Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Hans-Ulrich Pfaffmann SPD vom 25.11.2014 Flüchtlingstragödie im Nahen Osten In einer Pressemitteilung der Bayerischen Staatsregierung vom 10.11.2014 zum bevorstehenden Besuch von Europaministerin Dr. Beate Merk in der Türkei warnte die Ministerin angesichts des „ungebremsten Zustroms von Flüchtlingen“ aus Syrien und Irak vor „einer humanitären Katastrophe“ und einer „Weiterwanderung mit neuen Flüchtlingsströmen“ (von der Türkei u. a. nach Bayern). Daher sei die „Flüchtlingstragödie im Nahen Osten“ ein „gemeinsames Problem“, das nach Auffassung der Ministerin durch eine „zielgerichtete , gemeinsame europäische Außen- und Entwicklungspolitik , die vor allem auch die Türkei einbezieht“, gelöst werden müsse – mit dem Ziel, „Flüchtlingsströme” gar nicht erst „entstehen“ zu lassen. Ferner wollte sie sich vor Ort in einem Flüchtlingscamp informieren, ob „vor allem auch seitens der Europäischen Union wirklich genügend getan wird, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern“. In diesem Zusammenhang frage ich die Staatsregierung: 1. Welche gemeinsame außen- und entwicklungspolitische Strategie verfolgt die Staatsregierung im Rahmen ihrer Europapolitik? 2. Auf welche Weise wird die Türkei dabei einbezogen? 3. Welche konkreten Initiativen auf Bundes- und Europaebene hat die Staatsregierung zum Thema Flüchtlingspolitik allgemein und zur Verhinderung humanitärer Katastrophen im Besonderen bisher ergriffen? 4. a) Welche Vorschläge hat die Bayerische Staatsregierung konkret, um in Syrien Flüchtlingsbewegungen erst gar nicht entstehen zu lassen, wie in der Pressemitteilung gefordert? b) Wie möchte sie diese umsetzen? c) Und was soll nach Auffassung der Staatsregierung die EU konkret tun, um humanitäre Katastrophen z. B. an der türkischen Ostgrenze zu verhindern? Antwort des Staatsministeriums für Europaangelegenheiten und regionale Beziehungen in der Bayerischen Staatskanzlei vom 19.01.2015 1. Welche gemeinsame außen- und entwicklungspolitische Strategie verfolgt die Staatsregierung im Rahmen ihrer Europapolitik? In der Europäischen Union (EU) werden die außen- und entwicklungspolitischen Fragen grundsätzlich von den Mitgliedstaaten selbst oder gemeinsam in den zuständigen EUOrganen entschieden. Das Handeln der Staatsregierung in den Bereichen Außen- und Entwicklungspolitik ist daher eingebunden in die Gesamtstrategie auf deutscher und europäischer Ebene. Die aktuelle Dimension von Flucht und Vertreibung in der Welt stellt die Weltgemeinschaft und insbesondere die EU vor große Herausforderungen. Derzeit sind über 50 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht vor Verfolgung, Gewalt und Krieg, meist im eigenen Land oder in Nachbarländern . Allein in Syrien und den benachbarten Staaten sind nach Angaben des UNHCR derzeit über 11,5 Millionen Flüchtlinge registriert. Die Sicherung einer menschenwürdigen Unterbringung, ausreichender Verpflegung sowie die Bereitstellung medizinischer Betreuung und die Einhaltung hygienischer Mindeststandards in den Flüchtlingslagern überfordern die betroffenen Staaten bereits in vieler Hinsicht . Die EU muss daher auch weiterhin daran arbeiten, Antworten auf die drängendsten Fragen der Flüchtlings- und Asylproblematik zu geben. Bayern wirkt hieran aktiv mit. Dies kann angesichts der Dimension und Komplexität der zu lösenden Fragen aber nur im Rahmen einer gemeinsamen Außen- und Entwicklungspolitik aller Mitgliedstaaten der EU erfolgreich sein. Deshalb unterstützt die Staatsregierung die folgenden aktuellen entwicklungspolitischen Forderungen der Bundesregierung an die EU: • Unterstützung von Flüchtlingen in Not mit einer EU-Son- dermilliarde: Nicht nur organisatorisch, sondern auch finanziell hat die EU sich bislang nicht ausreichend auf die Flüchtlingskrise eingestellt. Zur Finanzierung von Sofortmaßnahmen in den Krisenstaaten fordert Bundesminister Dr. Gerd Müller deshalb zu Recht eine Sondermilliarde der EU. Finanziert werden soll diese vor allem für die Winterhilfe gedachte Sondermilliarde aus dem bestehenden Haushalt der EU. • Stärkung von Entwicklungspartnerschaften mit Krisenländern : Insgesamt muss es Ziel eines europäischen Gesamtansatzes im Bereich der Flüchtlings- und Asylpolitik sein, den weltweiten Flüchtlingsströmen vor allem auch durch eine präventive Stärkung von Wirtschaft, Gesellschaft und Verwaltung in den Krisenregionen zu begegnen . Deshalb muss die EU künftig noch stärker mit den Krisenländern kooperieren. Einen möglichen Ansatz hierfür bieten etwa neue Formen der Entwicklungspartner- Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de –Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de – Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 06.03.2015 17/4955 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/4955 schaft. Europäische Entwicklungsgelder sollten verstärkt für Maßnahmen der Krisenprävention, der Verbesserung der Gesundheits- und Bildungssysteme und der Schaffung von Arbeitsplätzen für junge Menschen verwendet werden. • Aufbau einer europäischen zivilen Eingreifgruppe: Um Europas Handlungsfähigkeit in Krisen- und Flüchtlingsregionen sicherzustellen, fordert Bayern gemeinsam mit Bundesminister Dr. Gerd Müller dringend den Aufbau einer festen Friedenseinheit als mobile Eingreifgruppe vor allem von Ärzten, Krankenschwestern, Sozialarbeitern, Ingenieuren und Technikern. Denn nicht nur zur Soforthilfe , sondern auch zum Aufbau der notwendigen Infrastruktur in den Flüchtlingsregionen sowie zum Aufbau zerstörter Gebiete ist diese neue Form einer mobilen zivilen Einheit notwendig. Daneben hält die Staatsregierung angesichts der weiter ansteigenden Flüchtlingszahlen in Europa folgende Maßnahmen der EU für notwendig: • Verbesserter Schutz der EU-Außengrenzen: Hierzu muss die EU insbesondere den Kampf gegen kriminelle Schlepper und Menschenhändler weiter intensivieren. Erforderlich ist außerdem eine generelle Verschärfung der Grenzüberwachung durch die Mitgliedstaaten – auch durch verstärkte gemeinsame Operationen mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Ziel der unlängst angelaufenen Operation „Triton“ ist es, irreguläre Migration noch stärker zu bekämpfen als bisher. • Konsequente Anwendung und Umsetzung des EU-Asylsystems (Dublin-III) durch alle EU-Mitgliedstaaten: Die Dublin-III-Verordnung der EU gibt klar vor, dass im Regelfall der EU-Mitgliedstaat der Ersteinreise für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Die ungleiche Verteilung der Flüchtlinge in der EU legt jedoch den Schluss nahe, dass einige Mitgliedstaaten Flüchtlinge bei der Ersteinreise in ihr Land nicht (ausreichend) registrieren . Dies ist nicht akzeptabel. Sofern sich dies nicht ändert , wird Bayern daher gegenüber dem Bund und der EU auf die Klarstellung drängen, dass Binnengrenzkontrollen in der EU zulässig sind, wenn ein anderer Mitgliedstaat das geltende EU-Asylsystem bricht. • Gerechte Verteilung der Flüchtlinge in der EU: Angesichts der besonderen Belastung vor allem von Italien und Deutschland fordert die Staatsregierung von der EU, zu prüfen, ob es Möglichkeiten für eine gerechtere Verteilung der Asylbewerber in der EU gibt. Die EU darf Mitgliedstaaten, die mit einem Ansturm an Flüchtlingen konfrontiert sind, nicht alleinlassen. • Temporäre Aussetzung der Visafreiheit der Westbalkanstaaten : Seit Aufhebung der Visumspflicht für Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und Albanien ist die Zahl der in Deutschland von Staatsangehörigen dieser Staaten gestellten Asylanträge sprunghaft gestiegen. Die entsprechenden Anerkennungsquoten tendieren jedoch gegen null. Um derartigen Entwicklungen zu begegnen, wurde vor allem auf deutschen Druck hin im EU-Recht ein Mechanismus geschaffen, mit dem die Visafreiheit von Drittstaaten durch die Europäische Kommission temporär ausgesetzt werden kann, wenn eine Notlage dies erfordert. Die Staatsregierung fordert daher von der Europäischen Kommission, hiervon konsequent Gebrauch zu machen. 2. Auf welche Weise wird die Türkei dabei einbezogen ? Angesichts der enormen Flüchtlingsströme sind die Nachbarländer besonders gefordert, die an Flüchtlingsstaaten angrenzen. Dies gilt auch für die Türkei, die mit einem massiven Ansturm von Flüchtlingen, vor allem aus Syrien, konfrontiert ist. Bei der Unterbringung und Versorgung der Hilfe suchenden Menschen vollbringt die Türkei eine humanitäre Leistung, die wir in hohem Maße anerkennen. Es ist unsere gemeinsame europäische Verantwortung, dazu beizutragen, dass die besonders belasteten Staaten ihren enormen Herausforderungen gerecht werden können. Dies gilt umso mehr für die Türkei, die eine gemeinsame Außengrenze mit den EU-Staaten Griechenland und Bulgarien hat. Solange die Nachbarländer den Flüchtlingen heimatnah eine Perspektive bieten können, werden Flüchtlingsströme aus sicheren Nachbarländern weiter in die EU gar nicht erst entstehen. Daher müssen auch die EU-Nachbarstaaten und Transitstaaten in die europäische Außen- und Entwicklungspolitik eingebunden werden, sowohl was die finanzielle Unterstützung von Flüchtlingen als auch was die Sicherung der europäischen Außengrenzen angeht. 3. Welche konkreten Initiativen auf Bundes- und Europaebene hat die Staatsregierung zum Thema Flüchtlingspolitik allgemein und zur Verhinderung humanitärer Katastrophen im Besonderen bisher ergriffen? Ausweislich der unter Frage 1 dargestellten bayerischen Forderungen und Initiativen bringt sich die Staatsregierung auf europäischer und internationaler Ebene in vielfältiger Weise in das Thema der Einwanderungs- und Asylpolitik ein. In diesem Zusammenhang reiste die bayerische Staatsministerin für Europaangelegenheiten und regionale Beziehungen Dr. Beate Merk etwa im Januar 2014 nach Tunesien , führte Gespräche mit der tunesischen Regierung, Vertreter(n)/-innen des UNHCR und der IOM und besuchte eine Flüchtlingsanlaufstelle der Caritas in Tunis. Zudem traf sich Frau Staatsministerin Dr. Beate Merk mit Vertretern der Regierungen Italiens und Österreichs, um dort über die Bewältigung der Flüchtlingsströme über das Mittelmeer und die gerechtere Verteilung von Flüchtlingen in der EU zu sprechen. Im November 2014 kamen auf Einladung von Frau Staatsministerin Dr. Merk in der Region Syrien/Nordirak engagierte bayerische Hilfsorganisationen zu einem Treffen in der bayerischen Staatskanzlei zusammen. Um sich ein eigenes Bild unmittelbar vor Ort zu verschaffen , besuchte Frau Staatsministerin Dr. Merk ebenfalls im November des vergangenen Jahres in der Türkei die Grenzregion zu Syrien. Neben zahlreichen Gesprächen vor Ort, unter anderem mit Vertreter(innen) von Hilfsorganisationen, Vereinten Nationen und Europäischem Auswärtigen Dienst, besuchte Frau Staatsministerin dabei auch eines der Flüchtlingscamps im Umkreis von Gaziantep. Die Flüchtlingspolitik war auch zentrales Thema des Besuchs von Staatsministerin Dr. Merk in Kiew am 11. Dezember 2014. 4. a) Welche Vorschläge hat die Bayerische Staatsregierung konkret, um in Syrien Flüchtlingsbewegungen erst gar nicht entstehen zu lassen, wie in der Pressemitteilung gefordert? Drucksache 17/4955 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 b) Wie möchte sie diese umsetzen? Ziel einer gemeinsamen europäischen Außen- und Entwicklungspolitik – wie sie in der genannten Pressemitteilung beschrieben wurde – ist es, dass möglichst viele Menschen unter menschenwürdigen Bedingungen in ihrer Heimat bleiben bzw. dorthin zurückkehren können. Durch eine engere Verzahnung von Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik müssen wir Flüchtlingskrisen direkt in den Herkunftsländern begegnen, Krisenstaaten stabilisieren und Lebensperspektiven für die betroffenen Menschen schaffen. Soweit möglich, soll das Entstehen von Flüchtlingsbewegungen verhindert werden. Was konkret Syrien angeht, so müssen die Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft zur Beilegung der Konflikte weiter mit Nachdruck verfolgt werden, insbesondere der Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat. Gleichzeitig müssen wir alles daransetzen, die dramatische humanitäre Lage der Menschen in Syrien zu verbessern. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) leistet hier ebenso einen Beitrag wie humanitäre Hilfsmaßnahmen der Bundesrepublik, mit denen beispielsweise Nichtregierungsorganisationen in Syrien und den betroffenen Nachbarländern unterstützt werden. c) Und was soll nach Auffassung der Staatsregierung die EU konkret tun, um humanitäre Katastrophen z. B. an der türkischen Ostgrenze zu verhindern? Die Dimension von Flucht und Vertreibung weltweit stellt die Außen- und Entwicklungspolitik der EU vor eine enorme He- rausforderung. In der EU ist deshalb ein gemeinsamer Ansatz aller Mitgliedstaaten notwendig, um Antworten auf die drängendsten Fragen der Flüchtlings- und Asylproblematik geben zu können. Deshalb unterstützt die Staatsregierung vor allem die Forderung der Bundesregierung an die EU, in den Krisenregionen Flüchtlinge in Not mit einer EU-Sondermilliarde – vor allem als Winterhilfe – zu unterstützen, Entwicklungspartnerschaften mit Krisenländern weiter zu stärken sowie zur konkreten Soforthilfe und zum Aufbau der notwendigen Infrastruktur in den Flüchtlingsregionen sowie zum Aufbau zerstörter Gebiete eine europäische zivile Eingreifgruppe aufzubauen. Zudem sollte die EU Friedensmissionen vor Ort weiter verstärken. Die neue Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik der EU Federica Mogherini sollte dies zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit machen. Daneben sollte künftig verstärkt präventiv vorgegangen werden. Dazu könnte gehören, vermehrt auch in potenziellen Konfliktregionen Maßnahmen der Versöhnungsarbeit zu unterstützen. Hierbei könnten auch Erfahrungen aus Europa, etwa im Rahmen der Deutsch-Französischen oder Deutsch-Polnischen Aussöhnung genutzt werden.