Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Florian von Brunn SPD vom 10.08.2018 Plötzliches Engagement der Staatsregierung für Obachlose in München im Landtagswahljahr 2018 In München besteht eine bundesweit vorbildliche Versor gungslandschaft für obdachlose und wohnungslose Men schen, in der neben der Landeshauptstadt und der Sozial hilfeverwaltung des Bezirks Oberbayern verschiedene Träger, wie z. B. Arbeiterwohlfahrt, Evangelisches Hilfswerk, Internationaler Bund, Katholischer Männerfürsorgeverein, Sozialdienst Katholischer Frauen, Wohnhilfe e. V., in der Ar beitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe koordiniert zusam menarbeiten. Das Evangelische Hilfswerk betreibt bereits seit 1980 auf suchende Hilfen für obdachlose Menschen. Der Katholische Männerfürsorgeverein sorgt für eine Straßenambulanz in Form einer rollenden Arztpraxis, die obdachlose Menschen mehrmals wöchentlich mit Arzt und Pflegekräften an den Treffpunkten und Schlafplätzen aufsucht, unbürokratisch medizinische Hilfe leistet und sie ggf. an die Obdachlosen praxis weiterverweist. Die in der aufsuchenden Hilfe tätigen Mitarbeiter beraten Obdachlose und vermitteln Unterkünfte. Grundsätzlich bie tet die Landeshauptstadt München für jede Betroffene und jeden Betroffenen eine Unterkunftsmöglichkeit an. Ausge nommen sind davon aktuell allerdings Menschen aus den neuen EULändern, die nicht die volle Freizügigkeit genie ßen und keine Sozialleistungsansprüche haben. Für alle akut obdachlosen Menschen steht jeweils vom 01. Novem ber bis zum 30. April das Winterschutzprogramm der Lan deshauptstadt zur Verfügung. Ministerpräsident Dr. Markus Söder kündigte laut Medien berichterstattung vom 27.07.2018 die Gründung einer Stiftung an, erteilte aber der Forderung nach verlässlichen Statistiken eine Absage. Am 30.07.2018 präsentierte die Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales Kerstin Schreyer das neue Angebot „Mobiler Lotsenpunkt“, das ab dem 01.08.2018 vom Verein Lotse e. V. betrieben wird und für ein Jahr von einer Stiftung finanziert wird. Ich frage die Staatsregierung: 1. a) Sind dem Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales (StMAS) die unterschiedlichen Angebote und Bedarfe in der Obdachlosen und Wohnungslosenhilfe in München bekannt? b) Falls nein, was ist der Grund dafür? c) Was beabsichtigt das StMAS zu tun, um diese Wissenslücke zu schließen und die erforderlichen Hilfen zu koordinieren? 2. a) Falls die Angebote bekannt waren, was veranlasst das StMAS dazu, ein weiteres Angebot aufsuchender Sozialarbeit in München zu implementieren (z. B. weil möglicherweise Unzufriedenheit mit der Arbeit der bis her tätigen Akteure besteht)? b) Falls das StMAS der Auffassung sein sollte, dass das bisherige Angebot an aufsuchender Hilfe nicht ausrei chend sei, wie wird diese Einschätzung begründet? c) Warum wurde nicht zunächst den schon auf dem Ge biet tätigen Verbänden Unterstützung angeboten in Form von verbesserter Infrastruktur (Fahrzeug, EDV) und personeller Aufstockung? 3. a) Wie kam es zur Auswahl des Vereins Lotse e. V.? b) Über welche Erfahrungen und Kenntnisse des Münch ner Hilfenetzes verfügt der Verein, um die aufsuchen de Arbeit erfolgreich gestalten zu können? c) Welche Erfolge oder zusätzlichen Effekte werden von dem Projekt „Mobiler Lotsenpunkt“ erwartet? 4. a) Was veranlasst das StMAS zur Auffassung, dass der Verein Lotse e. V., der laut Pressemitteilung bisher ausschließlich in der Jugend und Familienhilfe tätig war, die Arbeit erfolgreicher betreiben würde, als die bisher schon tätigen Akteure? b) Was plant das StMAS nach Ablauf der Projektphase von einem Jahr mit dem „Mobilen Lotsenpunkt“? c) Was versteht Ministerpräsident Dr. Markus Söder unter einem engen Kontakt mit Verbänden und Kommunen, den er bei seinem Besuch in St. Bonifaz angekündigt hat, wenn schon eine Woche später ein Angebot ange kündigt wird, das, nach eigener Aussage der Verbän de und der Landeshauptstadt, mit beiden nicht abge stimmt ist? 5. a) Welche Rolle spielt Ministerpräsident Dr. Markus Söder bei der Implementierung des „Mobilen Lotsen punkts“? b) Was beabsichtigt das Staatsministerium StMAS, um das offensichtlich verloren gegangene Vertrauen von Kommunen und Verbänden auf eine verlässliche Zu sammenarbeit wieder herzustellen? c) Wie stellt sich das StMAS zu den von den Verbänden dargestellten Bedarfen, beispielsweise der flächende ckenden Betreuung wohnungsloser Menschen, die im Umland in Notunterkünften untergebracht sind? Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www . bayern . landtag . de – Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www . bayern . landtag . de – Aktuelles / Sitzungen / Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 14.12.2018 Drucksache 17/23983 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/23983 Antwort des Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales vom 19.09.2018 1. a) Sind dem Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales (StMAS) die unterschiedlichen Angebote und Bedarfe in der Obdachlosen- und Wohnungslosenhilfe in München bekannt? b) Falls nein, was ist der Grund dafür? c) Was beabsichtigt das Staatsministerium StMAS zu tun, um diese Wissenslücke zu schließen und die erforderlichen Hilfen zu koordinieren? Im StMAS sind die unterschiedlichen Angebote und Bedarfe in der Obdachlosen und Wohnungslosenhilfe in München bekannt. So wird vom StMAS beispielsweise die Koordinie rungsstelle Wohnungslosenhilfe Südbayern und damit auch ein integraler Bestandteil des Hilfesystems in München ge fördert. Die Zuständigkeit für die Wohnungs und Obdach losenhilfe liegt bei den Kommunen. Die Koordination der Hilfeangebote in München obliegt daher nicht der Staats regierung. Gleichwohl ist der Staatsregierung bewusst, dass in den letzten Jahren ein steigender Bedarf an Hilfen für Woh nungs und Obdachlose zu verzeichnen ist. Hier will sich der Freistaat Bayern verstärkt unterstützend einbringen. Des halb hat die Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales am 02.07.2018 einen „Runden Tisch Obdachlosigkeit“ ge gründet, bei dem mit den Expertinnen und Experten der Obdachlosen und Wohnungslosenhilfe in Bayern die Pro bleme in der Praxis erörtert werden. Im Gespräch mit den Vertreterinnen und Vertretern von Kirchen, Wohlfahrtsver bänden, Kommunalen Spitzenverbänden, Koordinierungs stellen Wohnungslosenhilfe und den Bahnhofsmissionen geht es um Hilfemaßnahmen in ganz Bayern, aber auch um passgenaue Lösungen für die einzelnen Zielgruppen. Ziel setzung des Runden Tisches ist es, sich ein genaues Bild über den Personenkreis und über die Gründe für Obdach losigkeit in Bayern zu verschaffen sowie den Bedarf für be ratende und aufsuchende Unterstützung zu ermitteln. Hier bei sollen sowohl Sofortmaßnahmen als auch langfristige Lösungen diskutiert werden. Der Runde Tisch hat mittler weile zwei Mal getagt, zuletzt am 24.08.2018. 2. a) Falls die Angebote bekannt waren, was veranlasst das StMAS dazu, ein weiteres Angebot aufsuchender Sozialarbeit in München zu implementieren (z. B. weil möglicherweise Unzufriedenheit mit der Arbeit der bisher tätigen Akteure besteht)? b) Falls das StMAS der Auffassung sein sollte, dass das bisherige Angebot an aufsuchender Hilfe nicht ausreichend sei, wie wird diese Einschätzung begründet ? c) Warum wurde nicht zunächst den schon auf dem Gebiet tätigen Verbänden Unterstützung angeboten in Form von verbesserter Infrastruktur (Fahrzeug , EDV) und personeller Aufstockung? Die Staatsregierung wertschätzt die Arbeit, die in der Ob dach und Wohnungslosenhilfe in München geleistet wird, sehr. Beim „Mobilen Lotsenpunkt“ handelt es sich um ein zusätzliches Angebot eines freien Trägers, welches nicht die existenten Angebote ersetzen, sondern diese ergänzen und mit ihnen kooperieren soll. Das Projekt wurde von der Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales initiiert, die Ausgestaltung des Projekts beruht aber auf einem Projektantrag des Trägers an die Dr. Ingeborg und Marion von TessinStiftung. Auch die Finan zierung erfolgt allein durch die Dr. Ingeborg und Marion von TessinStiftung, es werden keine Haushaltsmittel verwendet. 3. a) Wie kam es zur Auswahl des Vereins Lotse e. V.? Die Dr. Ingeborg und Marion von TessinStiftung als För derer des Projekts hat die Entscheidung darüber getroffen, dass der Verein Lotse Kinder und Jugendhilfe e. V. das Pro jekt durchführen kann. b) Über welche Erfahrungen und Kenntnisse des Münchner Hilfenetzes verfügt der Verein, um die aufsuchende Arbeit erfolgreich gestalten zu können ? Der Verein Lotse Kinder und Jugendhilfe e. V. betreibt im Landkreis München bereits sehr erfolgreich den mobilen Familienstützpunkt, ein Projekt der aufsuchenden Beratung, an dem sich die Arbeitsweise des „Mobilen Lotsenpunkts“ orientiert. Die Arbeit des „Mobilen Lotsenpunkts“ soll Ju gendliche und junge Erwachsene, die von Wohnungslosig keit bedroht sind, in den Fokus nehmen. c) Welche Erfolge oder zusätzlichen Effekte werden von dem Projekt „Mobiler Lotsenpunkt“ erwartet? Es handelt sich beim „Mobilen Lotsenpunkt“ um einen Be ratungsbus für Menschen ohne festen Wohnsitz, mit beson derem Fokus auf Jugendliche und junge Erwachsene. Da mit sollen regelmäßig und verlässlich jene Orte in München angefahren werden, an denen sich erfahrungsgemäß viele obdachlose Menschen aufhalten. Dort bieten zwei Sozial pädagogen niederschwellige Hilfe und unbürokratische Be ratung an und knüpfen Kontakte zu jenen, die bisher keinen oder nur schlechten Zugang zum Hilfesystem und damit zu fachlicher Unterstützung hatten. Aufsuchende Beratung ist in der Obdachlosen und Wohnungslosenhilfe besonders wichtig, da viele Betroffene nicht in der Lage sind, die be stehenden Hilfeangebote anzunehmen bzw. keinen Zugang dazu finden. Der „Mobile Lotsenpunkt“ wird zuallererst vernetzend tätig. Unter anderem soll das Projekt auch eine bessere Vernetzung von Wohnungslosenhilfe und Jugendarbeit er möglichen. Studien besagen, dass das Durchschnittsalter wohnungsloser Menschen auf 35 Jahre gesunken ist (TAWO Forschungsprojekt des Instituts für Forschung und Weiter bildung der Hochschule Koblenz; Zeitraum von August 2013 bis Juni 2014). Es erscheint deshalb sinnvoll, die beiden Be reiche stärker zu verbinden. Dies stellt nicht infrage, dass in der Mobilen Jugendarbeit in München bereits mit großem Erfolg auch im Bereich Wohnungslosigkeit gearbeitet wird. Mit dem „Mobilen Lotsenpunkt“ soll ein möglicher weiterer Baustein hinzukommen. Dem Träger des Projekts „Mobiler Lotsenpunkt“ ist es au ßerdem gelungen, eine wissenschaftliche Begleitung des Projekts sicherzustellen (Bachelorarbeit einer Studentin der Sozialen Arbeit). Mit dieser Arbeit werden der Erfolg und die Frage der Weiterführung des Pilotprojekts evaluierbar. Drucksache 17/23983 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 4. a) Was veranlasst das StMAS zur Auffassung, dass der Verein Lotse e. V., der laut Pressemitteilung bisher ausschließlich in der Jugend- und Familienhilfe tätig war, die Arbeit erfolgreicher betreiben würde, als die bisher schon tätigen Akteure? Das Projekt „Mobiler Lotsenpunkt“ soll als ein extern finan ziertes Modellprojekt als zusätzliches Angebot im Hilfesys tem erprobt werden. Es ist nicht ersichtlich, wie daraus die o. g. „Auffassung des Staatsministeriums“ konstruiert wer den soll, „dass die Arbeit erfolgreicher betrieben werde als durch bereits tätige Akteure“. b) Was plant das StMAS nach Ablauf der Projektphase von einem Jahr mit dem „Mobilen Lotsenpunkt “? Es handelt sich beim „Mobilen Lotsenpunkt“ um ein extern finanziertes Pilotprojekt, das die Staatsregierung aufmerk sam verfolgt. Der Lotse Kinder und Jugendhilfe e. V. kann nach einem Jahr wie jeder andere Projektträger eine För derung aus Haushaltsmitteln beantragen. Sollte das Projekt erfolgreich verlaufen, wird die Staatsregierung auch bei den Kommunen um Unterstützung für das Projekt werben. c) Was versteht Ministerpräsident Dr. Markus Söder unter einem engen Kontakt mit Verbänden und Kommunen, den er bei seinem Besuch in St. Bonifaz angekündigt hat, wenn schon eine Woche später ein Angebot angekündigt wird, das, nach eigener Aussage der Verbände und der Landeshauptstadt , mit beiden nicht abgestimmt ist? Am 02.07.2018 wurde der Runde Tisch Obdachlosigkeit eingerichtet, dessen zweite Sitzung am 24.08.2018 stattge funden hat (siehe Antwort zu den Fragen 1 a bis 1 c). Dieser dient auch der engen Abstimmung zwischen der Staatsre gierung, den Verbänden und Kommunen. Darüber hinaus besteht über die durch die Staatsregierung geförderten Koordinierungsstellen Wohnungslosenhilfe Nord und Süd bayern ohnehin ein enger Kontakt zu Verbänden und Kom munen. 5. a) Welche Rolle spielt Ministerpräsident Dr. Markus Söder bei der Implementierung des „Mobilen Lotsenpunkts “? Ministerpräsident Dr. Markus Söder war in die Implementie rung des „Mobilen Lotsenpunkts“ nicht involviert. b) Was beabsichtigt das StMAS, um das offensichtlich verloren gegangene Vertrauen von Kommunen und Verbänden auf eine verlässliche Zusammenarbeit wieder herzustellen? Bei der zweiten Sitzung des Runden Tisches Obdachlo sigkeit am 24.08.2018, an dem auch Vertreter der Kom munalen Spitzenverbände und der Wohlfahrtsverbände teilgenommen haben, wurde u. a. die Implementierung des Pilotprojekts „Mobiler Lotsenpunkt“ besprochen und disku tiert. Der ebenfalls vertretene Trägerverein Lotse Kinder und Jugendhilfe e. V. hat das Projekt vorgestellt und dabei für eine gute Zusammenarbeit geworben. Die Staatsregierung wird auch in Zukunft den Runden Tisch Obdachlosigkeit weiterführen. c) Wie stellt sich das StMAS zu den von den Verbänden dargestellten Bedarfen, beispielsweise der flächendeckenden Betreuung wohnungsloser Menschen, die im Umland in Notunterkünften untergebracht sind? Die Zuständigkeit für die Betreuung liegt bei den Kommu nen. Von der Staatsregierung geförderte Modellprojekte können wichtige Impulse für diesen Bereich geben. Falls im Doppelhaushalt 2019/2020 ausreichende Mittel zur Verfü gung stehen, soll diese Förderung ausgeweitet werden. Darüber hinaus soll sich der Runde Tisch Obdachlosig keit in einer seiner nächsten Sitzungen inhaltlich mit dem Thema „sozialpädagogische Betreuung in Einrichtungen der Obdachlosenhilfe“ befassen. Dieses Thema ist bereits bei der ersten Sitzung des Runden Tisches von den Teilneh merinnen und Teilnehmern auf die Agenda gebracht worden.