Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Isabell Zacharias SPD vom 17.07.2018 Schriftliche Anfrage – Fortführung Autismuszentren/ -forschung Anschließend an meine Schriftlichen Anfragen vom 22.05.2018 bezüglich Autismusforschung in Bayern (Drs. 17/23007) und die Tätigkeiten der bayerischen Autismuszentren (Drs. 17/23006) bestehen weiterhin Unklarheiten bezüglich relevanter Details. Insbesondere bei der Personalausstattung der Autismuszentren sowie der Betreuung erwachsener Betroffener sind Fragen weiterhin offen oder wurden neue Fragen aufgeworfen. Deshalb frage ich die Staatsregierung: 1. Wie lässt sich die Zahl von nur ca. 2.000 betreuten Personen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) in den bayerischen Autismuszentren erklären , wenn doch laut Prävalenzzahlen in Bayern ca. 120.000 Menschen mit Autismus leben müssten? 2. a) Inwiefern passt das vergleichsweise geringe Angebot von speziell an Erwachsene mit ASS gerichteten Programmen mit dem doch beachtlichen Anteil an betreuten Erwachsenen zusammen? b) Wieso werden keine störungsspezifischen Psychotherapien für Erwachsene mit ASS angeboten? 3. Warum gibt es keine speziellen Therapiezentren für Betroffene von ASS in Bayern? 4. a) Wie lässt sich die deutlich größere Personalausstattung des Autismuskompetenzzentrums in Oberbayern im Vergleich zu den anderen Zentren erklären? b) Ist beim Autismuskompetenzzentrum in Oberbayern der Leistungsumfang im Vergleich zu den anderen Zentren entsprechend höher? 5. Warum sind keine ärztlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Teil der Autismuszentren? Antwort des Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales im Einvernehmen mit dem Staatsministerium für Gesundheit und Pflege sowie mit dem Bezirk Oberbayern vom 06.09.2018 1. Wie lässt sich die Zahl von nur ca. 2.000 betreuten Personen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) in den bayerischen Autismuszentren erklären , wenn doch laut Prävalenzzahlen in Bayern ca. 120.000 Menschen mit Autismus leben müssten? Die der Annahme von 120.000 Menschen mit Autismus zugrunde liegende Prävalenzzahl von ca. 1 Prozent der Bevölkerung ist eine wissenschaftlich nicht abgesicherte Schätzung . Im Unterschied dazu spricht der Bundesverband „Autismus Deutschland e. V.“ auf seiner Internetseite von 0,6 Prozent bis 0,7 Prozent als vermutete Prävalenz. Legt man diese Annahmen und die Einwohnerzahl Bayerns von 2017 zugrunde (Landesamt für Statistik: 12,98 Mio.), ergibt sich eine Annahme von rund 78.000 bis 90.000 ASS-Betroffenen . Bei den von den bayerischen Autismuskompetenzzentren betreuten ASS-Betroffenen wird ebenfalls von anderen Zahlen ausgegangen. Aus der Antwort der Staatsregierung vom 26.06.2018 auf die Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Isabell Zacharias (SPD) vom 22.05.2018 (Drs. 17/23007), wie viele Betroffene „momentan in Bayerns Autismus zentren betreut“ werden, ergeben sich für alle Regierungsbezirke über 3.000 Betroffene. Zudem werden von den Zentren auch Angehörige, Personen aus dem sozialen Umfeld und andere Institutionen beraten und dadurch mittelbar deutlich mehr Betroffene erreicht. Autismuskompetenzzentren sind Anlaufstellen nur für einen Teil des Hilfebedarfs und somit auch nur für einen Teil der Hilfesuchenden. Daneben steht den ASS-Betroffenen und ihren Angehörigen eine ganze Palette anderer qualifizierter Hilfen zur Verfügung, wie etwa Frühförderstellen, vorschulische und schulische Einrichtungen, Heilpädagogische Tagesstätten, inklusive Kindertagesstätten, stationäre Einrichtungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderung, Arbeitsagenturen, Werkstätten für Behinderte , Kliniken und spezielle Therapiezentren oder Selbsthilfegruppen . 2. a) Inwiefern passt das vergleichsweise geringe Angebot von speziell an Erwachsene mit ASS gerichteten Programmen mit dem doch beachtlichen Anteil an betreuten Erwachsenen zusammen? Die Autismuskompetenzzentren bieten in jedem Regierungsbezirk mit niedrigschwelligen Kontakt- und Beratungsangeboten umfassende Unterstützung an und stellen Informationen für Menschen mit Autismus, Angehörige, Partner und Bezugspersonen bereit. Inwiefern es sich hierbei um ein geringes Angebot speziell für Erwachsene handeln soll, Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www . bayern . landtag . de – Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www . bayern . landtag . de – Aktuelles / Sitzungen / Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 19.11.2018 Drucksache 17/23696 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/23696 ist nicht ersichtlich. Die Angebote werden entsprechend der Nachfrage und den Bedarfen in den einzelnen Regionen mit den bestehenden Ressourcen gestaltet. b) Wieso werden keine störungsspezifischen Psychotherapien für Erwachsene mit ASS angeboten? Eine Therapie, welche die Kernsymptome von ASS vollständig beseitigen kann, ist bisher nicht bekannt. Jedoch kann der Umgang mit der Kernsymptomatik beeinflusst werden, um den Betroffenen ein Leben im sozialen Umfeld zu erleichtern und die Lebensqualität zu erhöhen. Häufig treten im Verlauf von ASS weitere psychische Störungen, wie z. B. Depressionen, Schlaf- und Essstörungen, Phobien und gelegentlich psychotische Episoden auf, die ebenfalls durch eine psychotherapeutische Behandlung behandelt werden können, sofern die kognitiven Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Psychotherapieverfahren zur Behandlung von ASS basieren zumeist auf verhaltenstherapeutischen und übenden Ansätzen verbunden mit Psychoedukation. Verhaltenstherapie kann im Allgemeinen helfen, soziale und kommunikative Fertigkeiten aufzubauen und zu verbessern. In Deutschland ist bislang der 1. Teil (Diagnostik) einer S3- Leitlinie „Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugendund Erwachsenenalter“ verfügbar. Der 2. Teil (Therapie) mit Behandlungsempfehlungen ist in Arbeit. Die Leitlinie „Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Teil 1: Diagnostik“ wurde federführend von der Deutschen Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) durchgeführt und von Prof. Dr. Dipl.-Theol. Christine M. Freitag aus Frankfurt und Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley aus Köln koordiniert (Registrierungsnummer: 028-018 der AWMF – Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.). 3. Warum gibt es keine speziellen Therapiezentren für Betroffene von ASS in Bayern? Die Annahme, es gebe keine speziellen Therapiezentren für Betroffene von ASS in Bayern, ist nicht zutreffend. Mit der Autismus-Ambulanz Nürnberg der Stadtmission Nürnberg e. V. und dem Autismus Zentrum Schwaben gibt es in Bayern zwei Autismus-Therapiezentren. In Bayern erfolgt die Versorgung überwiegend dezentral durch die regulären ambulanten und stationären Leistungserbringer. Allein im stationären Setting bieten Hochschulambulanzen, psychiatrische Institutsambulanzen, sozialpädiatrische Zentren für Kinder und Jugendliche, teilstationäre Einrichtungen (sogenannte Tageskliniken) und stationäre Einrichtungen spezialisierte Angebote für Betroffene von ASS an: Spezialisierte Angebote für betroffene Erwachsene (Auswahl) – Max-Planck-Institut für Psychiatrie München: Ambulanz und Tagklinik für Störungen der Sozialen Interaktion (Tagklinik mit besonderem Behandlungsschwerpunkt im Bereich hochfunktionaler Autismus), – Klinikum der Universität München: Spezialambulanz für Autismus-Spektrum-Störungen, – kbo-Isar-Amper-Klinikum Taufkirchen (Vils): Psychiatrische Institutsambulanz mit Spezialangebot für Erwachsene mit Störungen des autistischen Spektrums, – kbo Inn-Salzach-Klinikum: Psychiatrische Institutsambulanz Wasserburg mit Spezialsprechstunde Autismus- Spektrum-Störungen, – Bezirksklinikum Regensburg, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg : Autismus-Ambulanz der Psychiatrischen Institutsambulanz , – Universitätsklinikum Erlangen, Psychiatrische und Psychotherapeutische Klinik: Autismussprechstunde zur Abklärung von Störungen aus dem autistischen Spektrum, – Universitätsklinikum Würzburg, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie: Spezial ambulanz Autismus, – Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik: Zentrum für Psychiatrie , Psychotherapie und Heilpädagogik mit individuell abgestimmten Therapien für Menschen mit Autismusspektrumstörungen , – Bezirkskrankenhaus Augsburg, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik: Autismussprechstunde . Spezialisierte Angebote für Kinder und Jugendliche (Auswahl) – Klinikum der Universität München, Integriertes sozialpädiatrisches Zentrum im Dr. von Haunerschen-Kinderspital, Abteilung Kinderneurologie & Entwicklungsneurologie, Entwicklungsneurologie: Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), Diagnostik und Beratung, – kbo-Heckscher-Klinikum: Entwicklungsambulanz (Diagnostik und Therapie bei Autismus-Spektrum-Störungen ), – Josefinum Augsburg, Spezialambulanz der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie: Behandlungszentrum für Autismus und Entwicklungsstörungen , – Klinikum Memmingen, Sozialpädiatrisches Zentrum: Autismusambulanz . 4. a) Wie lässt sich die deutlich größere Personalausstattung des Autismuskompetenzzentrums in Oberbayern im Vergleich zu den anderen Zentren erklären? Die größere Personalausstattung in Oberbayern erklärt sich anhand der Größe und Einwohnerzahl. Der Bezirk Oberbayern ist der größte und am stärksten besiedelte Bezirk in Bayern. Es leben ca. 12,5 Mio. Menschen in Bayern, wovon ca. 4,5 Mio. in Oberbayern ansässig sind. Daher ist die Personalausstattung ca. dreimal höher als in den anderen Bezirken. Wenn man die jeweils bestehende Einwohnerzahl der Bezirke und die Personalausstattung in den Zentren Drucksache 17/23696 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 anschaut, liegt der durchschnittliche Personalschlüssel bei allen Zentren in einem vergleichbaren Rahmen. b) Ist beim Autismuskompetenzzentrum in Oberbayern der Leistungsumfang im Vergleich zu den anderen Zentren entsprechend höher? Die Leistungen der Autismuskompetenzzentren in Bayern orientieren sich an der Richtlinie zur Förderung von überregionalen ambulanten Diensten zur Sicherung der Teilhabe von Menschen mit geistigen und/oder körperlichen Behinderungen sowie sinnesbehinderten und chronisch kranken Menschen (Förderrichtlinie Überregionale „Offene Behindertenarbeit “/OBA). Die überregionalen Dienste erfüllen in ihrem Einzugsbereich entsprechend ihrer Personalausstattung die Aufgaben : a) Allgemeine Beratung; b) Informations- und Bildungsangebote; c) Öffentlichkeitsarbeit; d) Einbindung in und Aufbau von Netzwerken; e) fachliche Leitung des Dienstes. Darüber hinaus können bei Bedarf folgende Leistungen angeboten werden: f) Gewinnung, Schulung und Koordination von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern; g) Organisation und Sicherstellung von Freizeit-, Bildungsund Begegnungsmaßnahmen; h) Durchführung von Freizeit-, Bildungs- und Begegnungsmaßnahmen . Der Umfang der Leistungen ist abhängig von der Nutzerzahl und deren Nachfrage. Die Angebote werden entsprechend der Nachfrage und den Bedarfen in den einzelnen Regionen mit den bestehenden Ressourcen gestaltet. Aufgrund der Größe und Einwohnerzahl ist somit auch der Leistungsumfang im Bezirk Oberbayern im Vergleich zu den anderen Bezirken höher. 5. Warum sind keine ärztlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Teil der Autismuszentren? Die Leistungen nach der Förderrichtlinie Überregionale „Offene Behindertenarbeit“ werden als freiwillige Förderleistungen vom Freistaat Bayern gemeinsam mit den Bezirken im Rahmen der Hilfen für Menschen mit Behinderung gewährt. Sie stellen kein Angebot zur medizinischen Versorgung dar. Gemäß der „Richtlinie zur Förderung von überregionalen ambulanten Diensten zur Sicherung der Teilhabe von Menschen mit geistigen und/oder körperlichen Behinderungen sowie sinnesbehinderten und chronisch kranken Menschen“ verfolgen die Dienste den Grundsatz, Menschen mit Behinderung die Führung eines möglichst selbstständigen und eigenverantwortlichen Lebens zu gewährleisten . Die überregionalen OBA-Dienste tragen mit ihren Angeboten zur Realisierung der Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) bei. Davon unberührt bleiben alle gesetzlich geregelten Leistungen, insbesondere nach den Vorschriften der Sozialgesetzbücher Erstes Buch bis Zwölftes Buch. Vorrangig sind insbesondere Leistungen der Krankenkassen, der Pflegekassen, der Rehabilitationsträger (z. B. gesetzliche Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung ) und der Inklusionsämter. Wenn die Dienste entsprechende Leistungen bzw. qualifiziertes Personal vorhalten wollen, können sie mit dem jeweiligen Leistungsträger in Verhandlung treten.