Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Kathrin Sonnenholzner SPD vom 30.01.2015 Arzneimittelwechselwirkungen Ich frage die Staatsregierung: 1. a) Hat die Staatsregierung Kenntnis, wie viele Menschen in Bayern aufgrund von unerwünschten Arzneimittelwechselwirkungen in den letzten 10 Jahren ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten? b) Hat die Staatsregierung Kenntnis, wie hoch die Zahl der Todesfälle in den letzten 10 Jahren aufgrund von Fehlmedikationen ist? c) Gibt es regionale Auffälligkeiten? 2. a) Wurden in Bayern Modellprojekte durchgeführt, mit dem Ziel einer besseren Abstimmung der Medikation multimorbider Patienten, und wenn ja, mit welchen Ergebnissen ? b) Ist ein solches Modellprojekt in Planung? 3. Wie viele Menschen müssen am Tag fünf und mehr Medikamente einnehmen, wenn möglich für die Jahre 2000, 2010 und das aktuellste Jahr? 4. Welche Erkenntnisse hat die Staatsregierung zu schädlichen Wechselwirkungen von Medikamenten? 5. a) Wie schätzt die Staatsregierung das Problem mit Arzneimittelwechselwirkungen ein? b) Sieht die Staatsregierung Handlungsbedarf, und wenn ja, welchen? Antwort des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 01.04.2015 1. a) Hat die Staatsregierung Kenntnis, wie viele Menschen in Bayern aufgrund von unerwünschten Arzneimittelwechselwirkungen in den letzten 10 Jahren ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten? Als Arzneimittelwechselwirkung bezeichnet man die Änderung der Wirkung eines Arzneimittels durch eine oder mehrere andere Substanzen. Dies können andere Arzneimittel, aber auch z. B. Nahrungsmittel sein. Arzneimittelwechselwirkungen kommen in der Praxis häufig vor, ihre klinische Relevanz ist jedoch sehr unterschiedlich. Informationen zu Arzneimittelwechselwirkungen sind den jeweiligen Ge- brauchsinformationen zu den einzelnen Arzneimitteln zu entnehmen. Zuständig für die Sammlung und Auswertung von Arzneimittelwechselwirkungen ist in Deutschland das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bzw. das PaulEhrlich -Institut. Nach der Zulassung eines Arzneimittels werden die Erfahrungen bei dessen Anwendung fortlaufend und systematisch gesammelt und ausgewertet. Die Informationen zu den einzelnen Arzneimitteln und ggf. deren Zulassung werden dann entsprechend angepasst. Für Bayern oder Deutschland liegen der Staatsregierung keine Daten aus den amtlichen Statistiken zu Krankenhauseinweisungen aufgrund von unerwünschten Arzneimittelwechselwirkungen vor. Nationalen wie internationalen Studien zufolge beruhen ca. 2,4 %–5,8 % aller Krankenhauseinweisungen auf internistische Stationen in Deutschland auf unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) insgesamt, die Arzneimittelwechselwirkungen mit einschließen . Je nach Alter der Patienten können ca. 40 %–54 % davon auf Arzneimittelwechselwirkungen zurückgeführt werden . Eine holländische Übersichtsarbeit zu von 1990–2006 weltweit publizierten Studiendaten kommt zu dem Ergebnis, dass 0,05 % aller Patienten, die sich in einer Notaufnahme vorstellten, an den Folgen von Arzneimittelwechselwirkungen litten. 0,6 % aller Krankenhausneuaufnahmen und 0,1 % aller Rehospitalisierungen sind den Autoren zufolge ebenfalls auf Arzneimittelwechselwirkungen zurückzuführen (Becker et al. 2007). b) Hat die Staatsregierung Kenntnis, wie hoch die Zahl der Todesfälle in den letzten 10 Jahren aufgrund von Fehlmedikationen ist? Schätzungen zufolge liegt die Zahl der durch Arzneimittel zu Tode gekommenen Patienten in Deutschland jährlich bei 10.000–60.000 (Bay Ärztebl 6/2012: 280-287). Studien der deutschen Pharmakovigilanzzentren in den Jahren 1997– 2000 bzw. 2000–2006 fanden Sterblichkeitsraten von 0,05 % bzw. 1 % unter den Patienten, die wegen unerwünschter Arzneimittelwirkungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden (Schneeweiss et al. 2002, Rottenkolber et al. 2011). c) Gibt es regionale Auffälligkeiten? Daten zu regionalen Auffälligkeiten bei Todesfällen infolge von Fehlmedikation liegen der Staatsregierung nicht vor. 2. a) Wurden in Bayern Modellprojekte durchgeführt, mit dem Ziel einer besseren Abstimmung der Medikation multimorbider Patienten, und wenn ja, mit welchen Ergebnissen? In Bayern wurden bzw. werden sowohl Modellprojekte im Zusammenhang größerer Initiativen (z. B. im Rahmen des Aktionsplans Arzneimittelsicherheit des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG)) als auch kleinere, regional verortete Aktivitäten durchgeführt: Zur Umsetzung des nationalen Aktionsplans Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) 2010–2012 des BMG wurde von Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de –Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de–Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 30.04.2015 17/6037 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/6037 der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft ein bundeseinheitlicher, patientenbezogener Medikationsplan erarbeitet. Mithilfe des Medikationsplans sollen Medikationsfehler , Nebenwirkungen und Arzneimittelwechselwirkungen reduziert bzw. vermieden werden. In Fürth als Modellregion wurde im Forschungsprojekt „eMediplan“ eine digitale Infrastruktur zum sektorenübergreifenden Datenaustausch auf der Basis des bundeseinheitlichen Medikationsplans aufgebaut und in der Praxis erprobt. Vor allem der digitale Austausch von medikations- und diagnosebezogenen Patientendaten zwischen dem ambulanten und stationären Sektor stand im Fokus der Analysen. Darauf aufbauend wird seit 2013 im Rahmen des Aktionsplans AMTS 2013– 2015 im Raum Mittelfranken unter Förderung des BMG das Projekt „MetropolMediplan 2016“ durchgeführt. Ziel dieses Projekts ist die Erprobung und Weiterentwicklung des Medikationsplans in der Praxis hinsichtlich Akzeptanz und Praktikabilität. Projektpartner sind u.a. das Praxisnetz Nürnberg Süd, Ärztegenossenschaft Mittelfranken/Ärztenetz Fürth und die Apotheke des Universitätsklinikums Erlangen, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (www. emedikationsplan.de). Ergebnisse aus dem noch laufenden Projekt liegen noch nicht vor. Zu den regionalen Initiativen zählt z. B. der Ansatz „Kompetenzpunkte Arzneimitteltherapiesicherheit/Medikationsmanagement “, der in zwei Apotheken im Raum Neumarkt (Oberpfalz) und Nürnberg erprobt wird. Im Rahmen dieser Initiative ergeht das Angebot an Patienten, ihre gesamte Medikation in einer sogenannten „Arzneimittelsicherheitstüte “ in die Apotheke zu bringen und dort die Zusammenstellung auf unerwünschte Wechselwirkungen überprüfen zu lassen. Im Bereich der stationären Versorgung sei das Kooperationsprojekt „Quick-Check – Prävention von vermeidbaren , unerwünschten Arzneimittelereignissen bei stationären Patienten“ erwähnt, in dem in Zusammenarbeit der krankenhausversorgenden Apotheke mit den ärztlichen Kollegen des Rotkreuzklinikums München arzneimittelbezogene Probleme im stationären Bereich erkannt und behoben werden sollen. Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit konnten bei 41 % der Patienten arzneimittelbezogene Probleme festgestellt werden, bei jedem dritten Patienten war dies therapierelevant. Das Projekt erhielt im Mai 2014 auf dem 3. Präventionskongress des Wissenschaftlichen Instituts für Prävention im Gesundheitswesen (WIPIG) einen gemeinsam von der Bayerischen Landesärztekammer und Bayerischen Landesapothekerkammer verliehenen Preis. b) Ist ein solches Modellprojekt in Planung? Aktuell plant die Bayerische Akademie für Klinische Pharmazie der Bayerischen Landesapothekerkammer ein durch die Julius-Maximilians-Universität Würzburg wissenschaftlich begleitetes Projekt zum Medikationstherapiemanagement älterer, multimorbider Patienten. Mit einer umfassenden Analyse der gesamten Medikation einschließlich der Selbstmedikation sollen arzneimittelbezogene Probleme erkannt und gemeinsam mit dem Patienten und dem behandelnden Arzt gelöst werden (http://www.ba-klinpharm.de/ projekte-und-partner/aktuelle-projekte/58-medikationsthera piemanagement.html). 3. Wie viele Menschen müssen am Tag fünf und mehr Medikamente einnehmen, wenn möglich für die Jahre 2000, 2010 und das aktuellste Jahr? Daten aus Bayern zum Anteil der Menschen, die am Tag fünf und mehr Medikamente einnehmen, liegen der Staatsregierung nicht vor. Auf Bundesebene liegen Daten zum Medikamentenkonsum aus bevölkerungsrepräsentativen Erhebungen wie dem Bundesgesundheitssurvey (BGS) von 1998 und der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland DEGS 1 von 2008–2011 vor. Einen Überblick gibt die nachfolgende Tabelle: Datenquelle Anteil der Personen mit Einnahme von… BGS 19981) (Erhebungszeitraum 1997–1999) Zwei und mehr Präparate am Tag (Arzneimittelkonsum insgesamt): 18–79 Jahre: Frauen 57,7 % Männer 36,3 % DEGS 12) (Erhebungszeitraum 2008–2011) Verschriebene Medikation3): fünf und mehr Präparate am Tag: 18–79 Jahre: Frauen 13,6 % Männer 9,9 % Verschriebene 3) und Selbstmedikation: fünf und mehr Präparate am Tag: 18–79 Jahre: Frauen 22,8 % Männer 13,8 % 70–79 Jahre: Frauen 53,2 % Männer 47,0 % WidO VersorgungsReport 2012 (AOK-Verordnungsdaten aus dem Jahr 2010) 3) Verschriebene Medikation: fünf und mehr Wirkstoffe pro Quartal: 65 Jahre und älter: 42 % 85 Jahre und älter: rund 50 % Barmer-GEK Arzneimittelreport 2013 (Verordnungsdaten aus den Jahren 2011–2012)3) Verschriebene Medikation: fünf und mehr Wirkstoffe pro Quartal: ≥ 65 Jahre: Frauen 33,0 % Männer 33,4 % 75–79 Jahre: Frauen 36,3 % Männer 37,6 % 1) Der Bundesgesundheitssurvey (BGS) erfasst den Arzneimittelkonsum insgesamt, d. h. Einnahme von verordneten sowie selbstmedizierten Arzneien (einschließlich Nahrungsergänzungsmittel ). 2) Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland 3) Bei Verordnungsdaten oder Frage nach verschriebenen Arzneimitteln: verordnete Arzneien werden ggf. nicht eingenommen, Selbstmedikationen sowie Privatrezepte werden nicht erfasst. Quellen: Knopf, Melchert. Bundes-Gesundheitssurvey: Arzneimittelgebrauch. Konsumverhalten in Deutschland. RKI, Berlin 2003, Knopf, Grams. Arzneimittelanwendung von Erwachsenen in Deutschland. Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). Bundesgesundheitsblatt 2013 (56): 868–877, Thürmann et al. Arzneimittelversorgung älterer Patienten. In: Günster, Klose, Schmacke (Hrsg.). Versorgungs-Report 2012. Schwerpunkt: Gesundheit im Alter. Schattauer, Stuttgart 2012: 111-130, Glaeske, Schicktanz . BARMER GEK Arzneimittelreport 2013. Barmer GEK, Berlin 2013 4. Welche Erkenntnisse hat die Staatsregierung zu schädlichen Wechselwirkungen von Medikamenten ? Wechselwirkungen sind besonders dann zu erwarten, wenn Arzneimittel in denselben physiologischen Regelkreis eingreifen , über gleiche Mechanismen in den Körper aufgenommen oder über die gleichen Enzymsysteme abgebaut werden. Das Gleiche gilt für Wechselwirkungen zwischen Arzneimitteln und Lebensmitteln (inkl. Nahrungsergänzungsmitteln ). Schwerwiegende Wechselwirkungen können für den behandelten Patienten zu lebensbedrohenden Risiken führen und müssen aufmerksam kontrolliert und vermieden werden. Je mehr Präparate gleichzeitig eingenommen werden, desto schwerer sind möglicherweise auftretende Wechselwirkungen vorhersehbar und abzuschätzen . Besonders bei älteren Patienten über 65 Jahren kommt hinzu, dass bei ihnen durch Veränderungen des allgemeinen Stoffwechsels und verschiedener physiologischer Funktionen manche Arzneistoffe anders (stärker, schwächer oder qualitativ anders) wirken, andere Nebenwirkungen auftreten oder Arzneistoffe anders verstoffwechselt werden. Die Problematik der Arzneimittelwechselwirkungen ist in der Medizin und in der pharmazeutischen Wissenschaft wohlbekannt und wichtiger Bestandteil der Ausbildung von Ärzten, Apothekern und pharmazeutischem Fachpersonal. Drucksache 17/6037 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 5. a) Wie schätzt die Staatsregierung das Problem mit Arzneimittelwechselwirkungen ein? b) Sieht die Staatsregierung Handlungsbedarf, und wenn ja, welchen? Die Fragen 5 a und 5 b werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet: Die Anzahl an gleichzeitig eingenommenen Arzneimitteln und damit die grundsätzliche Gefahr für Arzneimittelwechselwirkungen haben sich nach Einschätzung der Staatsregierung v. a. als Folge der demografischen Entwicklung in den letzten Jahren erhöht. Trotz der bestehenden gesetzlich geregelten und auch weitgehend wirksamen Maßnahmen zur Vermeidung unerwünschter Arzneimittelwirkungen treten in der Praxis Arzneimittelinteraktionen oder Nebenwirkungen auf. Eine breite Verwendung von Hilfsmitteln wie der PRISCUS -Liste, die 83 für ältere Menschen potenziell inadäquate Medikamente (PIM) listet, Therapiealternativen sowie Empfehlungen zur Dosisanpassung und zum Monitoring bietet, ist anzustreben. Dies gilt auch für die Beachtung der im Jahr 2014 erschienenen hausärztlichen Leitlinie „Multime- dikation“ der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin, die Empfehlungen zum Umgang mit Multimedikation bei Erwachsenen und geriatrischen Patienten enthält. Zudem könnte eine bessere Zusammenarbeit der beteiligten Gesundheitsberufe die Fälle von Arzneimittelwechselwirkungen weiter reduzieren. Die Staatsregierung setzt auf eine gute Kooperation zwischen Arzt und Apotheker. So kann z. B. ein vollständiger patientenbezogener Medikationsplan dazu beitragen, dass sich sowohl Patienten als auch Ärzte, Apotheker und Pflegende schnell zur aktuellen Medikation informieren können. Um Arzneimittelwechselwirkungen so weit wie möglich zu vermeiden, sollten Patientinnen und Patienten außerdem die Beratungsleistung der Apotheken nutzen. Um diese zu gewährleisten, setzt sich die Staatsregierung seit Jahren für den Erhalt eines flächendeckenden Netzes von Apotheken vor Ort ein. Die oben erwähnten Modellprojekte leisten darüber hinaus einen wichtigen Beitrag, die Kommunikation zwischen den verschiedenen Sektoren im Gesundheitswesen zu strukturieren und zu vereinfachen. Die Ergebnisse dieser Projekte müssen zunächst abgewartet werden.