Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Kerstin Celina BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 02.10.2018 Verhältnismäßigkeit medizinischer Eingriffe Eine im Freistaat Bayern wohnhafte blinde Person hat bei der für sie zuständigen Krankenkasse einen Antrag auf Auf nahme in die Familienversicherung gestellt. Im vorliegenden Fall ist die entsprechende Person der Rechtsauffassung, dass sie gemäß § 10 Abs. 2 Nr. 4 Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) in die Familienversicherung aufgenommen werden kann, da diese Person sowohl außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, als auch eine Behinderung (Blindheit) hat und diese Behinderung bereits zu einem Zeitpunkt hatte, zu dem diese Person bereits gemäß § 10 Abs. 2 Nrn. 1 und ‚ 2 SGB V familienversichert war. Im vorliegenden Fall lehnt die Krankenkasse eine Auf nahme in die Familienversicherung jedoch ab, da diese der Meinung ist, dass die entsprechende Person erwerbstätig sein kann und deshalb nicht außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Die entsprechende Person hat momentan noch keine Berufsausbildung. Im Freistaat Bayern gibt es zwar eine Einrichtung, wo blinde Personen berufliche Bildung er langen können. Die entsprechende Person ist jedoch außer stande, die entsprechende Einrichtung mit Internatsunter bringung zu besuchen, da die entsprechende Person an epileptischen Anfällen und an anderweitigen Krampfanfällen leidet. Gemäß § 63 SGB I soll, wer wegen Krankheit oder Be hinderung Sozialleistungen beantragt oder erhält, sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers einer Heilbe handlung unterziehen, wenn zu erwarten ist, dass sie eine Besserung seines Gesundheitszustands herbeiführen oder eine Verschlechterung verhindern wird. Gemäß § 65 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGB I bestehen die Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 64 nicht, soweit ihre Erfüllung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung oder ihrer Erstattung steht oder ihre Erfüllung dem Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zuge mutet werden kann. Gemäß § 65 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 SGB I können Behandlungen und Untersuchungen, bei denen im Einzelfall ein Schaden für Leben oder Gesundheit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, die mit erheblichen Schmerzen verbunden sind oder die einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeu ten, abgelehnt werden. Im vorliegenden Fall verlangt die Krankenkasse als zu ständiger Leistungsträger von der entsprechenden Person, dass sich diese Person im Rahmen einer Heilbehandlung gemäß § 63 SGB I einem operativen Eingriff am Gehirn un terzieht, um dadurch weitere epileptische Anfälle zu verhin dern. Vor diesem Hintergrund frage ich die Staatsregierung: 1.1 Wie beurteilt die Staatsregierung die rechtlichen Mög lichkeiten der Krankenkassen als zuständige Leis tungsträger, einen derartigen massiven Eingriff wie eine Gehirnoperation zu verlangen? 1.2 Inwieweit sieht die Staatsregierung die Verhältnismä ßigkeit gewahrt zwischen einer Heilbehandlung wie einer Gehirnoperation und der Aufnahme in die Famili enversicherung? 2. Inwieweit darf die Krankenkasse als zuständiger Leis tungsträger im Rahmen einer Heilbehandlung gemäß § 63 SGB I die Einnahme des Psychopharmakons Lithium verlangen, um dadurch weitere anderweitige Krampfanfälle wahrscheinlich zu verhindern, auch wenn die Gefahr einer Abhängigkeit von diesem Me dikament droht? 3. Sind der Staatsregierung Urteile des Bundessozialge richts bekannt, die derartige oder sehr ähnlich gelager te Fälle behandeln? Antwort des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 23.10.2018 Vorbemerkung: In der Schriftlichen Anfrage wird ein Fall geschildert, in dem die zuständige Krankenkasse bei einer blinden Person die Fortführung der beitragsfreien Familienversicherung über das 25. Lebensjahr hinaus abgelehnt hat. Grund sei, dass die erforderliche Voraussetzung des § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V, wonach die Person außerstande sein müsse, sich selbst zu unterhalten, nicht erfüllt sei. Die Ablehnung der Familienversicherung war bereits Ge genstand einer Anfrage zum Plenum am 30.05.2017. Auf die Drs. 17/17181 wird insoweit Bezug genommen. Im Nachgang hierzu werden nunmehr Fragen zur Beurtei lung der gesetzlichen Mitwirkungspflichten der §§ 60ff. SGB I gestellt, da die Krankenkasse von der betroffenen Person verlange, sich einem operativen Eingriff zu unterziehen, mit dem Ziel, sich selbst unterhalten zu können. Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www . bayern . landtag . de – Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www . bayern . landtag . de – Aktuelles / Sitzungen / Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 17.12.2018 Drucksache 17/24261 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/24261 1.1 Wie beurteilt die Staatsregierung die rechtlichen Möglichkeiten der Krankenkassen als zuständige Leistungsträger, einen derartigen massiven Ein griff wie eine Gehirnoperation zu verlangen? 1.2 Inwieweit sieht die Staatsregierung die Verhältnis mäßigkeit gewahrt zwischen einer Heilbehandlung wie einer Gehirnoperation und der Aufnahme in die Familienversicherung? Im Rahmen der Familienversicherung sind die bestehenden Mitwirkungspflichten von Mitgliedern nach § 10 Abs. 6 SGB V auf die für die Durchführung der Versicherung notwendigen Angaben beschränkt. Das Verlangen nach einem medizi nischen Eingriff ist davon nicht umfasst. Inwieweit unabhängig davon leistungsberechtigte Ver sicherte im Rahmen der allgemeinen Mitwirkungspflichten sich einer Heilbehandlung nach § 63 SGB I zu unterziehen haben, kann im Einzelfall nur die zuständige Krankenkasse entscheiden. Als Selbstverwaltungsträger erfüllen die Kran kenkassen ihre gesetzlichen Aufgaben grundsätzlich im Rahmen des Gesetzes und des sonst für sie maßgeblichen Rechts in eigener Verantwortung (§ 29 Abs. 3 SGB IV). Inso fern ist bei Vollzug von § 63 SGB I eine Bewertung seitens der Staatsregierung nicht vorgesehen. Der Mitwirkung von Leistungsberechtigten sind jedoch nach § 65 SGB I Grenzen gesetzt. Keine Mitwirkungspflicht besteht, wenn die Grundsätze von Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit nicht gewahrt sind (§ 65 Abs. 1 Nrn. 1–3 SGB I). Behandlungen, bei denen ein Schaden für Leben und Ge sundheit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, die mit erheblichen Schmerzen verbunden sind oder die einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten, können abgelehnt werden (§ 65 Abs. 2 Nrn. 1–3 SGB I). Eine entsprechende Bewertung hat durch einen Ausgleich der Interessenlagen der Solidargemeinschaft der gesetzlich Versicherten und des einzelnen Sozialleistungsberechtigten zu geschehen. Diese obliegt der zuständigen Krankenkasse oder in Konfliktfällen ggf. den Sozialgerichten. 2. Inwieweit darf die Krankenkasse als zuständiger Leistungsträger im Rahmen einer Heilbehandlung gemäß § 63 SGB I die Einnahme des Psychophar makons Lithium verlangen, um dadurch weitere anderweitige Krampfanfälle wahrscheinlich zu ver hindern, auch wenn die Gefahr einer Abhängigkeit von diesem Medikament droht? Art und Umfang der ärztlichen Leistung hat der behandeln de Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst im Rahmen seiner Therapiefreiheit zu bestimmen. Der Arzt hat auch die Entscheidung über die zu wählende Behandlungsmethode in Abstimmung mit dem Patienten zu treffen. Dabei ist der Patient im Rahmen der Behandlung umfassend zu informie ren bzw. aufzuklären (§§ 630c und e Bürgerliches Gesetz buch). Bei der Verschreibung von Arzneimitteln sind Ärzte im Hinblick auf die Wirkungen und Nebenwirkungen einer Me dikation zu besonderer Sorgfalt verpflichtet. Sie müssen mögliche Kontraindikationen und Wechselwirkungen mit an deren Arzneimitteln beachten. Der Krankenkasse ist es nicht gestattet, auf die ärztlich verordnete Behandlungsweise Einfluss zu nehmen. 3. Sind der Staatsregierung Urteile des Bundessozial gerichts bekannt, die derartige oder sehr ähnlich gelagerte Fälle behandeln? Aufgrund der Ausführungen zu den Fragen 1.1 und 1.2 be dürfte die Sachverhaltsdarstellung einer Konkretisierung, um ggf. vergleichbare Entscheidungen des Bundessozial gerichts benennen zu können.