Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Katharina Schulze, Jürgen Mistol BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 24.11.2014 Wahlrecht für EU-Bürger bei Bezirkstagswahlen Wir fragen die Staatsregierung: 1. Ist die Bezirkstagswahl eine Kommunalwahl i. S. von Art. 22 I AEUV, und wenn nein, warum nicht? 2. Haben nichtdeutsche EU-Bürgerinnen und Bürger mit Wohnsitz in Bayern Wahlrecht bei der Bezirkstagswahl, wenn nein, warum nicht, und wie ist dies mit Art. 22 I AEUV vereinbar? 3. Wurde für die Bezirkstagswahl eine Ausnahmeregelung i. S. des Art. 22 I AUEV vom Rat festgelegt? 4. Gibt es Rechtsakte oder Schreiben der Europäischen Union, die Bezirkstagswahl von Art. 22 I AEUV auszunehmen , bzw. hat sich die Europäische Union gegenüber der Staatsregierung zum Thema „Wahlrecht von EU-Bürgerinnen und -Bürgern bei Bezirkstagswahlen“ schriftlich geäußert, und wenn ja, wann und mit welchem Inhalt? 5. Wurde bereits gerichtlich überprüft, ob nichtdeutsche EUBürgerinnen und -Bürger mit Wohnsitz in Bayern Wahlrecht bei der Bezirkstagswahl haben, und wenn ja, wann und wo wurde entschieden und welche Stellungnahme hat die Staatsregierung dazu abgegeben? 6. Ist eine Novellierung des Wahlrechts dahingehend angedacht , dass bei künftigen Bezirkstagswahlen allen EUBürgerinnen und -Bürgern das aktive und passive Wahlrecht zusteht, und wenn ja, welche Gesetze müssten geändert werden? 7. Wie hat die Staatsregierung auf die Forderung der Mehrheit des Bezirks Oberbayern aus dem Jahr 2012 reagiert, die die Änderung des Wahlrechts zugunsten von EU-Bürgerinnen und Bürgern beinhaltete? Antwort des Staatsministeriums des Innern, für Bau und Verkehr vom 02.01.2015 1. Ist die Bezirkstagswahl eine Kommunalwahl i. S. von Art. 22 I AEUV, und wenn nein, warum nicht? Nach Art. 22 Abs. 1 Satz 1 AEUV (Vorgängernormen Art. 19 EGV bzw. Art. 8 b EGV) hat jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen , wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. Dieses Recht wird nach Art. 22 Abs. 1 Satz 2 AEUV „vorbehaltlich der Einzelheiten ausgeübt, die vom Rat einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments festgelegt werden; in diesen können Ausnahmeregelungen vorgesehen werden, wenn dies aufgrund besonderer Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt ist“. Die Einzelheiten i. S. d. Art. 22 Abs. 1 Satz 2 AEUV sind – in europarechtlicher Hinsicht abschließend – geregelt in der Richtlinie 94/80/EG des Rates vom 19. Dezember 1994 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen. In den Erwägungsgründen der Richtlinie wird ausgeführt, dass die Anwendung des Art. 8 b EGV (heute Art. 22 AEUV) keine globale Harmonisierung der Wahlrechtsordnungen der Mitgliedstaaten voraussetze. Die Kommunalverwaltung der Mitgliedstaaten spiegle politische und rechtliche Traditionen wider und zeichne sich durch eine große Vielfalt der Strukturen aus. Der Begriff der Kommunalwahlen sei nicht in allen Mitgliedstaaten identisch. Daher solle der Gegenstand der Richtlinie durch die Definition des Begriffs der Kommunalwahlen präzisiert werden. Diese Wahlen schließen die allgemeinen und unmittelbaren Wahlen auf der Ebene der lokalen Gebietskörperschaften der Grundstufe und ihrer Untergliederungen ein. Es handle sich sowohl um die allgemeinen unmittelbaren Wahlen zu den kommunalen Vertretungskörperschaften als auch um die Wahlen der Mitglieder der kommunalen Exekutivorgane. Dementsprechend regelt Art. 2 Abs. 1 Buchst. b) der Richtlinie 94/80/EG, dass „Kommunalwahlen“ im Sinne von Art. 22 Abs. 1 Satz 1 AEUV die allgemeinen, unmittelbaren Wahlen sind, die darauf abzielen, die Mitglieder der Vertretungskörperschaft und gegebenenfalls gemäß den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats den Leiter und die Mitglieder des Exekutivorgans einer lokalen Gebietskörperschaft der Grundstufe zu bestimmen. Der Ausdruck „lokale Gebietskörperschaft der Grundstufe“ bezeichnet nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. a) der Richtlinie die im Anhang der Richtlinie aufge- Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de –Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de – Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 16.02.2015 17/4885 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/4885 führten Verwaltungseinheiten, die nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften in allgemeiner, unmittelbarer Wahl gewählte Organe besitzen und auf der Grundstufe der politischen und administrativen Organisation für die Verwaltung bestimmter örtlicher Angelegenheiten unter eigener Verantwortung zuständig sind. Der Anhang zur Richtlinie enthält in Bezug auf Deutschland folgende abschließende Aufzählung von Verwaltungseinheiten : Kreisfreie Stadt bzw. Stadtkreis; Kreis; Gemeinde, Bezirk in der Freien und Hansestadt Hamburg und im Land Berlin; Stadtgemeinde Bremen in der Freien Hansestadt Bremen, Stadt-, Gemeinde- oder Ortsbezirke bzw. Ortschaften. Die Auflistung lässt eine Einordnung der bayerischen Bezirke als vom Anwendungsbereich erfasste „lokale Gebietskörperschaften der Grundstufe“ eindeutig nicht zu (vgl. VG Ansbach, Urt. vom 13.01.2000, AN 4 K 98.01701, juris; Wegmann , KommP 1995, 367 (368); Wollenschläger/Schraml, BayVBl. 1995, 385 (386)); die im Anhang der Richtlinie aufgeführten „Bezirk[e] in der Freien und Hansestadt Hamburg und im Land Berlin“ sind insbesondere nicht mit den bayerischen Bezirken gleichzusetzen. Dementsprechend sind die bayerischen Bezirke von den Regelungen zur Einführung des Kommunalwahlrechts für EU-Ausländer nicht erfasst. 2. Haben nichtdeutsche EU-Bürgerinnen und Bürger mit Wohnsitz in Bayern Wahlrecht bei der Bezirkstagswahl , wenn nein, warum nicht, und wie ist dies mit Art. 22 I AEUV vereinbar? Nach Art. 4 Abs. 1 Nr. 1 Bezirkswahlgesetz (BezWG) i. V. m. Art. 1 Abs. 1, Art. 22 Satz 1 Landeswahlgesetz (LWG) dürfen bei den Wahlen des Bezirkstags nur Deutsche im Sinn des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), d. h. alle deutschen Staatsangehörigen oder ihnen nach Art. 116 Abs. 1 GG gleichgestellte Personen, wählen und gewählt werden , die am Tag der Abstimmung das 18. Lebensjahr vollendet haben, seit mindestens drei Monaten ihre Wohnung (bei mehreren Wohnungen die Hauptwohnung) oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bezirk haben und nicht vom Stimmrecht ausgeschlossen sind. Die gesetzliche Regelung, dass EU-Bürgern auf Bezirksebene – anders als auf Gemeinde- und Landkreisebene – kein (aktives und passives) Wahlrecht zukommt, entspricht den hierzu bestehenden verfassungsrechtlichen Vorgaben gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG, wonach (nur) bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar sind, und steht auch im Einklang mit Europarecht – insbesondere mit Art. 22 Abs. 1 AEUV (s. o.). 3. Wurde für die Bezirkstagswahl eine Ausnahmeregelung i. S. des Art. 22 I AUEV vom Rat festgelegt? Für die Wahlen der bayerischen Bezirkstage wurde vom Rat keine Ausnahmeregelung i. S. d. Art. 22 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 AEUV festgelegt, was insbesondere der Richtlinie 94/80/ EG zu entnehmen ist. 4. Gibt es Rechtsakte oder Schreiben der Europäischen Union, die Bezirkstagswahl von Art. 22 I AEUV auszunehmen , bzw. hat sich die Europäische Union gegenüber der Staatsregierung zum Thema „Wahlrecht von EU-Bürgerinnen und -Bürgern bei Bezirkstagswahlen “ schriftlich geäußert, und wenn ja, wann und mit welchem Inhalt? Es gibt keine derartigen Rechtsakte oder Schreiben bzw. Äußerungen der Europäischen Union gegenüber der Staatsregierung . Insbesondere hat auch die Europäische Kommission in ihrem Bericht an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Richtlinie 94/80/EG über das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, vom 09.03.2012 die bayerische Regelung zur Wahl der Bezirkstage nicht thematisiert . 5. Wurde bereits gerichtlich überprüft, ob nichtdeutsche EU-Bürgerinnen und -Bürger mit Wohnsitz in Bayern Wahlrecht bei der Bezirkstagswahl haben, und wenn ja, wann und wo wurde entschieden und welche Stellungnahme hat die Staatsregierung dazu abgegeben? Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach wies mit Urteil vom 13.01.2000 – AN 4 K 98.01701 (juris) eine Klage ab, in welcher ein österreichischer und ein italienischer Kläger beantragten festzustellen, dass die Ablehnung ihrer Aufnahme in das Wählerverzeichnis zu den Bezirkstagswahlen vom 13.09.1998 rechtswidrig war. Sie begründeten dies im Wesentlichen unter Verweis auf die Bestimmungen der Richtlinie 94/80/EG. Eine Stellungnahme der Staatsregierung wurde in diesem Verfahren nicht abgegeben. 6. Ist eine Novellierung des Wahlrechts dahingehend angedacht, dass bei künftigen Bezirkstagswahlen allen EU-Bürgerinnen und -Bürgern das aktive und passive Wahlrecht zusteht, und wenn ja, welche Gesetze müssten geändert werden? Eine solche Änderung des Wahlrechts ist nicht beabsichtigt. Bei einer Änderung des Wahlrechts wäre auch zu be- rücksichtigen, dass das Grundgesetz eine Teilnahme von Ausländern an Wahlen und Abstimmungen grundsätzlich ausschließt, indem Art. 20 Abs. 2 GG bestimmt, dass das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland Träger und Subjekt aller Staatsgewalt ist. Das Staatsvolk wird von den deutschen Staatsangehörigen und den ihnen nach Art. 116 Abs. 1 GG gleichgestellten Personen gebildet. Dies gilt zunächst für die Bundesebene, über das Homogenitätsprinzip des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG aber auch für die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern und auf kommunaler Ebene . Daher bedurfte es einer ausdrücklichen Öffnung des Grundgesetzes durch Aufnahme des Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG mit Gesetz vom 21.12.1992 (BGBl I S. 2086), um ausländischen Unionsbürgern die Teilnahme an Wahlen zu kommunalen Vertretungskörperschaften auf Gemeinde- und Landkreisebene ermöglichen zu können (Maunz/Dürig Art. 28 Rn. 41 c). Nach Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG sind bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar. Die Wahl des Bezirkstags ist von dieser Vorschrift hingegen nicht umfasst. Eine Ausdehnung des Kommunalwahlrechts der EUBürger auf Bezirkswahlen würde somit eine Änderung des Grundgesetzes voraussetzen, was gemäß Art. 79 Abs. 2 GG der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Drucksache 17/4885 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates bedarf. 7. Wie hat die Staatsregierung auf die Forderung der Mehrheit des Bezirks Oberbayern aus dem Jahr 2012 reagiert, die die Änderung des Wahlrechts zugunsten von EU-Bürgerinnen und Bürgern beinhaltete? Zu der vom Bezirkstag von Oberbayern im Schreiben des Bezirkstagspräsidenten vom 16.01.2013 an den Bayerischen Landtag gerichteten Forderung hat das Bayerische Staatsministerium des Innern gegenüber dem Bayerischen Landtag mit Schreiben vom 25.04.2013 Stellung genommen (Az. VF. 0966.16). Hierbei wurde auf die einfachgesetzliche Rechtslage, verfassungsrechtliche Vorgaben und das Europarecht eingegangen. Der Ausschuss für Verfassung , Recht, Parlamentsfragen und Verbraucherschutz hat am 13.06.2013 beschlossen, die Eingabe (Az. VF. 0966.16) aufgrund der Erklärung der Staatsregierung als erledigt zu betrachten (§ 80 Nr. 4 GO-LT).