Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Georg Rosenthal SPD vom 10.07.2018 Tarifflucht von Betrieben Die Tarifbindung von Betrieben und Beschäftigten in Bayern sinkt seit Jahren kontinuierlich: Laut einer Studie des WSI-Tarifarchivs (WSI = Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut) der Hans-Böckler-Stiftung (13.06.2018) arbeiten nur noch 53 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben . Bayern ist damit Schlusslicht unter den westlichen Bundesländern. Lediglich die fünf neuen Bundesländer weisen noch schlechtere Werte auf. Besonders seit Mitte der 1990erJahre – damals entsprach die Tarifbindung in Bayern mit 83 Prozent exakt dem westdeutschen Durchschnitt – hat die Tarifbindung deutlich abgenommen. Daher frage ich die Staatsregierung: 1. Inwiefern kann die Staatsregierung das Ergebnis der Studie des WSI-Tarifarchivs bestätigen? 2. Falls ja, was sind nach Ansicht der Staatsregierung die Gründe für die Tarifflucht der Betriebe und Arbeitgeber ? 3. Wie vertragen sich nach Ansicht der Staatsregierung die durch die Tarifflucht eingetretenen ungleichen Arbeitsbedingungen in bestimmten Branchen mit dem in der Bayerischen Verfassung festgehaltenen Grundsatz , „gleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen“ im Freistaat herzustellen? 4. Welche konkreten Maßnahmen unternimmt die Staatsregierung , die Tarifbindung in Bayern wieder zu stärken ? 5. Wie beurteilt die Staatsregierung, dass Bundesländer wie Bremen, das Saarland oder Niedersachsen eine Tarifbindung zur Bedingung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge machen wollen? 6. Wie beurteilt die Staatsregierung die Möglichkeit, öffentliche Zuwendungen für Betriebe an die Einhaltung von Tarifstandards zu koppeln? 7. a) Wie beurteilt die Staatsregierung die Möglichkeit, eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen in weiteren Branchen durchzusetzen? b) Wie oft und in welchen Fällen hat die zuständige Behörde des Freistaates Einspruch gegen die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrages erhoben ? Antwort des Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales im Einvernehmen mit dem Staatsministerium für Wirtschaft , Energie und Technologie sowie dem Staatsministerium der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat vom 20.08.2018 1. Inwiefern kann die Staatsregierung das Ergebnis der Studie des WSI-Tarifarchivs bestätigen? Es trifft zwar grundsätzlich zu, dass die unmittelbare Bindung an Tarifverträge im Bundesgebiet insgesamt wie auch in den einzelnen Bundesländern rückläufig ist. Hinzuweisen ist darauf, dass zu Stand und Entwicklung der Tarifbindung verschiedene Studien vorliegen, die zu teilweise unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich des Umfangs des Rückgangs gelangen. Grundlage der Analysen sind jeweils quantitative Stichprobenerhebungen, die das Risiko einer gewissen statistischen Fehlertoleranz bergen und zufallsbedingten Schwankungen und Unsicherheiten unterliegen können. Laut den Daten des aktuellen IAB-Betriebspanels (IAB = Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) für Bay ern lag aber die Tarifbindung in Westdeutschland und Bayern im Jahr 2017 auf demselben Niveau. Danach haben sowohl in Westdeutschland als auch in Bayern 56 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben gearbeitet. 2. Falls ja, was sind nach Ansicht der Staatsregierung die Gründe für die Tarifflucht der Betriebe und Arbeitgeber? Die den verschiedenen Studien zur Tarifbindung zugrunde liegenden quantitativen Stichprobenerhebungen lassen keine Aussagen zu den Gründen des Rückgangs der Tarifbindung zu. Hierfür wäre eine tiefer gehende Ursachenanalyse, insbesondere qualitative Befragungen der maßgebenden Akteure (Betriebsräte, Arbeitgeber etc.), in Rückkoppelung zu den quantitativen Erhebungen erforderlich. Zu beobachten ist jedoch, dass der Anteil jener Beschäftigten , deren Arbeitsbedingungen sich an einem Tarifvertrag orientierte, in den vergangenen Jahren angestiegen ist, während der Anteil der Beschäftigten mit Tarifvertrag zurückging . Nach dem IAB-Betriebspanel für Bayern ist der Anteil der Beschäftigten in Bayern mit Tarifvertrag von 69 Prozent im Jahr 2002 auf 56 Prozent im Jahr 2017 gesunken, der Anteil der Beschäftigten mit Tariforientierung nahm im selben Zeitraum aber von 16 Prozent auf 23 Prozent zu. Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass der Ausstieg von Betrieben bzw. Arbeitgebern aus der unmittelbaren Tarifbindung nicht automatisch die Entscheidung bedeutet, das Tarifsystem vollständig verlassen zu wollen. Der parallel zur rückläufigen Tarifbindung gestiegene Anteil an Betrieben mit Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www . bayern . landtag . de – Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www . bayern . landtag . de – Aktuelles / Sitzungen / Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 19.10.2018 Drucksache 17/23605 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/23605 Tariforientierung kann als Anzeichen dafür gewertet werden, dass in vielen Fällen wohl nur eine Abkehr von einzelnen als nicht interessensgerecht erachteten Regelungen eines Tarifvertrags beabsichtigt ist. 3. Wie vertragen sich nach Ansicht der Staatsregierung die durch die Tarifflucht eingetretenen ungleichen Arbeitsbedingungen in bestimmten Branchen mit dem in der Bayerischen Verfassung festgehaltenen Grundsatz, „gleichwertige Lebensund Arbeitsbedingungen“ im Freistaat herzustellen ? Aus Sicht der Staatsregierung sind Flächentarifverträge mit möglichst hoher Tarifbindung zentrale Instrumente zur Gewährleistung branchenweit einheitlicher und auskömmlicher Löhne und Arbeitsbedingungen. Sowohl das Grundgesetz (Art. 9 Abs. 3 GG) als auch die Bayerische Verfassung (Art. 170 Abs. 1 BV) gewährleisten das Grundrecht der Koalitionsfreiheit als individuelles Recht, sich zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu vereinigen. Der Schutz der Ko alitionsfreiheit schließt – neben dem Freiraum zur autonomen Rechtsgestaltung (Tarifautonomie) – auch das Recht mit ein, aus einer tarifschließenden Koalition – Gewerkschaft bzw. Arbeitgeberverband – auszutreten oder ihr fernzubleiben und damit nicht den kollektiv ausgehandelten Arbeitsbedingungen zu unterliegen (negative Koalitionsfreiheit ). Die Staatsregierung achtet und wahrt die durch das Grundgesetz und die Bayerische Verfassung geschützten Freiräume der Sozialpartner. Einer Einflussnahme und Einmischung des Staates in diesen Autonomiebereich steht der Grundsatz der staatlichen Neutralität entgegen. Um eine möglichst breite Geltung von Flächentarifverträgen zu erreichen, unterstützt die Staatsregierung – bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen und nach Abwägung der betroffenen Rechtspositionen und Interessen – grundsätzlich die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen (vgl. Fragen 7 a und 7 b). Damit werden auch die nicht tarifgebundenen Arbeitgeber zur Einhaltung tariflicher Arbeitsbedingungen verpflichtet und entsprechend dem Auftrag aus der Bayerischen Verfassung (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 BV) die Herstellung gleichwertiger Lebens- und Arbeitsbedingungen in ganz Bayern gefördert. 4. Welche konkreten Maßnahmen unternimmt die Staatsregierung, die Tarifbindung in Bayern wieder zu stärken? Wie bereits unter Frage 3 ausgeführt, lehnt die Staatsregierung eine Einflussnahme und Einmischung in das Gefüge und die Willensbildung der Sozialpartner ab. Es ist originäre Aufgabe der Tarifvertragsparteien selbst, ihre Attraktivität und Funktionsfähigkeit – insbesondere durch interessensgerechte und ausgewogene Tarifabschlüsse für Arbeitgeber und Arbeitnehmer – zu steigern und auf eine Erhöhung des Organisationsgrads hinzuwirken. Erfolgsversprechender Ansatz zur Stärkung der Tarifbindung sind aus Sicht der Staatsregierung attraktive Tarifverträge , die Verbindlichkeit in der Fläche gewährleisten und Betriebsnähe durch Öffnungsklauseln ermöglichen. 5. Wie beurteilt die Staatsregierung, dass Bundesländer wie Bremen, das Saarland oder Niedersachsen eine Tarifbindung zur Bedingung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge machen wollen? Nach Auskunft der zuständigen Stellen in Bremen, dem Saarland und Niedersachsen gibt es dort derzeit keine Bestrebungen , die Tarifbindung zur Bedingung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu machen. Allerdings wird in den genannten Ländern insbesondere im Bereich des ÖPNV die Gewährung von Arbeitsbedingungen, wie sie in repräsentativen Tarifverträgen vereinbart wurden, zur Voraussetzung für die Auftragsvergabe gemacht. Durch das Mindestlohngesetz sowie das Arbeitnehmer- Entsendegesetz formuliert das geltende Recht bereits wirksame Mindeststandards, die auch bei der Ausführung öffentlicher Aufträge zwingend zu beachten sind. Eine darüber hinausgehende vergaberechtliche Pflicht zur Gewährung tarifvertraglicher Arbeitsbedingungen auch für nicht tarifgebundene Unternehmen lehnt die Staatsregierung aus folgenden Gründen ab: Zum einen würde eine solche Vorgabe einen Eingriff in die Koalitionsfreiheit bedeuten. Die Staatsregierung achtet und wahrt die grundgesetzlich geschützte Koalitionsfreiheit und lehnt staatliche Eingriffe in diesem Bereich ab (vgl. Fragen 3 und 4). Für Unternehmen, die außerhalb des Flächentarifs bessere Wettbewerbschancen sehen, muss dieser Weg grundsätzlich offenstehen. Aus wirtschaftspolitischer Sicht dürfen deshalb nicht tarifgebundene Unternehmen gegenüber tarifgebundenen Unternehmen nicht grundsätzlich benachteiligt werden. Das flächendeckende Auferlegen tariflicher Arbeitsbedingungen für nicht tarifgebundene Unternehmen würde eine solche Benachteiligung darstellen. Zum anderen ist zu befürchten, dass die Vorgabe von tariflichen Mindestarbeitsbedingungen über das derzeit geltende Maß hinaus zu mehr Bürokratie und höheren Kosten bei Vergabestellen und Unternehmen führt. Unternehmen , die sich um öffentliche Aufträge bewerben möchten, müssten gegebenenfalls ein zusätzliches Lohnsystem einführen , um tarifvertragliche Mindestarbeitsbedingungen, denen sie an sich nicht unterliegen, im Rahmen der Auftragsdurchführung zu erfüllen. Es könnte zu einem Rückgang der Angebote vor allem bei kleinen und mittleren Unternehmen und damit zu einer Einschränkung des Wettbewerbs kommen . Der zusätzliche Verwaltungsaufwand bei den Unternehmen und vor allem die aufgrund einer Vorgabe eines bestimmten Tarifvertrags höheren Lohnkosten könnten zu höheren Angebotspreisen führen. Insbesondere kleinere Gemeinden könnten dadurch finanziell überfordert werden. 6. Wie beurteilt die Staatsregierung die Möglichkeit, öffentliche Zuwendungen für Betriebe an die Einhaltung von Tarifstandards zu koppeln? Eine Auflage zur Einhaltung von Tarifstandards fordert vom Zuwendungsempfänger ein Verhalten, das mit dem Zweck der Zuwendung nicht in Zusammenhang steht. Eine Überfrachtung des Zuwendungsrechts mit ordnungspolitischen Zielen ist jedoch grundsätzlich zu vermeiden. Im Übrigen wäre eine derartige Auflage nur sinnvoll, wenn ihre Befolgung auch angemessen überprüft werden könnte. Dieser vermehrte Prüfaufwand würde den ohnehin schon Drucksache 17/23605 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 hohen Verwaltungsaufwand staatlicher Förderungen weiter erhöhen und die Bewilligungsbehörden überfordern. Dies läuft den Bestrebungen nach Deregulierung und Vereinfachung diametral entgegen. 7. a) Wie beurteilt die Staatsregierung die Möglichkeit, eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen in weiteren Branchen durchzusetzen? Ob und inwieweit es zu Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen in weiteren Branchen kommt, hängt maßgebend von den Tarifvertragsparteien selbst ab, die das Verfahren mit einem gemeinsamen Antrag bei der zuständigen Behörde einleiten müssen (§ 5 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz – TVG). Zuständig für die Allgemeinverbindlicherklärung eines bundesweit geltenden Tarifvertrags ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales; zuständig für die Allgemeinverbindlicherklärung eines bayerischen Tarifvertrages ist das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales . Bei Einreichung eines gemeinsamen Antrags der Tarifvertragsparteien kann ein Tarifvertrag nach § 5 Abs. 1 TVG für allgemeinverbindlich erklärt werden, – wenn die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint, insbesondere weil der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat, und – wenn der mit je drei Vertretern der Spitzenorganisationen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden paritätisch besetzte Tarifausschuss sein Einvernehmen erteilt. Das Vorliegen der Voraussetzung des öffentlichen Interesses ist im Hinblick auf den konkreten Antrag der Tarifvertragsparteien in jedem Verfahren gesondert zu prüfen. Eine abstrakte Bewertung der Gegebenheiten in einer Branche genügt nicht. Für das nötige Einvernehmen des Tarifausschusses bedarf es einer mehrheitlichen Beschlussfassung der sechs Mitglieder. Das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales bzw. das Bundesministerium für Arbeit und Soziales als zuständige Behörden haben kein eigenes Stimmrecht im Tarifausschuss. Einem Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung kann nicht stattgegeben werden, wenn der Tarifausschuss sein Einvernehmen verweigert. b) Wie oft und in welchen Fällen hat die zuständige Behörde des Freistaates Einspruch gegen die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrages erhoben? Zur Beantwortung der Frage wurden alle Verfahren auf Allgemeinverbindlicherklärung beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie beim Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales im Zeitraum der letzten 20 Jahre betrachtet. Verfahren auf Allgemeinverbindlicherklärung beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Nach § 5 Abs. 2 TVG ist vor der Entscheidung über einen Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales u. a. den obersten Arbeitsbehörden der Länder, auf deren Bereich sich der Tarifvertrag erstreckt, Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme sowie zur Äußerung in einer mündlichen und öffentlichen Verhandlung zu geben. Bei Einspruch der obersten Arbeitsbehörde eines beteiligten Landes gegen die beantragte Allgemeinverbindlicherklärung kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales dem Antrag nur mit Zustimmung der Bundesregierung stattgeben (§ 5 Abs. 3 TVG). Das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales hat in den letzten 20 Jahren bei keiner Allgemeinverbindlicherklärung Einspruch erhoben. Verfahren auf Allgemeinverbindlicherklärung beim Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales: Das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales hat in den letzten 20 Jahren alle Tarifverträge, deren Allgemeinverbindlicherklärung beantragt war und bei denen das notwendige Einvernehmen des aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Tarifausschusses vorlag, für allgemeinverbindlich erklärt.