Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Verena Osgyan, Katharina Schulze BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 12.07.2018 Antisemitischer Aufmarsch in Nürnberg Am Samstag, 30.06.2018, fand in Nürnberg eine Versammlung unter dem Motto „Freiheit für alle politischen Gefangenen , für die Abschaffung des Paragrafen 130 StGB“ (StGB = Strafgesetzbuch) statt, bei der sich erwartbarerweise Straftaten ereigneten und die jetzt Gegenstand größerer öffentlicher Debatten in Nürnberg ist. Vor diesem Hintergrund fragen wir die Staatsregierung: 1.1 Welche Straftaten wurden im Rahmen der Versammlung durch die anwesenden Beamten registriert und zur Anzeige gebracht (bitte Anzahl und Delikte unter Nennung der jeweiligen strafrechtlichen Norm angeben )? 1.2 Wurden im Nachgang der Versammlung noch weitere Straftaten zur Anzeige gebracht (bitte ebenso aufschlüsseln wie bei Frage 1.1)? 1.3 Inwieweit konnte die Einsatzleitung bei einer Versammlung , die für die „Abschaffung des Paragrafen 130 StGB“ demonstrierte, bereits im Vorfeld einschätzen , dass es dort zu Propagandastraftaten nach § 130 StGB o. Ä. kommen könnte? 2.1 Weshalb konnte die Versammlung weiter stattfinden, obwohl dort ausweislich Zeitungsberichten eindeutig gegen Versammlungsauflagen und strafrechtliche Normen verstoßen wurde? 2.2 Welche Verstöße gegen die Versammlungsauflagen konnten festgestellt werden? 2.3 Wie rechtfertigt es die Staatsregierung, dass, im Vergleich zu anderen Versammlungen, hier Straftaten nicht unmittelbar und direkt durch die Einsatzkräfte vor Ort unterbunden wurden? 3. Welche Maßnahmen will die Staatsregierung künftig unternehmen, um solche erwartbaren Straftaten auf ähnlichen Versammlungen in Zukunft zu unterbinden? 4. Wie schätzt die Staatsregierung die Aussage des stellvertretenden Ordnungsamtleiters der Stadt Nürnberg , es gäbe auch „linke Gruppen, die unter ähnlicher Überschrift Versammlungen angemeldet haben“ ein; sind der Staatsregierung linke Demonstrationen für die Abschaffung des Volksverhetzungsparagrafen in Bayern bekannt? 5.1 Wie erklärt sich die Staatsregierung, dass ähnlich gelagerte Versammlungen, bei denen Straftaten ausgemacht wurden (etwa am 17.02.2018 in Dresden) von der Versammlungsbehörde abgebrochen werden konnten? 5.2 Sofern eine solche Möglichkeit in einer unterschiedlichen Ausgestaltung des Versammlungsrechts beider Länder liegt, wie beurteilt die Staatsregierung die Übernahme ähnlicher Normen in das bayerische Versammlungsrecht ? Antwort des Staatsministeriums des Innern und für Integration unter Beteiligung des örtlich zuständigen Polizeipräsi diums Mittelfranken vom 30.08.2018 1.1 Welche Straftaten wurden im Rahmen der Ver sammlung durch die anwesenden Beamten regis triert und zur Anzeige gebracht (bitte Anzahl und Delikte unter Nennung der jeweiligen strafrecht lichen Norm angeben)? Im Rahmen der Versammlung wurden bisher insgesamt fünf Fallkomplexe mit sieben Einzeldelikten zur Anzeige gebracht : Fall Anzahl Delikt Strafnorm 1 1 Urkundenfälschung § 267 StGB 2 1 Vergehen BayVersG Art. 20 Abs. 1 Nr. 1 BayVersG 2 1 Widerstand gg. Vollstreckungsbeamte § 113 StGB 2 1 Körperverletzung § 224 StGB 3 1 Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen § 86a StGB 4 1 Volksverhetzung § 130 StGB 5 1 Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen § 86a StGB Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www . bayern . landtag . de – Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www . bayern . landtag . de – Aktuelles / Sitzungen / Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 19.11.2018 Drucksache 17/23663 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/23663 1.2 Wurden im Nachgang der Versammlung noch wei tere Straftaten zur Anzeige gebracht (bitte ebenso aufschlüsseln wie bei Frage 1.1)? Durch die Stadt Nürnberg wurde der Polizei ein Dokument weitergeleitet, welches mutmaßlich nach der Versammlung erstellt wurde und mögliche volksverhetzende Passagen enthält. Die Prüfung der Strafbarkeit erfolgt derzeit durch die kriminalpolizeiliche Staatsschutzdienststelle in Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth. Zusätzlich gingen in der 30. Kalenderwoche über die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth zwei Strafanzeigen des Verbands deutscher Sinti und Roma wegen des Verdachts der Volksverhetzung gegen die Versammlungsleiterin und einen Redner der Versammlung ein. Nach ersten Ermittlungen geht das Polizeipräsidium Mittelfranken derzeit davon aus, dass eine Anzeige gegen den Redner in der tabellarischen Aufstellung in der Antwort zu Frage 1.1 bereits beinhaltet ist. Ob eine weitere Straftat vorliegt, wird aktuell geprüft. 1.3 Inwieweit konnte die Einsatzleitung bei einer Ver sammlung, die für die „Abschaffung des Paragra fen 130 StGB“ demonstrierte, bereits im Vorfeld einschätzen, dass es dort zu Propagandastrafta ten nach § 130 StGB o. Ä. kommen könnte? Dem Polizeipräsidium Mittelfranken lagen keine Erkenntnisse zur angemeldeten Versammlung vor, aus denen sich Anhaltspunkte für die Begehung von Propagandadelikten ergaben. Insbesondere aus dem Verlauf des Kooperationsgespräches ergaben sich für das Polizeipräsidium (PP) Mittelfranken keine Hinweise auf mögliche Propagandadelikte. 2.1 Weshalb konnte die Versammlung weiter stattfin den, obwohl dort ausweislich Zeitungsberichten eindeutig gegen Versammlungsauflagen und straf rechtliche Normen verstoßen wurde? Das Verwenden eines verfassungswidrigen Kennzeichens („Hitlergruß“ durch einen Redner bei der Abschlusskundgebung ) und die volksverhetzenden Äußerungen erfolgten bei der Abschlusskundgebung. Das Versammlungsende stand kurz bevor. Aus Sicht des PP Mittelfranken waren nach Maßgabe der herrschenden Rechtsprechung keine versammlungsbeendenden Maßnahmen geboten. Auch alle anderen Verstöße (siehe Antwort zu Frage 1.1) rechtfertigten keine versammlungsbeendenden Maßnahmen. 2.2 Welche Verstöße gegen die Versammlungsaufla gen konnten festgestellt werden? Vor Beginn der Versammlung wurden zwei Fahnenstangen festgestellt, die nicht den beschränkenden Verfügungen des Bescheides der Stadt Nürnberg vom 27.06.2018 (Beschränkung 1.10 – Tragestangen aus Weichholz) entsprachen . Entgegen dem Versammlungsbescheid wurden zwei Kunststoffrohre als Fahnenstangen von Versammlungsteilnehmern mitgeführt. Nach Prüfung und Bewertung durch den Polizeiführer wurden die Kunststofffahnenstangen als Kundgebungsmittel zugelassen, da sie in ihrer Beschaffenheit potenziell nicht gefährlicher als Weichholzstangen sind. Im Verlauf des Versammlungsaufzuges konnten Polizeibeamte bei einem Versammlungsteilnehmer ein verbotenes Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation feststellen . Der Versammlungsteilnehmer trug ein Oberbekleidungsstück , welches mit einer sogenannten Lebensrune bedruckt war. Dieses war nach Nr. 1.9d des Versammlungsbescheides verboten. Im Rahmen der Abschlusskundgebung wurde, unabhängig von der strafrechtlichen Relevanz, gegen die beschränkende Verfügung 1.9c des Versammlungsbescheides verstoßen , als der „Hitlergruß“ gezeigt wurde und eine Rede volksverhetzende Inhalte enthielt, was gemäß der Beschränkung 1.9a des Versammlungsbescheides nicht zulässig war. 2.3 Wie rechtfertigt es die Staatsregierung, dass, im Vergleich zu anderen Versammlungen, hier Strafta ten nicht unmittelbar und direkt durch die Einsatz kräfte vor Ort unterbunden wurden? Im Vergleich zu anderen Versammlungen stellt die Staatsregierung keine abweichende Einsatztaktik fest. Soweit möglich und taktisch günstig, wurden festgestellte Straftaten unmittelbar verfolgt bzw. unterbunden. 3. Welche Maßnahmen will die Staatsregierung künf tig unternehmen, um solche erwartbaren Strafta ten auf ähnlichen Versammlungen in Zukunft zu unterbinden? Nach Feststellungen des Staatsministeriums des Innern und für Integration sind die Einsatzkräfte ihrer Verpflichtung zur Strafverfolgung in vollem Umfang nachgekommen. Die Unterbindung von Straftaten im Zusammenhang mit Versammlungen , insbesondere hinsichtlich sogenannter Propagandadelikte , steht immer im Spannungsfeld zwischen der Strafverfolgung bzw. der Verhinderung von Straftaten und der Gewährleistung des grundgesetzlichen Versammlungsrechts . Mithin wird trotz aller Bemühungen eine Verhinderung solcher Straftaten durch polizeiliche Mittel nicht in jedem Fall möglich sein. 4. Wie schätzt die Staatsregierung die Aussage des stellvertretenden Ordnungsamtleiters der Stadt Nürnberg, es gäbe auch „linke Gruppen, die unter ähnlicher Überschrift Versammlungen angemeldet haben“ ein; sind der Staatsregierung linke De monstrationen für die Abschaffung des Volksver hetzungsparagrafen in Bayern bekannt? Mit dem Begriff der Repression versuchen insbesondere Autonome jegliche Form rechtsstaatlichen Handelns, wie z. B. die Verfolgung und Ahndung von Straftaten, zu diskreditieren . So kommt es im Zusammenhang mit Strafverfahren gegen Angehörige der linksextremistischen Szene oder deren Inhaftierung immer wieder zu Solidaritätsbekundungen und Forderungen nach einer Freilassung von „politischen“ Drucksache 17/23663 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 Gefangenen. Erkenntnisse über Forderungen linksextremistischer Gruppierungen, den Volksverhetzungsparagrafen abzuschaffen, liegen der Staatsregierung nicht vor. 5.1 Wie erklärt sich die Staatsregierung, dass ähnlich gelagerte Versammlungen, bei denen Straftaten ausgemacht wurden (etwa am 17.02.2018 in Dres den) von der Versammlungsbehörde abgebrochen werden konnten? 5.2 Sofern eine solche Möglichkeit in einer unter schiedlichen Ausgestaltung des Versammlungs rechts beider Länder liegt, wie beurteilt die Staats regierung die Übernahme ähnlicher Normen in das bayerische Versammlungsrecht? Das Bayerische Versammlungsgesetz (BayVersG) sieht in Art. 15 Abs. 1 die Möglichkeit vor, Versammlungen unter freiem Himmel zu beschränken, zu verbieten und aufzulösen, wenn nach den erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Das ist nach Art. 15 Abs. 2 BayVersG insbesondere dann möglich, wenn – die Versammlung an einem für die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft symbolträchtigen Tag oder Ort stattfinden soll und durch sie eine Beeinträchtigung der Würde der Opfer zu besorgen ist oder die unmittelbare Gefahr einer erheblichen Verletzung grundlegender sozialer oder ethischer Anschauungen besteht oder – durch die Versammlung die nationalsozialistische Gewalt - und Willkürherrschaft gebilligt, verherrlicht, gerechtfertigt oder verharmlost wird und dadurch die unmittelbare Gefahr einer Beeinträchtigung der Würde der Opfer besteht. Außerdem kann nach Art. 15 Abs. 1 i. V. m. Art. 12 Abs. 1 Nr. 4 BayVersG eine Versammlung auch dann beschränkt, verboten oder aufgelöst werden, wenn Tatsachen festgestellt sind, aus denen sich ergibt, dass der Veranstalter oder sein Anhang Ansichten vertreten oder Äußerungen dulden werden, die ein Verbrechen oder ein von Amts wegen zu verfolgendes Vergehen zum Gegenstand haben. Das Sächsische Versammlungsgesetz (SächsVersG) enthält in § 15 Abs. 1 und 2 eine teilweise wortgleiche, im Übrigen aber inhaltsgleiche Regelung, die sich von der baye rischen Parallelvorschrift im Wesentlichen nur dadurch unterscheidet , dass in § 15 Abs. 2 Satz 1 SächsVersG ausdrücklich auch die kommunistische Gewaltherrschaft angesprochen wird. Da die jeweiligen Absätze 2 nur Regelbeispiele für die in Absatz 1 vorausgesetzte unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung enthalten, die nicht abschließend sind, und Bayern die historischen Erfahrungen Sachsens einer kommunistischen Gewaltherrschaft nicht teilt, besteht aus Sicht der Staatsregierung keine Notwendigkeit , das Bayerische Versammlungsgesetz insoweit zu ergänzen. Für den vorliegenden Fall hätte eine solche Ergänzung jedenfalls keine Bedeutung erlangt. Für eine Auflösung bzw. ein Verbot einer Versammlung wegen einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wegen der hohen Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Grundgesetz (GG) ein strenger Maßstab (BVerfG – 1. Kammer des 1. Senats –, Beschl. v. 24.03.2001 – 1 BvQ 13/01 – NJW 2001, 2069/2071): Ob während einer Versammlung hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte erkennbar werden, die eine Auflösung der Versammlung zulassen bzw. erforderlich machen, bedarf stets einer sorgfältigen und umfassenden Prüfung aller Umstände des Einzelfalls, die unter sorgfältiger Abwägung regelmäßig von den Polizeibeamtinnen und -beamten vor Ort getroffen werden muss, deren Zuständigkeit nach Art. 24 Abs. 2 Satz 2 BayVersG ab Beginn der Versammlung neben die der Kreisverwaltungsbehörden als Versammlungsbehörden tritt (für Sachsen vgl. § 32 Abs. 2 Nr. 3 SächsVersG). Dass es sich um thematisch „ähnlich gelagerte Versammlungen “ handelt, reicht als Entscheidungsgrundlage keinesfalls aus (vgl. BVerfG – 1. Kammer des 1. Senats –, Beschl. v. 04.09.2009 – 1 BvR 2147/09 – NJW 2010, 141 Rn. 13). Welche Gründe im Einzelnen zu der in der Fragestellung beispielhaft angeführten Auflösung der Versammlung am 17.02.2018 in Dresden geführt haben, entzieht sich der Kenntnis der Staatsregierung. Die Staatsregierung nimmt im Übrigen grundsätzlich keine rechtliche Bewertung des Vorgehens von Beamtinnen und Beamten anderer Länder vor.