abteilungen der Justizvollzugsanstalten Straubing oder Würzburg beziehungsweise in das zuständige Bezirkskrankenhaus überstellt. Mittelfristig ist die Einrichtung einer dritten psychiatrischen Abteilung beabsichtigt. Daneben kommt auch die Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der Gefangenen in Betracht. Die Maßnahmen werden dabei jeweils auf den Einzelfall abgestimmt und können beispielsweise eine gemeinschaftliche Unterbringung mit besonders zuverlässigen Mitgefangenen, eine verstärkte Aufsicht durch Bedienstete, eine Unterbringung in einem Raum mit Videoüberwachung oder eine Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände bedeuten. Die Konzepte und Maßnahmen zur Suizidprävention werden aufgrund gewonnener Erfahrungen, Anregungen aus der vollzuglichen Praxis und neuer Erkenntnisse ständig überprüft und gegebenenfalls fortentwickelt. Ein Beispiel hierfür ist das 2013 mit dem Suizidpräventionspreis der Bundesarbeitsgruppe „Suizidprävention im Justizvollzug“ ausgezeichnete „Listener-Projekt“ in der Justizvollzugsanstalt München, welches inzwischen auf weitere Anstalten ausgeweitet werden konnte. Im Rahmen des „Listener- Projekts“ besteht die Möglichkeit, einem als latent suizidgefährdet eingestuften Neuzugang einen besonders geschulten Mitgefangenen als sog. Listener – als Zuhörer und Ansprechpartner – für die erste Nacht zuzuteilen, um die akute Belastungssituation zu entschärfen. Die Listener werden im Rahmen von Schulungen in den Grundprinzipien der Krisenintervention auf ihre Tätigkeit vorbereitet und in regelmäßigen Gesprächen sowie in Einzel- und Gruppenbetreuung bei ihrer Aufgabe unterstützt. Auch wurden im März 2017 gemeinsam mit dem Amt für Maßregelvollzug Handlungsempfehlungen entwickelt, um die Zusammenarbeit zwischen den Justizvollzugsanstalten und den Einrichtungen des Maßregelvollzugs bei der Behandlung von Gefangenen zu erleichtern. Angesichts des seit 2015 deutlich steigenden Ausländeranteils in den Anstalten wurden und werden zudem umfassende Maßnahmen (z. B. Einführung von Videodolmetschsystemen , verstärktes Angebot von Deutsch- und Integrationskursen für Gefangene) ergriffen, um die Verständigungsmöglichkeiten mit den Inhaftierten zu verbessern, die der deutschen Sprache nicht oder nur rudimentär mächtig sind. Verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten helfen, eine Suizidgefahr möglichst frühzeitig zu erkennen, und können gerade auch in Krisensituationen nützlich sein, um deeskalierend auf einen Betroffenen einwirken zu können. b) Hält die Staatsregierung die Prävention für ausreichend ? Ja. Das Suizidpräventionskonzept des bayerischen Justizvollzugs wird zudem, wie bei Frage 5 a dargestellt, laufend im Hinblick auf Aktualität beziehungsweise Optimierungsmöglichkeiten überprüft. 6. a) Wie wird eine Suizidgefahr ermittelt? Es ist eine wichtige Daueraufgabe aller mit den Gefangenen befassten Bediensteten im Justizvollzug, von der Aufnahme bis zur Entlassung auf Signale zu achten, die auf eine Suizidgefahr bei Inhaftierten hindeuten. Insofern darf auf die Ausführungen zur Suizidprävention bei Frage 5 a Bezug genommen werden. Eine solche Gefahr kann sich aber auch aus Tatsachen ergeben, die im Rahmen des Datenaustausches zwischen Justizvollzugsanstalten, Gerichten, Behörden sowie sonstigen Dritten bekannt werden. Durch entsprechende Vorkehrungen (Formblätter etc.) wird sichergestellt, dass dieser Datenaustausch möglichst schnell und reibungslos funktioniert . b) Welche psychologische Hilfe wird Häftlingen angeboten ? Die Gefangenen erhalten, falls erforderlich, eine den individuellen Bedürfnissen genügende psychologische Betreuung . Zu diesem Zweck sieht der Haushaltsplan für den Justizvollzug insgesamt 118 Planstellen für Psychologen vor. Die Zahl der verfügbaren Planstellen wurde in den vergangenen Jahren in erheblichem Umfang erweitert. Zuletzt hat der Landtag mit dem Nachtragshaushaltsgesetz 2016 u. a. die Ausbringung von zusätzlichen zehn Planstellen für Psychologen in den bayerischen Justizvollzugsanstalten beschlossen . 7. Wieso wird in Bayern keine Statistik über die Suizidversuche in bayerischen Justizvollzugsanstalten geführt, anders als in anderen Bundesländern? Suizidversuche werden statistisch nicht erfasst, da oftmals nicht verifizierbar ist, ob selbstschädigende Handlungen tatsächlich in ernsthafter suizidaler Absicht erfolgten oder aus anderen Motiven, beispielsweise um Forderungen Nachdruck zu verleihen. Teilweise können die Selbstschädigungen auch Ausfluss einer psychischen Erkrankung (zum Beispiel einer Borderline-Persönlichkeitsstörung) sein, ohne dass eine Selbsttötungsabsicht vorliegt. Unabhängig von der Frage der statistischen Erfassung erfahren die betroffenen Gefangenen aber selbstverständlich die im Einzelfall adäquate Behandlung beziehungsweise Betreuung.