Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Eva Gottstein FREIE WÄHLER vom 02.02.2018 Reichsbürger – Konkretisierungsmerkmale und Verhaltensmuster Ich frage die Staatsregierung: 1.1 Ab wann wird eine Person von staatlichen Behörden als „Reichsbürger“ geführt? 1.2 Welche Maßnahmen ergreifen staatliche Behörden, wenn ein Bürger als „Reichsbürger“ eingestuft wird? 2. Erfasst der Straftatenkatalog des Strafgesetzbuches die Aktivitäten der „Reichsbürger“ ausreichend? 3.1 Sind bestimmte Straftaten in der Szene der „Reichsbürger “ gehäuft zu verzeichnen? 3.2 Wenn ja, welche Straftaten sind das? 3.3 Sind diese unmittelbar auf die für „Reichsbürger“ spezifische Haltungen und Handlungen zurückzuführen? 4.1 Werden staatliche Behörden für das Thema „Reichsbürger “ sensiblisiert? 4.2 Gibt es besondere Handlungsempfehlungen bei den staatlichen Behörden im Umgang mit „Reichsbürgern “? 4.3 Sind die staatlichen Behörden angehalten, Auffälligkeiten zu melden, die den Verdacht begründen könnten, dass es sich um „Reichsbürger“ handelt, wie z. B. die anlasslose Rückgabe des Personalausweises bei der Behörde? Antwort des Staatsministeriums des Innern und für Integration im Einvernehmen mit dem Staatsministerium der Justiz vom 05.04.2018 1.1 Ab wann wird eine Person von staatlichen Behörden als „Reichsbürger“ geführt? Die Polizei- und Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder haben nachfolgende bundesweit einheitliche Definition ausgearbeitet: „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sind Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen – unter anderem unter Berufung auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder ein selbst definiertes Naturrecht – die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen, den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen oder sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren und deshalb die Besorgnis besteht, dass sie Verstöße gegen die Rechtsordnung begehen. Auf dieser Basis werden bei den Zentralstellen der Polizeipräsidien der Bayerischen Polizei Erkenntnisse über Personen, die möglicherweise der sog. Reichsbürger/ Selbstverwalter-Szene zuzurechnen sind, gesammelt und einem Bewertungsprozess unterzogen. Die Einstufung einer Person als sog. Reichsbürger/Selbstverwalter erfolgt dabei nach sorgfältiger Prüfung und Bewertung aller vorliegenden Erkenntnisse, aus denen eine die Existenz der Bundesrepublik Deutschland bzw. die Gültigkeit ihrer Rechtsordnung ablehnende Haltung erkennbar sein muss. Einzelne Handlungen wie z. B. die Ablehnung eines Bußgeldbescheides mit dem Hinweis auf die Nichtexistenz der Bundesrepublik Deutschland oder die Beantragung eines Staatsangehörigkeitsausweises unter Berufung auf das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStAG) in der Fassung von 1913 oder einer behaupteten Staatsangehörigkeit „Königreich Bayern“, können dabei als – mitunter auch starkes – Indiz für die Zugehörigkeit zur sog. Reichsbürger/Selbstverwalter -Szene gewertet werden. So hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 15.01.2018 betont (Az.: 21 CS 17.1519 – Rn. 19): „Denn wer gegenüber einer Behörde dem Gedankengut der sog. ‚Reichsbürger‘ entlehnte Äußerungen in der ‚reichsbürgertypischen Weise‘ (z. B. Unterschriftenzusätze, Datumsangabe ) trifft und entsprechende Verhaltensweisen zeigt (Rückgabe des Personalausweises), geht davon aus und beabsichtigt gerade, seine ablehnende Haltung gegenüber der Rechtsordnung sozusagen amtlich und ernsthaft einer Behörde gegenüber kund zu tun.“ Selbstverständlich erfolgt aufgrund des Rechtsstaatlichkeitsprinzips stets eine Einzelfallprüfung unter Beachtung der konkret vorliegenden Umstände und Fakten. Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de–Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de–Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 20.08.2018 Drucksache 17/21694 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/21694 1.2 Welche Maßnahmen ergreifen staatliche Behörden, wenn ein Bürger als „Reichsbürger“ eingestuft wird? Die Einstufung einer Person als sog. Reichsbürger/Selbstverwalter hat (neben eventuellen Maßnahmen im Rahmen des bei der Antwort zu Frage 1.1 genannten Bewertungsprozesses ) zur Folge, dass personenbezogene Daten zu dieser Person im Rahmen gesetzlicher Vorgaben in polizeilichen Systemen gespeichert und das Datum „Reichsbürger/ Selbstverwalter“ zugeordnet wird. Dadurch wird gewährleistet , dass bei verwaltungsbehördlichen Zuverlässigkeitsüberprüfungen , bei denen eine Einbindung der Polizei vorgeschrieben ist, z. B. bei Beantragung einer waffenrechtlichen Erlaubnis oder der vorgeschriebenen regelmäßigen Zuverlässigkeitsüberprüfung bei Besitz einer waffenrechtlichen Erlaubnis, den jeweils zuständigen Sicherheitsbehörden die Zugehörigkeit der Person zur sog. Reichsbürger-/Selbstverwalter -Szene bekannt wird. Inwieweit in der Folge eine entsprechende Zuverlässigkeit verneint (und gegebenenfalls der Antrag abgelehnt bzw. eine bereits vorhandene Erlaubnis widerrufen) wird, ist stets eine Frage des Einzelfalles und obliegt der zuständigen Sicherheits- oder Erlaubnisbehörde. Grundsätzlich gilt, wie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 12.12.2017 klargestellt hat (Az.: 21 CS 17.1332 – Rn. 13): „Wer der Ideologie der Reichsbürgerbewegung folgend die Existenz und Legitimation der Bundesrepublik Deutschland negiert und die auf dem Grundgesetz fußende Rechtsordnung generell nicht als für sich verbindlich anerkennt, gibt Anlass zu der Befürchtung, dass er auch die Regelungen des Waffengesetzes und des Sprengstoffgesetzes nicht strikt befolgen wird.“ Darüber hinaus kann vor dem Hintergrund der grundgesetzlich verankerten Schutzpflicht des Staates und des öffentlichen Interesses an der Gefahrenabwehr im Einzelfall – außerhalb der Zuverlässigkeitsüberprüfungen – durch die Polizei auf Grundlage bestehender polizeilicher Befugnisse eine Informationsweitergabe an Sicherheitsbehörden erfolgen , sofern dies zur Erfüllung polizeilicher Aufgaben oder zur Erfüllung der Aufgaben der jeweiligen Sicherheitsbehörde erforderlich ist. Seit dem 26.10.2016 steht die gesamte Reichsbürgerszene unter Beobachtung des Landesamtes für Verfassungsschutz . 2. Erfasst der Straftatenkatalog des Strafgesetzbuches die Aktivitäten der „Reichsbürger“ ausreichend ? Das Strafgesetzbuch (StGB) in seiner derzeit geltenden Fassung erfasst alle für momentan als strafwürdig erachtete Handlungen grundsätzlich ohne Ansehen der Person des Täters. Damit werden auch die Aktivitäten von sog. Reichsbürgern /Selbstverwaltern im Allgemeinen ausreichend erfasst . Sofern sich herausstellt, dass bestimmte typische Handlungen von sog. Reichsbürgern/Selbstverwaltern nicht ausreichend strafrechtlich sanktioniert werden können, obwohl es aus Gründen des Rechtsgüterschutzes und der Gewährleistung von Frieden und Sicherheit in der Gesellschaft erforderlich wäre, werden gegebenenfalls punktuelle Anpassungen des materiellen Strafrechts erwogen. Besonders in Erscheinung getreten sind sog. Reichsbürger /Selbstverwalter, indem sie als Zuhörer, Prozessbeobachter oder Verfahrensbeteiligte mithilfe von unauffälligen technischen Geräten heimlich Bild- und/oder Tonaufnahmen fertigten und anschließend im Internet verbreiteten. De lege lata besteht keine umfassende Strafbarkeit von Bild- und/ oder Tonaufnahmen im Rahmen von Gerichtsverhandlungen . Eine eigenständige strafrechtliche Regelung könnte diese Lücken wirksam schließen. Einen entsprechenden Gesetzesantrag hat Bayern am 29.03.2017 in den Bundesrat (BR-Drs. 254/17) eingebracht, der dort jedoch keine Mehrheit gefunden hat. 3.1 Sind bestimmte Straftaten in der Szene der „Reichsbürger“ gehäuft zu verzeichnen? 3.2 Wenn ja, welche Straftaten sind das? 3.3 Sind diese unmittelbar auf die für „Reichsbürger“ spezifische Haltungen und Handlungen zurückzuführen ? Straftaten von sog. Reichsbürgern/Selbstverwaltern werden nur im Bereich der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) und erst seit dem 01.01.2017 explizit ausgewiesen; hierfür existiert im Rahmen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes in Fällen Politisch motivierter Kriminalität (KPMD-PMK) das Themenfeld „Reichsbürger/Selbstverwalter“. Für das Tatjahr 2017 wurden nach Auskunft des Landeskriminalamtes im KPMD-PMK 358 Straftaten in diesem Themenfeld recherchiert. Bei einem Großteil handelt es sich um Nötigungen (§ 240 StGB) mit 114 Delikten, Erpressungen (§ 253 StGB) mit 57 Delikten, Volksverhetzungen (§ 130 StGB) mit 52 Delikten sowie Beleidigungen (§ 185 StGB) mit 47 Delikten. Nachdem sog. Reichsbürger/Selbstverwalter die Existenz und die Legitimation der Bundesrepublik Deutschland ablehnen und die auf dem Grundgesetz fußende Rechtsordnung generell nicht als verbindlich anerkennen (vgl. hierzu schon die Antwort zu Frage 1.1), überziehen sie regelmäßig Behörden mit zahlreichen Schreiben, in denen unberechtigte Forderungen gegen den Staat erhoben oder Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes erpresst, bedroht und belei digt werden. Insofern ist zu konstatieren, dass die eingangs genannten Delikte zumindest teilweise durchaus auf die spezifische Haltung und die ihnen typischen Aktivitäten zurückgeführt werden können. 4.1 Werden staatliche Behörden für das Thema „Reichsbürger“ sensiblisiert? 4.2 Gibt es besondere Handlungsempfehlungen bei den staatlichen Behörden im Umgang mit „Reichsbürgern “? 4.3 Sind die staatlichen Behörden angehalten, Auffälligkeiten zu melden, die den Verdacht begründen könnten, dass es sich um „Reichsbürger“ handelt, wie z. B. die anlasslose Rückgabe des Personalausweises bei der Behörde? Mit einem innenministeriellen Schreiben vom 02.11.2016 wurden alle Ressorts der Staatsregierung hinsichtlich des Phänomens der sog. Reichsbürgerszene sensibilisiert und gebeten, etwaig vorhandene Erkenntnisse, dass Personen der sog. Reichsbürgerszene zugehörig sein könnten, an die Zentralstellen der Polizeipräsidien der Bayerischen Polizei Drucksache 17/21694 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 zu melden. Diese Zentralstellen stehen den Mitarbeitern der Allgemeinen Inneren Verwaltung und der weiteren bayerischen Ressorts auch als Ansprechpartner im konkreten Einzelfall zur Verfügung. Die ursprünglich nur für den Bereich der Justiz angelegten „Hinweise zum Umgang mit schwierigen Verfahrensbeteiligten “ wurden unter der Federführung des Staatsministeriums der Justiz (StMJ) umfassend überarbeitet und sind mittlerweile ressortübergreifend angelegt. Insoweit wird ergänzend auf die Ausführungen in der Antwort zu Frage 3 der Schriftlichen Anfrage des Abgeordneten Florian Ritter vom 02.12.2016 (Drs. 17/15384) verwiesen. Die genannte Handreichung ist somit für alle Gerichte und Behörden in Bayern gleichermaßen verwendbar und alle betroffenen Stellen können mit einer gemeinsamen Strategie und nach vergleichbaren Grundsätzen gegen schwierige Verfahrensbeteiligte vorgehen. Die internen Hinweise widmen sich eingehend dem Phänomen der sog. Reichsbürger/Selbstverwalter und ihrer spezifischen Störstrategien. Sie sollen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an den Gerichten und in den Behörden für die Thematik sensibilisieren und ihnen für typische Fallkonstellationen rechtliche und praktische Hilfestellungen im Umgang mit solchen Situationen geben. Die Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus (BIGE) informiert als zentrale Präventionsstelle der Staatsregierung auch über die Erscheinungsform der sog. Reichsbürger /Selbstverwalter. Sie ist Ansprechpartner für alle Landes - und Kommunalbehörden sowie für Schulen. Allein im Jahr 2017 bestritt die BIGE bei Polizei, Justiz, Kommunen und Schulen 91 Vorträge und Veranstaltungen zum Thema Reichsbürgerbewegung. Darüber hinaus bietet die BIGE über das gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit betriebene Internetportal www.bayern-ge gen-rechtsextremismus.bayern.de allgemeine umfassende Informationen, Hinweise und Handlungsempfehlungen zum Umgang mit sog. Reichsbürgern/Selbstverwaltern an.