Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Eva Gottstein FREIE WÄHLER vom 16.12.2013 Sprachstanderhebung vor Schuleintritt Ich frage die Staatsregierung: 1. Wie wird der Sprachstand und die Sprachentwicklung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund in Kindertageseinrichtungen in Bayern vor Schuleintritt erfasst? 2. Welche Instrumente und Testverfahren zur Sprachstanderhebung werden dabei angewendet? 3. Nach welchen Kriterien wurden die Sprachstandverfahren ausgewählt und wie bewertet die Staatsregierung die aktuell verwendeten Verfahren zur Sprachstanderhebung ? 4. Wie werden die pädagogischen Fachkräfte für die diagnostische Situation gezielt qualifiziert und geschult? 5. Werden bei den Verfahren die Sprachbiografie eines Kindes und die Einschätzung der Eltern zur Entwicklung ihres Kindes mit berücksichtigt? 6. Bei wie viel Prozent der Kinder wird pro Jahr ein Förderbedarf festgestellt und welche Maßnahmen werden daraufhin ergriffen? 7. Werden oder wurden diese Instrumente und Testverfahren zur Sprachstanderhebung evaluiert? Wenn ja, mit welchem Ergebnis? Antwort des Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration vom 31.01.2014 1. Wie wird der Sprachstand und die Sprachentwicklung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund in Kindertageseinrichtungen in Bayern vor Schuleintritt erfasst? Die pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen erfassen den Sprachstand und die Sprachentwicklung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund durch Beobachtung mit standardisierten Beobachtungsbögen in Alltagssituationen . Der Sprachstand von Kindern, deren Eltern beide nichtdeutschsprachiger Herkunft sind, ist in der ersten Hälfte des vorletzten Kindergartenjahres anhand des zweiten Teils des Bogens „Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen (SISMIK) – Sprachliche Kompetenz im engeren Sinn (deutsch)“ zu erheben . Die sprachliche Bildung und Förderung von Kindern, die nach dieser Sprachstanderhebung besonders förderbedürftig sind, ist in Zusammenarbeit mit der Grundschule auf der Grundlage der entsprechenden inhaltlichen Vorgaben „Vorkurs Deutsch lernen vor Schulbeginn“ oder einer gleichermaßen geeigneten Sprachfördermaßnahme durchzuführen (§ 5 Abs. 2 Sätze 1 und 2 Ausführungsverordnung zum Bayerischen Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz (AVBayKiBiG)). Der Sprachstand von Kindern, bei denen zumindest ein Elternteil deutschsprachiger Herkunft ist, ist ab der ersten Hälfte des vorletzten Kindergartenjahres vor der Einschulung anhand des Beobachtungsbogens „Sprachentwicklung und Literacy bei deutschsprachig aufwachsenden Kindern (SELDAK)“ zu erheben. Auf Grundlage der Beobachtung nach dieser Sprachstanderhebung wird entschieden, ob ein Kind besonders sprachförderbedürftig ist und die Teilnahme am Vorkurs Deutsch oder einer gleichermaßen geeigneten Sprachfördermaßnahme empfohlen wird (§ 5 Abs. 3 Sätze 1 und 2 AVBayKiBiG). Unabhängig von der Empfehlung zur Teilnahme an einem Vorkurs Deutsch wird für die Beobachtung und Dokumentation der Sprach- und Literacyentwicklung der Kinder aus fachlich-pädagogischer Perspektive der Einsatz aller Teilabschnitte der Beobachtungsbögen nahegelegt. 2. Welche Instrumente und Testverfahren zur Sprachstanderhebung werden dabei angewendet? Siehe Frage 1. 3. Nach welchen Kriterien wurden die Sprachstandverfahren ausgewählt und wie bewertet die Staatsregierung die aktuell verwendeten Verfahren zur Sprachstanderhebung ? Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de –Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de – Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 14.03.2014 17/693 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/693 Grundsätzlich wurden Beobachtungsverfahren und keine Tests gewählt, da sich Tests aufgrund ihrer psychodiagnostischen Zielrichtung sowohl inhaltlich als auch zeitlich auf einen eng umgrenzten Ausschnitt von Sprache beschränken. Sie sind in der Regel fehlerorientiert und das Ergebnis ist auf eine bestimmte Testsituation bezogen, in der die Reaktion auf bestimmte Impulse etwa durch Fragen oder Bilder ausgewertet wird. Screenings und Beobachtungsverfahren wie SISMIK und SELDAK sind teils selbst erklärend, teils können sie nach entsprechender Schulung von den Erzieherinnen angewendet werden. Ein psychologischer Test kann sinnvoll nur bei entsprechender Ausbildung, in der Regel ein Psychologiestudium , zum Einsatz kommen. Des Weiteren waren die üblichen Kriterien für die Auswahl von Beobachtungsverfahren maßgeblich: a) Das Verfahren erfasst die zentralen Bereiche der Sprach- und Literacy-Entwicklung eines Kindes. b) Validität: Das Verfahren ist so konstruiert, dass es exakt den Sprachstand eines Kindes erfasst c) Objektivität: Das Verfahren ist unabhängig von subjektiven Einflussfaktoren. d) Reliabilität: Das Verfahren misst den Sprachstand des Kindes präzise. e) Normierung: Die Ergebnisse eines Kindes lassen sich mit den Ergebnissen anderer Kinder vergleichen. f) Fehlerquote: Das Verfahren stellt sicher, dass die Kinder, die einen Sprachförderbedarf haben, auch wirklich identifiziert werden. g) Mehrsprachigkeit: Das Verfahren erfasst die besonderen Rahmenbedingungen von Kindern, die Deutsch als Zweitsprache erlernen. h) Spezifität der Diagnostik: Das Verfahren gibt Hinweise auf Sprachfördermaßnahmen für das Kind. 4. Wie werden die pädagogischen Fachkräfte für die diagnostische Situation gezielt qualifiziert und geschult ? Grundsätzlich sind die Beobachtungsbögen SISMIK und SELDAK in Verbindung mit den zugehörigen Begleitheften selbst erklärend. Dennoch führte das Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP) bereits im Kalenderjahr 2007 eine Multiplikatorenschulung durch. Die Beobachtungsverfahren spielen eine zentrale Rolle bei den Vorkursen Deutsch 240. Um deren Qualität zu sichern , führten das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration (StMAS) und das Bayerische Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst (StMBW) eine gemeinsame Fortbildungskampagne „Vorkurs Deutsch 240“ für pädagogische Fachkräfte der Kindertageseinrichtungen und Grundschullehrkräfte durch. Hierzu gehörte auch der qualifizierte Umgang mit den Beobachtungsbögen SISMIK und SELDAK zur Feststellung des Sprachstands. Die Fortbildungskampagne dauerte drei Kindergarten- bzw. Schuljahre, sie begann mit dem Kindergarten- bzw. Schuljahr 2010/11 und endete im Juli 2013. Bayernweit führten 16 Referententandems – bestehend aus einer Referentin (Sprachberaterin) aus dem Bereich Kindertageseinrichtung und einer Referentin/eines Referenten aus dem Schulbereich – gemeinsame Fortbildungen durch. Die Tandems wurden in der Regel auf Regierungsbezirksebene tätig. Für München, Nürnberg, Augsburg und Würzburg kamen eigene Tandems zum Einsatz. Jedes Referententandem konnte pro Kindergarten- bzw. Schuljahr fünf zweitägige Veranstaltungen durchführen. Das von einer Expertengruppe für die Kampagne erstellte Fortbildungskonzept und unterstützende Materialien wurden im Rahmen der Qualifizierung der Referententandems und der jährlichen Dienstbesprechungen gemeinsam kontinuierlich weiterentwickelt und optimiert. Mit diesem Vorgehen wurde auf den Wunsch der Praxis nach einem intensiveren institutionenübergreifenden Austausch reagiert und die Fach- und Lehrkräfte wurden in ihrem Abstimmungsprozess im Zuge der Vorkurse Deutsch gestärkt. Mit dem Inkrafttreten des Bildungsfinanzierungsgesetzes wurden in bayerischen Kindertageseinrichtungen die Angebote zur Sprachförderung weiter ausgebaut. Ab September 2013 erfolgte die Öffnung und Förderung der Vorkurse Deutsch 240 für alle Kinder mit zusätzlichem Sprachförderbedarf . Kinder mit zusätzlichem Sprachförderbedarf mit und ohne Migrationshintergrund werden in einer gemeinsamen heterogenen Kleingruppe sprachlich gefördert und in der Entwicklung von Literacy-Kompetenzen unterstützt. Aufbauend auf die bereits durchgeführte Fortbildungskampagne „Vorkurse Deutsch 240“ erfolgt eine Fortsetzung und Intensivierung der Qualifizierung des für die Durchführung der Vorkurse eingesetzten Personals. Multiplikatorentandems – bestehend aus einer Referentin/eines Referenten der Kindertageseinrichtungsseite und einer Referentin/eines Referenten der Schulseite – werden ab Frühjahr 2014 regional in den Regierungsbezirken Fortbildungsmaßnahmen für pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte nach dem neuen, geänderten Vorkurskonzept durchführen. Die Regierungen können dabei entscheiden, ob die Tandems unmittelbar die Aufgabe der Fortbildung von Lehrkräften und Erzieherinnen übernehmen oder zunächst Referentinnen und Referenten schulen, die dann ihrerseits die Lehrkräfte und Erzieherinnen für die Durchführung der neuen Vorkurse fortbilden. Die Multiplikatorentandems wurden vom 27. bis 29. Januar 2014 an der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung in Dillingen geschult. Im Kalenderjahr 2014 wird jedes Multiplikatorentandem bis zu 10 eintägige Fortbildungsveranstaltungen durchführen. 5. Werden bei den Verfahren die Sprachbiografie eines Kindes und die Einschätzung der Eltern zur Entwicklung ihres Kindes mit berücksichtigt? In Teil 3 des SISMIK werden Fragen zur Familiensprache des Kindes und in Teil 4 zur Lebenssituation und Sprachpraxis der Familie gestellt. Kinder, bei denen nach dem Ergebnis der Sprachstanderhebung keine hinreichenden Deutschkenntnisse bestehen, sollen einen Vorkurs besuchen (siehe Antwort zu Frage 1). Die Teilnahmeentscheidung liegt bei den Eltern. Es besteht keine Pflicht zur Teilnahme am Vorkurs. (Ausnahme Art. 37 a Abs. 3 BayEUG: Wird bei der Schulanmeldung eines Kindes, das weder einen Kindergarten noch einen Vorkurs besucht hat, festgestellt, dass es nicht über die für den Schulbesuch notwendigen Deutschkenntnisse verfügt, kann das Kind von der Aufnahme in die Schule um ein Jahr Drucksache 17/693 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 zurückgestellt und verpflichtet werden, während dieser Zeit einen Kindergarten mit integriertem Vorkurs zu besuchen.) Kindertageseinrichtungen sollen Eltern zu einem Gespräch einladen, wenn sich für ein Kind eine Vorkursteilnahme (dringend) empfiehlt. Um Eltern in die Lage zu versetzen , für ihr Kind eine kindeswohlgerechte Entscheidung zu treffen, sind sie über das Ergebnis der Sprachstandserhebung und über das Vorkursangebot und dessen Nutzen für ihr Kind frühzeitig und umfassend zu informieren. Grundlage für dieses Elterngespräch ist der ausgefüllte SELDAK bzw. SISMIK. Im Sinne eines transparenten Vorgehens und unter Beachtung der datenschutzrechtlichen Elternrechte auf „Akteneinsicht“ ist Eltern stets anzubieten, in den für ihr Kind ausgefüllten Bogen direkt Einsicht zu nehmen und auf Wunsch auch eine Kopie zu erhalten. Liegen Anzeichen einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung vor oder geht es um die Frage nach geeigneten Maßnahmen für Kinder mit Behinderung und zusätzlichen Unterstützungsbedarf im Deutschen, sind folgende Themen im Elterngespräch zentral: – Empfehlung, das Kind für eine Differenzialdiagnostik einem Fachdienst (z. B. Frühförderstelle, Logopäden, Sprachtherapeuten) vorzustellen, – Einholen einer entsprechenden Einwilligung bei den Eltern . Damit die Anschlussfähigkeit der Bildungseinrichtungen beim Übertritt in die Schule oder bei einem Wechsel der Einrichtung gelingt, haben StMAS und StMBW einen Übergabebogen erstellt, der gemeinsam von Eltern und den pädagogischen Fachkräften ausgefüllt werden soll. Darin werden in aller Kürze sowohl die Stärken des Kindes als auch besonderer Unterstützungsbedarf angegeben, um der Schule oder der nachfolgenden Kindertageseinrichtung zu ermöglichen, gezielt darauf zu reagieren. Unter Berücksichtigung des Datenschutzes obliegt die Entscheidung, ob der Übergabebogen an die nachfolgende Institution übergeben wird, allein den Eltern. 6. Bei wie viel Prozent der Kinder wird pro Jahr ein Förderbedarf festgestellt und welche Maßnahmen werden daraufhin ergriffen? Sprachförderung ist eine gesetzlich verankerte Kernaufgabe in Kindertageseinrichtungen (Art. 12 BayKiBiG i. V. m. § 5 der AVBayKiBiG) und ein Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit bei allen Kindern in der Kindertagesbetreuung, unabhängig von ihrer Herkunft. Die verbindlichen Beobachtungsverfahren SISMIK und SELDAK sind primär dafür konzipiert, den Entwicklungsverlauf und individuelle Lernfortschritte zu dokumentieren. Die Bögen sind so konzipiert, dass daraus konkrete Förderziele abgeleitet werden können. Die Begleithefte erläutern diesen Prozess und unterstützen ihn durch konkrete Beispiele und die Beschreibung konkreter Fördermethoden . Im Vorkurs Deutsch 240, wonach jeweils 120 Stunden vom pädagogischen Personal der Kindergärten und der Lehrkräfte der Grundschulen eingebracht werden, erhalten die Kinder eineinhalb Jahre lang bis zum Schuleintritt 240 Stunden zusätzliche Unterstützung beim Erlernen der deutschen Bildungssprache. Ob Kindern mit Migrationshintergrund die Teilnahme an der zusätzlichen Fördermaßnahme „Vorkurs Deutsch 240“ empfohlen wird, hängt vom Ergebnis der Beobachtung mit der Kurzversion des SISMIK entsprechend § 5 Abs. 2 AVBayKiBiG ab. Die Empfehlung zur Teilnahme erfolgt anhand der statistischen Normierung des Bogens. Liegt der beobachtete Wert unterhalb des siebten Perzentils der Verteilung , wird die Teilnahme empfohlen. Damit ist sichergestellt, dass jedes Kind, das eine zusätzliche Förderung braucht, diese auch bekommt. Damit möglichst alle Kinder mit Migrationshintergrund, bei denen Bedarf besteht, von den frühen Sprachbildungsangeboten in Kindertageseinrichtungen erreicht und dadurch gefördert werden, hat das Staatsinstitut für Frühpädagogik den Elternbrief „Wie lernt mein Kind 2 Sprachen?“ verfasst. Er ist auf der Website des Staatsinstituts für Frühpädagogik auf Deutsch und in 19 Fremdsprachen abrufbar. 7. Werden oder wurden diese Instrumente und Testverfahren zur Sprachstanderhebung evaluiert? Wenn ja, mit welchem Ergebnis? SISMIK ist ein standardisiertes Beobachtungsinstrument, das nach den Verfahren der empirischen Testkonstruktion entwickelt wurde. Es wurde an einer Stichprobe von 2.011 Kindern aus dem gesamten Bundesgebiet erprobt (Kindertageseinrichtungen in Großstädten und in ganz kleinen Ortschaften ). In der Stichprobe der Kinder waren insgesamt 84 Nationalitäten und 56 Sprachgruppen vertreten. Dieses Instrument ist seit 2003 in vielen Bundesländern im Einsatz. Es wird, wie dies bei allen Messverfahren die Regel ist, in den nächsten Jahren überarbeitet. Auch SELDAK ist ein empirisch gestütztes Instrument. In drei Studien wurden Objektivität und Validität des Verfahrens untersucht. Die Überprüfung der Objektivität ergab insgesamt hohe bis sehr hohe Beobachterübereinstimmungen sowohl auf Item- als auch auf Skalenebene. In zwei Studien wurde die Validität von SELDAK geprüft. Insgesamt lässt sich festhalten, dass SELDAK den überprüften Gütekriterien für Gütekriterien in einem relativ hohen Maße genügt. In der Studie des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache und des Zentrums Lesen („Eine Analyse und Bewertung – Die Qualität von Sprachstandsverfahren im Elementarbereich“, September 2013) schneiden in der Kategorie „Beobachtungsverfahren“ die in Bayern in Kindertageseinrichtungen verwendeten Verfahren SISMIK und SELDAK als einzige sehr gut ab.