Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Dr. Christoph Rabenstein SPD vom 11.04.2018 Bayerisches Aussteigerprogramm für rechtsextreme Bürgerinnen und Bürger Laut einem Bericht mit der Überschrift „Nur noch wenige Rechtsextreme nutzen Aussteigerprogramm“ (https://www. zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-04/bundesamtverfassungsschutz -aussteigerprogramm-rechtsextremis mus-zahlen) melden sich kaum noch Rechtsextreme beim Bundesamt für Verfassungsschutz, um an einem Aussteigerprogramm teilnehmen zu können. Ich frage die Staatsregierung: 1. a) Wie viele Personen haben seit Beginn des Bayerischen Aussteigerprogramms den Kontakt zur Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus gesucht (bitte aufgeteilt nach Jahren seit 2001 und Geschlecht)? b) Wie viele Personen nutzten die Möglichkeit einer telefonischen Beratung bei der Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus (bitte aufgeteilt nach Jahren seit 2001 und Geschlecht)? c) Bei wie vielen Personen kam es in der Folge zu persönlichen Beratungsgesprächen bzw. zu weiteren Gesprächen (bitte aufgeteilt nach Jahren seit 2001 und Geschlecht)? 2. a) Wie viele Personen wurden seit 2001 in das Aussteigerprogramm aufgenommen (bitte aufgeteilt nach Jahren seit 2001 und Geschlecht)? b) Wie viele Personen waren sowohl bei der Erstkontaktaufnahme als auch bei der folgenden Beratung minderjährig ? c) Wie vielen Personen ist durch das Programm der Ausstieg aus der rechtsextremen Szene geglückt (bitte aufgeteilt nach Jahren seit 2001 und Geschlecht)? 3. a) Welche Erkenntnisse hat die Staatsregierung darüber, wie viele Personen, die Beratung bei der Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus gesucht haben , den Ausstieg aus der rechtsextremen Szene aber nicht geschafft haben? b) In wie vielen Fällen kam es zu einem Rückfall durch erneute Aktivitäten im rechtsextremen Spektrum bei Personen, die „erfolgreich“ das Aussteigerprogramm absolviert hatten? 4. Bei wie vielen Kontaktaufnahmen zur Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus handelte es sich um ratsuchende Verwandte oder Bekannte/Freunde eines Rechtsextremisten (bitte aufgeteilt nach Jahren seit 2001)? 5. Welche Gründe haben die Personen angeführt, warum sie aus der rechtsextremen Szene aussteigen wollen? 6. In wie vielen Fällen befanden sich ausstiegswillige Rechtsextreme, die den Kontakt zur Informationsstelle suchten, im Gefängnis? 7. a) Wie beurteilt die Staatsregierung die Arbeit von Anbietern zivilgesellschaftlicher Aussteigerprogramme, etwa EXIT? b) Steht die Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus im Austausch mit Anbietern zivilgesellschaftlicher Aussteigerprogramme? Antwort des Staatsministeriums des Innern und für Integration im Einvernehmen mit dem Staatsministerium der Justiz vom 08.05.2018 Vorbemerkung: Die in der Antwort der Staatsregierung nachfolgend genannten statistischen Daten des Bayerischen Aussteigerprogramms der Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus (BIGE) wurden wie folgt erfasst: Seit Beginn des Aussteigerprogramms im Jahr 2001 bis 2012 erfolgte die statistische Erfassung der Ausstiegsprozesse unter folgenden Rubriken: – Kontaktaufnahmen, – erfolgreiche Ausstiege, – abgebrochene Ausstiege. Eine weitere Ausdifferenzierung der Statistik, wie etwa eine geschlechtsspezifische Darstellung, wurde damals im Hinblick auf die gebotene Effizienz des Einsatzes der Ressourcen unterlassen. Im Zuge der Stärkung der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit der BIGE wurde die personelle Ausstattung des Aussteigerprogramms im Jahre 2012 ausgebaut und die statistische Erfassung (geschlechtsspezifische Darstellung) erweitert. Eine differenziertere Beantwortung zum Aussteigerprogramm ist somit erst ab dem Jahr 2012 möglich. Allerdings ist die Staatsregierung nach sorgfältiger Abwägung zu der Auffassung gelangt, dass eine geschlechtsspezifische Darstellung bei der Antwort zu den Fragen 2 a und 2 c aus Geheimhaltungsgründen in dem für die Öffentlichkeit einsehbaren Teil nicht möglich ist. Zwar ist der parlamentarische Informationsanspruch grundsätzlich auf die Beantwortung gestellter Fragen in der Öffentlichkeit angelegt. Die Einstufung eines Teils der Antworten auf die zuvor angeführten Fragen als Verschlusssache (VS) mit dem Geheimhaltungsgrad „VS – NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH“ ist aber im vorliegenden Fall erforderlich. Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter w w w . bayern . landtag . de–Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter w w w . bayern . landtag . de–Aktuelles/ Sitzungen / Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 10.09.2018 Drucksache 17/22053 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/22053 Nach § 7 Nr. 4 Verschlusssachenanweisung für die Behörden des Freistaates Bayern (VS-Anweisung/VSA) sind Informationen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nachteilig sein können, entsprechend einzustufen . Die in den Fragen 2 a und 2 c aufgeworfenen Themenkomplexe zu statistischen Daten untergliedert in Personengruppen sowie Zeiträume könnten Rückschlüsse auf die Identität einzelner Personen, die aus der rechtsextremistischen Szene ausgestiegen sind, ermöglichen, was in der gewaltbereiten rechtsextremistischen Szene mit einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben verbunden sein könnte. Gerade bei staatlichen Aussteigerprogrammen, bei denen ein stiller und kein öffentlichkeitswirksamer Ausstieg vollzogen wird, könnte eine Identifizierbarkeit der Aussteiger zu massivem Vertrauensverlust und in der Folge auch zu Akzeptanzproblemen führen. Die Antworten auf die o. a. Fragen werden deshalb gemäß § 48 VSA der VS-Registratur des Landtagsamts mit der Bitte um VSA-konformen Umgang übermittelt. 1. a) Wie viele Personen haben seit Beginn des Baye rischen Aussteigerprogramms den Kontakt zur Baye rischen Informationsstelle gegen Extremis mus gesucht (bitte aufgeteilt nach Jahren seit 2001 und Geschlecht)? Seit Beginn des Aussteigerprogramms im Jahr 2001 sind 656 Personen mit der BIGE im Rahmen des Aussteigerprogramms in Kontakt getreten. Jahr Zahl der Kontakte weiblich männlich 2001–2012 571 2013 9 1 8 2014 18 1 17 2015 21 2 19 2016 12 2 10 2017 19 1 18 2018 6 0 6 Grundsätzlich ist zur Entwicklung der Zahlen festzuhalten, dass diese in den vergangenen Jahren stark rückläufig waren . In den ersten Jahren seines Bestehens nahmen vor allem Szenemitläufer die Hilfe durch das Programm häufiger in Anspruch als in den letzten Jahren. Insbesondere die Propaganda der rechtsextremistischen Szene, wonach die Aussteigerprogramme der Verfassungsschutzbehörden verdeckte Quellenwerbungsprogramme bzw. Ausforschungsprogramme seien, erhöhte die Hemmschwelle potenzieller Ausstiegskandidaten zur eigenständigen Kontaktaufnahme. b) Wie viele Personen nutzten die Möglichkeit einer telefonischen Beratung bei der Bayerischen Infor mationsstelle gegen Extremismus (bitte aufgeteilt nach Jahren seit 2001 und Geschlecht)? Seit 2001 gingen ca. 450 Anrufe bei der BIGE ein. Jahr Zahl der Anrufe weiblich männlich 2001–2012 ca. 400 2013 6 0 6 2014 12 0 12 2015 13 1 12 2016 8 1 7 2017 10 0 10 2018 4 0 4 c) Bei wie vielen Personen kam es in der Folge zu persönlichen Beratungsgesprächen bzw. zu weite ren Gesprächen (bitte aufgeteilt nach Jahren seit 2001 und Geschlecht)? Die Kontaktaufnahmen führten in 109 Fällen zu persönlichen Beratungsgesprächen bzw. weiteren Gesprächen. Jahr Anzahl der Gespräche weiblich männlich 2001–2012 ca. 100 2013 1 0 1 2014 2 0 2 2015 3 1 2 2016 1 0 1 2017 2 0 2 2018 0 0 0 2. a) Wie viele Personen wurden seit 2001 in das Aus steigerprogramm aufgenommen (bitte aufgeteilt nach Jahren seit 2001 und Geschlecht)? Seit 2001 wurden 134 Personen in das Aussteigerprogramm aufgenommen. Jahr Anzahl der Personen 2001–2012 102 2013 3 Drucksache 17/22053 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 Jahr Anzahl der Personen 2014 6 2015 8 2016 4 2017 9 2018 2 b) Wie viele Personen waren sowohl bei der Erstkon taktaufnahme als auch bei der folgenden Beratung minderjährig? Circa 5 Prozent der kontaktierten Personen waren minderjährig . c) Wie vielen Personen ist durch das Programm der Ausstieg aus der rechtsextremen Szene geglückt (bitte aufgeteilt nach Jahren seit 2001 und Ge schlecht)? Insgesamt konnten 108 erfolgreiche Ausstiege aus der rechtsextremistischen Szene verzeichnet werden. Jahr Anzahl der Personen 2001–2012 87 2013 6 2014 5 2015 3 2016 2 2017 3 2018 2 3. a) Welche Erkenntnisse hat die Staatsregierung da rüber, wie viele Personen, die Beratung bei der Bayerischen Informationsstelle gegen Extremis mus gesucht haben, den Ausstieg aus der rechts extremen Szene aber nicht geschafft haben? Seit Bestehen des Aussteigerprogramms kam es in 18 Fällen zu Beratungsabbrüchen. Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von Problemen im privaten Bereich über Suchtprobleme bin hin zur Straffälligkeit. b) In wie vielen Fällen kam es zu einem Rückfall durch erneute Aktivitäten im rechtsextremen Spektrum bei Personen, die „erfolgreich“ das Aussteigerpro gramm absolviert hatten? Ein Rückfall eines erfolgreichen Absolventen des staatlichen Aussteigerprogramms in die rechtsextremistische Szene ist nicht bekannt. 4. Bei wie vielen Kontaktaufnahmen zur Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus handelte es sich um ratsuchende Verwandte oder Bekannte/ Freunde eines Rechtsextremisten (bitte aufgeteilt nach Jahren seit 2001)? Anrufe von ratsuchenden Verwandten, Bekannten oder Freunden erfolgen nur gelegentlich. Die Anzahl liegt durchschnittlich bei etwa ein bis zwei Anrufen jährlich. Eine eigene statistische Erfassung wurde bisher aufgrund datenschutzrechtlicher Bedenken nicht durchgeführt. 5. Welche Gründe haben die Personen angeführt, wa rum sie aus der rechtsextremen Szene aussteigen wollen? Die Gründe, weshalb Personen aus der rechtextremistischen Szene aussteigen wollen, sind vielfältig. Oftmals fühlen sich Aussteiger nach ihrer Abwendung von der rechtsextremistischen Szene von ehemaligen Weggefährten oder bekannten Szeneangehörigen aufgrund von Nachstellungen oder zufälligen Aufeinandertreffen gefährdet und suchen daher Schutz im Ausstiegsprogramm. Ein weiterer Ausstiegsgrund sind neue Sozialkontakte, die keinerlei Berührungspunkte mit der rechtsextremistischen Szene haben wollen. Insbesondere bei ausstiegswilligen Personen, die weniger aus ideologischen, sondern vielmehr aus sozialen Gründen in der Peer-Group verhaftet sind, kommt dieser Aspekt zum Tragen. Häufig wird einem Angehörigen der rechtsextremistischen Szene aber auch durch ein Strafverfahren oder eine Haftstrafe die Tragweite und die gesellschaftliche Bedeutung seines Tuns bewusst. Die Selbstreflexion mündet oftmals letztendlich im Ausstieg. Ein weiterer Grund, sich von der rechtsextremistischen Szene abzuwenden, sind Erfahrungen mit Sicherheitsbehörden . Die hohe Kontrollfrequenz und der Verfolgungsdruck stellen, gerade bei lebensälteren Szenemitgliedern, die Sinnhaftigkeit der Szenezugehörigkeit infrage und begründen den Drang nach einer Lebensgestaltung in eigener Verantwortlichkeit ohne die Einflüsse der rechtsextremistischen Szene. In Einzelfällen führt auch ein Drogen- bzw. Alkoholentzug zum Entschluss, aus der Szene auszusteigen. 6. In wie vielen Fällen befanden sich ausstiegswillige Rechtsextreme, die den Kontakt zur Informations stelle suchten, im Gefängnis? Eine Statistik über derartige Fälle liegt nicht vor. In den letzten Jahren hat die BIGE in den Bereichen Polizei und Justiz ihre Fortbildungsarbeit verstärkt und ihr Aussteigerprogramm beworben. Wenn in diesen Bereichen, z. B. im Justizvollzug, von potenziellen Aussteigern der Ausstiegswille geäußert wird, kann ein Ausstiegsbetreuer proaktiv Kontakt mit dem potenziellen Aussteiger aufnehmen, ohne dass dieser selbst das Aussteigerprogramm kontaktieren muss. Auf diese Weise haben sich in den letzten Jahren vermehrt Kontakte zu inhaftierten Ausstiegswilligen ergeben. In diesem Themenbereich erfolgt eine intensive Zusammenarbeit der BIGE mit Vertretern des Staatsministeriums der Justiz. Seite 4 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/22053 7. a) Wie beurteilt die Staatsregierung die Arbeit von Anbietern zivilgesellschaftlicher Aussteigerpro gramme, etwa EXIT? Aus Sicht der Staatsregierung ist die Arbeit von Anbietern zivilgesellschaftlicher Aussteigerprogramme grundsätzlich eine sinnvolle Ergänzung der staatlichen Angebote. Dies ist nicht zuletzt den verschiedenen Ansätzen in der Betreuung geschuldet und kommt den individuellen Präferenzen der Ausstiegswilligen entgegen. Während die staatlichen Aussteigerprogramme mit dem Instrument des „stillen Ausstiegs“ arbeiten (kein Bekanntwerden der ausstiegswilligen Personen in der Öffentlichkeit), wird bei zivilgesellschaftlichen Programmen, wie bspw. EXIT, ein öffentlichkeitswirksamer Ausstieg bevorzugt. Der Vorteil des staatlichen Ansatzes liegt darin, dass der Ausstiegswillige nicht offenen Anfeindungen ausgesetzt ist, was im Falle eines Ausstiegs aus der gewaltbereiten Szene einen größeren Schutzeffekt beinhaltet. Demgegenüber ist die Hemmschwelle der proaktiven Kontaktaufnahme zu einem privatwirtschaftlichen Aussteigerprogramm für einen Ausstiegswilligen grundsätzlich als niedriger einzustufen als zu einem sicherheitsbehördlichen Programm. b) Steht die Bayerische Informationsstelle gegen Ex tremismus im Austausch mit Anbietern zivilgesell schaftlicher Aussteigerprogramme? In den Jahren 2016 und 2017 ergaben sich intensive Kontakte zur Organisation „Violence Prevention Network“ (VPN). Ferner ist beabsichtigt, mittel- und langfristig den Kontakt zu Anbietern zivilgesellschaftlicher Aussteigerprogramme im Rahmen von bundesweiten Tagungen zu festigen.