Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Florian Ritter SPD vom 04.08.2014 Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen nach Art. 9 des Bayerischen Versammlungsgesetzes Am 21.01.2012 fand in Bückeburg in Niedersachsen eine Versammlung mit ca. 500 Teilnehmern zum Thema „Farbe bekennen – Für Demokratie und Vielfalt “ statt. Nach der Lagebeurteilung der Polizei im Vorfeld konnte ein unfriedlicher Verlauf der Versammlung angesichts einer hohen Konfliktbereitschaft gerade von in Bückeburg ansässigen Angehörigen der rechten bzw. linken Szene nicht ausgeschlossen werden. Die Polizeidirektion Göttingen setzte im Rahmen ihres begleitenden Einsatzes unter anderem ein Fahrzeug des Beweis- und Dokumentationstrupps ein, das in der Nähe der Einmündung einer auf den Rathausplatz führenden Straße abgestellt war. Dieses Fahrzeug verfügte über eine sog. Mastkamera, die durch eine Öffnung im Dach des Fahrzeugs bis auf rund vier Meter ausgefahren werden kann, was knapp 40 Sekunden dauert. Während der Versammlung war der Mast mit der Kamera auf ca. die Hälfte der maximalen Höhe ausgefahren. Nach Angaben der Polizeidirektion war die Kamera nicht im Einsatz. Die Versammlung verlief friedlich. Ein Versammlungsteilnehmer fühlte sich aufgrund der Einsatzmodalitäten des Beobachtungsfahrzeuges in seiner Versammlungsfreiheit verletzt. Dieser Wertung schloss sich die 10. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover mit Urteil vom 14. Juli 2014 an: Das Grundrecht umfasse, so das Gericht, auch die sog. „innere” Versammlungsfreiheit von (potenziellen) Teilnehmern. Diese werde schon dann berührt , wenn bei den (potenziellen) Teilnehmern der Eindruck entstehen könne oder müsse, dass die Polizei von dem Versammlungsgeschehen Bild- und/oder Tonaufnahmen anfertige oder übertrage. Dabei komme es für die Grundrechtsbetroffenheit nicht entscheidend darauf an, ob das tatsächlich der Fall sei, denn ein Versammlungsteilnehmer, zumal wenn er sich in einiger Entfernung vom Beobachtungswagen befinde , könne von außen nicht hinreichend sicher beurteilen, ob die Kamera tatsächlich laufe oder nicht. Eine Beobachtungskamera in der geschehenen Weise für einen Einsatz bereitzuhalten, sei als Maßnahme der vorbeugenden Gefahrenabwehr auf der Grundlage von § 12 des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes nur dann erforderlich und damit gerechtfertigt, wenn nach den konkreten Umständen ein unfriedlicher Verlauf des Versammlungsgeschehens unmittelbar bevorstehe. Das sei bei der betroffenen Versammlung unstreitig nicht der Fall gewesen. Im Hinblick auf die Bedeutung des Grundrechtes der Versammlungsfreiheit müsse die Polizei grundsätzlich die geringe Verzögerung, die eine Herstellung der Einsatzbereitschaft einer zunächst komplett eingefahrenen Kamera mit sich bringe, hinnehmen. Im Hinblick auf die Parallelvorschrift des Art. 9 des Bay- erischen Versammlungsgesetzes zu § 12 des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes frage ich die Staatsregierung : 1. Wie beurteilt die Staatsregierung die Entscheidung des VG Hannover vom 14.07.2014 Az.: 10 A 226/13? 2. Was sind genau die tatbestandsmäßigen Vorausset- zungen des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG? a) Unterscheiden sich, nach Meinung der Staatsregie- rung, die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG von denen des § 12 Abs. 1 Satz 1 Niedersächsisches Versammlungsgesetz? b) Wenn ja, was sind, nach Meinung der Staatsregierung, die Unterschiede? 3. Umfasst, nach Meinung der Staatsregierung, die Er- mächtigungsnorm des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG unter denselben tatbestandsmäßigen Beschränkungen der Vorschrift („… wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen (Anmerk. d. Verf.: von Versammlungsteilnehmern) erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen“) auch reine Vorbereitungshandlungen für die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen bei oder im Zusammenhang mit Versammlungen , wie z.B. das Ausfahren einer auf einem Teleskop angebrachten Videokamera aus dem Dach eines Polizeifahrzeugs, die Positionierung von mit Videokameras ausgestatteten Polizeibeamten entlang der Versammlung, usw.? 4. Wenn, nach Meinung der Staatsregierung, die Er- mächtigungsnorm des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG die reinen Vorbereitungshandlungen für die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen bei oder im Zusammenhang mit Versammlungen nicht umfasst, auf welcher gesetzlichen Grundlage basieren die in Frage 3 bezeichneten oder ähnliche Vorbereitungshandlungen für die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen bei oder im Zusammenhang mit Versammlungen? 5. Im Fall des Verneinens der Frage 3: Sieht die Staats- regierung einen gesetzlichen Handlungsbedarf, die Befugnisnorm des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG dahingehend zu erweitern, dass die Vorschrift auch Vorbereitungshandlungen für die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen bei oder im Zusammenhang mit Versammlungen umfasst? 6. Aufgrund welcher Einsatzmodalitäten nimmt die Poli- zei ihre Befugnis nach Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG zur Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen bei und im Zusammenhang mit Versammlungen in gewöhnlicher Weise wahr? Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de –Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de – Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 25.10.2014 17/3018 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/3018 7. Wie stellt die Polizei im Zusammenhang mit der Befugnis des Art. 9 BayVersG sicher, dass ein Versammlungsteilnehmer , der sich noch dazu in einiger Entfernung zur Polizeikamera befindet, sicher erkennen kann, dass die Polizeikamera tatsächlich läuft oder nicht? Antwort des Staatsministeriums des Innern, für Bau und Verkehr vom 05.09.2014 1. Wie beurteilt die Staatsregierung die Entscheidung des VG Hannover vom 14.07.2014 Az.: 10 A 2226/13? Die Entscheidung des VG Hannover ist der Staatsregierung bekannt. Da sie ausschließlich das Niedersächsische Versammlungsgesetz und damit die alleinige Zuständigkeit des Landes Niedersachsen betrifft, enthält sich die Staatsregierung aus grundsätzlichen Erwägungen einer Bewertung. 2. Was sind genau die tatbestandsmäßigen Voraus- setzungen des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG? a) Unterscheiden sich, nach Meinung der Staatsre- gierung, die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG von denen des § 12 Abs. 1 Satz 1 Niedersächsisches Versammlungsgesetz ? b) Wenn ja, was sind, nach Meinung der Staatsregierung , die Unterschiede? Die Fragen 2, 2 a und 2 b werden wegen des inhaltlichen Zusammenhangs gemeinsam beantwortet. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG hat folgenden Wortlaut: Die Polizei darf bei oder im Zusammenhang mit Ver- sammlungen Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen von Teilnehmern nur offen und nur dann anfertigen , wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Die Befugnis zur Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen in Art. 9 Abs. 1 BayVersG bezieht sich sowohl auf öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel als auch auf Versammlungen in geschlossenen Räumen. Das Niedersächsische Versammlungsgesetz differenziert insofern und enthält zwei verschiedene, auch in den Tatbestandsvoraussetzungen voneinander abweichende Bestimmungen . § 12 Abs. 1 Satz 1 Niedersächsisches Versammlungsgesetz (NVersG) lautet: Die Polizei kann Bild- und Tonaufzeichnungen von einer bestimmten Person auf dem Weg zu oder in einer Versammlung unter freiem Himmel offen anfertigen, um eine von dieser Person verursachte erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwehren. Ergänzend wird auf § 17 Abs. 1 NVersG hingewiesen: (1) 1Die Polizei kann Bild- und Tonaufzeichnungen von einer bestimmten Person in einer Versammlung in geschlossenen Räumen offen anfertigen, um eine von die- ser Person verursachte unmittelbare Gefahr für die Friedlichkeit der Versammlung abzuwehren. 2Die Maßnahme darf auch durchgeführt werden, wenn andere Personen unvermeidbar betroffen werden. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG erfordert eine begründete Gefahrenprognose der Polizei („tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen“), die gestützt auf konkrete Umstände und einsatztaktische Erfahrungen den Schluss zulässt, dass von bestimmten Versammlungsteilnehmern – auch opponierende Teilnehmer in einer friedlichen Versammlung – erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Die Polizei soll bei einer entsprechenden Gefährdungsentwicklung in die Lage versetzt werden, frühzeitig auf Störungen reagieren und diese möglichst unterbinden und effektiv abwehren zu können. In Hinblick auf die Ausstrahlungswirkung für die Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit ist das rechtsstaatliche Gebot der Verhältnismäßigkeit zu beachten (vgl. Art. 9 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 und 5 BayVersG). § 12 Abs. 1 Satz 1 NVersG ist demgegenüber auf die Abwehr einer bereits verursachten – also unmittelbaren – erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit beschränkt. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes sind somit enger; es stellt diesbezüglich höhere Anforderungen. Sowohl Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG als auch § 12 Abs. 1 Satz 1 NVersG erfassen nicht nur das Versammlungsgeschehen als solches, sondern auch erforderliche Maßnahmen im Rahmen von Vorkontrollen („bei und im Zusammenhang mit Versammlungen“ bzw. „auf dem Weg zu oder in einer Versammlung“). 3. Umfasst, nach Meinung der Staatsregierung, die Ermächtigungsnorm des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG unter denselben tatbestandsmäßigen Beschränkungen der Vorschrift („... wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von ihnen (Anmerk. d. Verf.: von Versammlungsteilnehmern ) erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen“) auch reine Vorbereitungshandlungen für die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen bei oder im Zusammenhang mit Versammlungen , wie z. B. das Ausfahren einer auf einem Teleskop angebrachten Videokamera aus dem Dach eines Polizeifahrzeugs, die Positionierung von mit Videokameras ausgestatteten Polizeibeamten entlang der Versammlung, usw.? 4. Wenn, nach Meinung der Staatsregierung, die Ermächtigungsnorm des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG die reinen Vorbereitungshandlungen für die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen bei oder im Zusammenhang mit Versammlungen nicht umfasst, auf welcher gesetzlichen Grundlage basieren die in Frage 3 bezeichneten oder ähnliche Vorbereitungshandlungen für die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen bei oder im Zusammenhang mit Versammlungen? 5. Im Fall des Verneinens der Frage 3: Sieht die Staatsregierung einen gesetzlichen Handlungsbedarf , die Befugnisnorm des Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG dahingehend zu erweitern, dass die Drucksache 17/3018 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 Vorschrift auch Vorbereitungshandlungen für die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen bei oder im Zusammenhang mit Versammlungen umfasst? Die Fragen 3 bis 5 werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG gestattet auch Vorbereitungsmaßnahmen für das Anfertigen von Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen, sobald sich eine entsprechende Gefährdungsentwicklung konkret abzeichnet. Andernfalls liefe die Befugnis in der Praxis leer. Die Staatsregierung sieht keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf . 6. Aufgrund welcher Einsatzmodalitäten nimmt die Polizei ihre Befugnis nach Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG zur Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen bei und im Zusammenhang mit Versammlungen in gewöhnlicher Weise wahr? Wie bereits zu Frage 2 dargestellt, erfordert Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVersG eine begründete Gefahrenprognose, die gestützt auf konkrete Umstände und einsatztaktische Erfahrungen den Schluss zulässt, dass von bestimmten Versammlungsteilnehmern erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen und -aufzeichnungen erfolgt somit immer nach Einzellfallbeurteilung bei vorliegender positiver Gefährdungsprognose im Rahmen der engen Voraussetzungen dieser Norm. 7. Wie stellt die Polizei im Zusammenhang mit der Befugnis des Art. 9 BayVersG sicher, dass ein Versammlungsteilnehmer , der sich noch dazu in einiger Entfernung zur Polizeikamera befindet, sicher erkennen kann, dass die Polizeikamera tatsächlich läuft oder nicht? Das BayVersG lässt polizeiliche Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen nur offen, d. h. für die Versammlungsteilnehmer erkennbar, zu. Erforderlich, aber auch ausreichend ist die ungehinderte Möglichkeit einer Kenntnisnahme von den erfolgenden Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen durch die Betroffenen. Dies geschieht in der Praxis durch deutliche Kenntlichmachung der eingesetzten Beamten und – sofern angezeigt – zusätzliche Hinweise . So wird besonderer Wert auf die Erkennbarkeit der Polizeikräfte und eingesetzten Videotrupps gelegt (Uniform, Überziehweste mit der Aufschrift „Polizei“). Auch die Fahrzeuge der Videotrupps werden deutlich als Polizeifahrzeuge kenntlich gemacht. Des Weiteren werden z. B. die Videokameras der Dokumentationsfahrzeuge bei Inaktivität deutlich sichtbar vom Versammlungsgeschehen weggedreht. Ob jeder betroffene Versammlungsteilnehmer das Aufnehmen oder Aufzeichnen persönlich tatsächlich wahrnimmt, ist nicht erforderlich und auch praktisch nicht rechtssicher zu gewährleisten. Aus diesen Gründen besteht für die Aufnahme einer solchen zusätzlichen Tatbestandseinschränkung keine Veranlassung.