Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Joachim Unterländer CSU vom 26.06.2015 Verfahren bei der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen durch die Jugendämter In der Vergangenheit sind lt. ARD-Fernsehbericht „Die Story im Ersten; Mit Kindern Kasse machen“ vom 23.02.2015 in verschiedenen Ländern Vorgänge bekannt geworden, die zeigen, dass die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen gewerblicher Träger mit erheblichen fachlichen Mängeln und mit hohen Aufwendungen seitens der Träger der öffentlichen Jugendhilfe verbunden waren. Ich frage in diesem Zusammenhang die Staatsregierung: 1. Wie erfolgt die Entscheidung über die Unterbringung und die Auswahl der stationären Jugendhilfeeinrichtungen im Freistaat Bayern? 2. Wie bewertet die Staatsregierung Vorgänge, wie im o. g. ARD-Fernsehbericht dargestellt? 3. Welche Möglichkeiten zur Sicherstellung von bedarfsgerechter Unterstützung und fachlich qualifizierter Betreuung von Kindern und Jugendlichen in stationären Jugendhilfeeinrichtungen sowie zur Gewährleistung der zweckentsprechenden, sparsamen und wirtschaftlichen Verwendung von öffentlichen Mitteln sieht die Staatsregierung ? Antwort des Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration vom 23.07.2015 Die Schriftliche Anfrage wird unter Einbeziehung fachlicher Stellungnahmen des ZBFS – Bayerisches Landesjugendamtes – wie folgt beantwortet: 1. Wie erfolgt die Entscheidung über die Unterbringung und die Auswahl der stationären Jugendhilfeeinrichtungen im Freistaat Bayern? Nachdem die Kinder- und Jugendhilfe von den Kommunen als Pflichtaufgabe im eigenen Wirkungskreis erbracht wird, haben diese (weitreichende) Gestaltungsmöglichkeiten für für die konkrete Ausgestaltung der Verfahren zur Entscheidungsfindung Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen der einschlägigen gesetzlichen Regelungen. Das Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) sieht bei einer längerfristigen Fremdunterbringung folgende durch das Jugendamt einzuhaltende Prämissen vor (vgl. § 36 SGB VIII): – Personensorgeberechtigte und Kinder sind vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe zu beraten und auf mögliche Folgen für die Entwicklung hinzuweisen . – Vor einer langfristig zu leistenden Hilfe außerhalb der eigenen Familie ist zu prüfen, ob die Annahme als Kind in Betracht kommt (Adoption). – Ist Hilfe außerhalb der eigenen Familie erforderlich, so sind Personensorgeberechtigte und Kinder bei der Auswahl der Einrichtung zu beteiligen. – Die Entscheidung über die im Einzelfall geeignete längerfristige Hilfeart soll im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden. – Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe soll zusammen mit den Personensorgeberechtigten und dem Kind ein Hilfeplan aufgestellt werden, welcher Feststellungen über den Hilfebedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält. – Es soll regelmäßig überprüft werden, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist. Das ZBFS – Bayerisches Landesjugendamt – hat darauf aufbauend Empfehlungen veröffentlicht, um die kommunalen Jugendämter in ihrer Aufgabenerfüllung zu unterstützen. Zusammengefasst sind vom Bekanntwerden eines Hilfebedarfs bis zur Einleitung einer Hilfe folgende Schritte in einem Jugendamt erforderlich: – Klärung der sachlichen/örtlichen Zuständigkeit und der elterlichen Sorge. – Antragserfordernis durch die Personensorgeberechtigten . – Einladung der Personensorgeberechtigten zu Gesprächen (Beratung). – Kontaktaufnahme zu dem jungen Menschen (abhängig vom Alter und Entwicklungsstand). – Hausbesuche in der Familie. – Abklärung der persönlichen, familiären und sozialräumlichen Ressourcen. – Durchführung der sozialpädagogischen Diagnostik. – Erarbeitung der Zielperspektiven mit den Beteiligten. – Konkretisierung des Hilfebedarfs. – Information über rechtliche Möglichkeiten. – Nur bei Eingliederungshilfe: a) ggf. Anforderung von kinder-/jugendpsychiatrischem bzw. /-psychotherapeutischem Gutachten zur Abklärung der seelischen Gesundheit, Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de –Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de–Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 25.09.2015 17/7844 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/7844 b) ggf. sozialpädagogische Klärung der Teilhabebeeinträchtigung , c) ggf. Einholung weiterer Stellungnahmen und Gutachten (z. B. Schule), d) ggf. abschließende Feststellung einer vorliegenden oder drohenden seelischen Behinderung. – Weitere Gespräche mit (beratungsrelevanten) Personen und/oder Institutionen. – Durchführung der Fallkonferenz (es werden insbesondere die Hilfemöglichkeiten und die angemessene Maßnahme erörtert). – Hilfeentscheidung. – Erstellung des Leistungsbescheides. – Eintritt in die konkrete Hilfeplanung, wenn bereits bekannt mit dem Leistungserbringer. – Regelmäßige Überprüfung und Fortschreibung der Hilfeplanung (Steuerung und Begleitung der Hilfe). Hierzu wird auf die Veröffentlichungen „Sozialpädagogische Diagnosetabelle & Hilfeplan, München 2013“ (http://www. blja.bayern.de/service/broschueren/neue/27607/index.php) und „Personalbemessung der örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe in Bayern (PeB), München 2013“ (http:// www.blja.bayern.de/service/broschueren/neue/27603/ index.php) Bezug genommen. Die erstgenannte Broschüre bietet je ein Verfahren zur sozialpädagogischen Diagnostik und zur Hilfeplanung unter besonderer Berücksichtigung des Schutzauftrages, u. a. mit der Zielsetzung, zu einer fundierten Hilfeentscheidung zu gelangen. Die zweite Handreichung erläutert insbesondere die Verfahrensschritte in einem Jugendamt, vom Bekanntwerden eines individuellen Hilfebedarfes bis hin zur Evaluation einer abgeschlossenen Hilfemaßnahme. Die „Fachliche Empfehlung zur Heimerziehung gemäß § 34 SGB VIII, München 2014“ des ZBFS – Bayerisches Landesjugendamt – (http://www.blja.bayern.de/service/bib liothek/fachliche-empfehlungen/heimerziehung_paragraf34. php) gibt weitere Hilfestellung hierzu. In einem modellhaften Phasenverlauf werden hier für Jugendämter und leistungserbringende Fachkräfte beispielhaft die Qualitätsmerkmale im Hilfeverlauf einer gelingenden Heimunterbringung dargestellt. Mögliche Anhaltspunkte für das Vorliegen von Notwendigkeit und Eignung einer Maßnahme der Heimerziehung gemäß §§ 27, 34 SGB VIII sind demnach: – Bei dem betroffenen jungen Menschen liegen Verhaltensauffälligkeiten und Anpassungsstörungen vor, die aufgrund ihrer Schwere, Dauer und Häufung eine andere Jugendhilfeleistung ausschließen. – Fähigkeit und Bereitschaft zu einer Veränderung der Erziehungsbedingungen im derzeitigen Lebensumfeld können nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden. – Die Beziehung der Eltern zu ihrem Kind ist erheblich belastet . – Die Prognose im Hinblick auf eine zeitnahe Verbesserung der Situation von Eltern und Familie ist ungünstig. – Ein Wechsel des Milieus im Hinblick auf die innerfamiliäre Situation oder auf das soziale Umfeld erscheint notwendig . – Die bisherigen erzieherischen Bezugspersonen sind ohne Kompensationsmöglichkeit durch das unmittelbare soziale Umfeld ausgefallen. – Die Hilfe ist voraussichtlich für längere Zeit, d. h. mindestens für sechs Monate notwendig. – Die Erziehung in einer anderen (Pflege- oder Adoptiv-) Familie kommt aufgrund der vorliegenden psychosozialen Belastungen nicht infrage oder eine andere Familie steht nicht zur Verfügung. – Die soziale Integration in eine Gruppe erscheint möglich. Die Auswahl der geeigneten Einrichtung erfolgt anhand der konkreten Fallgestaltung, der Kenntnisse und Erfahrungen der Fachkräfte in den Jugendämtern und auf Basis des Einrichtungsverzeichnisses des Bayerischen Landesamtes für Statistik und Datenverarbeitung. In besonders schwierig gelagerten Einzelfällen unterstützen die Regierungen als zuständige Behörden für die Betriebserlaubnis gem. § 45 SGB VIII und das ZBFS – Bayerisches Landesjugendamt – als überörtlicher Jugendhilfeträger die Kommunen bei der Auswahl geeigneter Einrichtungen. In der Regel wird eine wohnortnahe Unterbringung angestrebt. Von diesem Prinzip kann abgewichen werden, wenn die angestrebten Entwicklungsziele nur durch eine wohnortferne Unterbringung zu erreichen sind. 2. Wie bewertet die Staatsregierung Vorgänge, wie im o. g. ARD-Fernsehbericht dargestellt? Aus Sicht des ZBFS – Bayerisches Landesjugendamt – wird das Handeln der Jugendämter – wie auch im genannten Fall – in der öffentlichen Berichterstattung nur selten differenziert dargestellt. Zumeist wird negativ berichtet, das Jugendamt habe unberechtigt Kinder aus einer Familie genommen bzw. das Jugendamt sei nicht oder zu spät tätig geworden. Aufgrund des Sozialdatenschutzes ist es für die Behörden nicht möglich, Sachverhalte richtigzustellen oder zu laufenden Fällen vertieft und qualifiziert Auskunft zu geben. Auch wird – insbesondere bei sorgerechtlichen Angelegenheiten – die Aufgabenstellung und die damit verbundene Verantwortung der Familien- oder auch Verwaltungsgerichte in der Berichterstattung nur ungenügend berücksichtigt. Solch pauschale Angriffe auf öffentliche und freie Jugendhilfeträger sind zurückzuweisen. Aufgrund des in Art. 6 GG geregelten besonderen Schutzes der Familie, der die Pflege und Erziehung der Kinder als das „natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht“ festlegt, kann die Kinder- und Jugendhilfe den Familien primär nur Hilfsangebote unterbreiten. Diese basieren auf dem Grundsatz der Freiwilligkeit. Nur wenn die Eltern nicht in der Lage sind, eine konkrete Gefährdung ihrer Kinder abzuwenden oder diese nicht abwenden wollen, kommt eine Maßnahme gegen den Willen der Eltern in Betracht. Über eine vorläufige Schutzmaßnahme hinaus liegt die Zuständigkeit für solche Maßnahmen jedoch nicht in der Entscheidungskompetenz der Jugendämter, sondern bei den Familiengerichten. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle gelingt es jedoch, Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen gemeinsam mit den Eltern zu vereinbaren und durchzuführen. Auch bezüglich einer Unterbringung junger Menschen im Ausland sieht das Bundesrecht besondere Voraussetzungen vor. Gemäß § 27 Abs. 2 SGB VIII ist eine Hilfe in der Regel im Inland zu erbringen. Sie darf nur dann im Ausland erbracht werden, wenn dies nach Maßgabe der Hilfeplanung zur Erreichung des Hilfezieles im Einzelfall erforderlich ist. Zudem ist die Einhaltung eines Konsultationsverfahrens gemäß Artikel 56 der Brüssel-IIa-Verordnung erforderlich. Dies bedeutet eine Zustimmung zur Unterbringung durch den ausländischen überörtlichen Jugendhilfeträger, welcher seine Entscheidung vor Bekanntgabe durch das dort örtlich zuständige Familiengericht genehmigen zu lassen hat. Aufgrund von Pauschalierungen und der Zuschreibung von plakativen Vorurteilen ist die Aufmachung des Films „Mit Drucksache 17/7844 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 Kindern Kasse machen“ aus Sicht der Staatsregierung als einseitig und unausgewogen zu werten. Soweit in der genannten Berichterstattung ein Fall aus der Zuständigkeit eines bayerischen Jugendamts genannt war, hat die rechtsaufsichtliche Überprüfung durch die zuständige Regierung ergeben, dass Anhaltspunkte für ein dienst- oder pflichtwidriges Verhalten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des zuständigen Jugendamts nicht vorliegen . 3. Welche Möglichkeiten zur Sicherstellung von bedarfsgerechter Unterstützung und fachlich qualifizierter Betreuung von Kindern und Jugendlichen in stationären Jugendhilfeeinrichtungen sowie zur Gewährleistung der zweckentsprechenden, sparsamen und wirtschaftlichen Verwendung von öffentlichen Mitteln sieht die Staatsregierung? Hierzu wird auch auf die Ausführungen zu Frage 1 verwiesen . Das ZBFS – Bayerisches Landesjugendamt – unterstützt die örtlichen Jugendämter in den Landkreisen und Städten durch qualifizierte fachliche Beratung in der Fallsteuerung , bei der Auswahl geeigneter Jugendhilfemaßnahmen , durch Fachgespräche, Tagungen, Fortbildungen und durch die Veröffentlichung von fachlichen Empfehlungen. Die oben beschriebenen Prozesse in PeB dienen neben der Qualitätssicherung auch einer effizienten Fallbearbeitung in den Jugendämtern. Eine sparsame Mittelverwendung wird durch die Anwendung der Bestimmungen der §§ 78 a ff. SGB VIII erreicht. Die Träger von Einrichtungen verhandeln mit den regionalen Entgeltkommissionen auf Basis der Leistungs- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen die Entgelte, welche dann durch die belegenden Jugendämter zu bezahlen sind. Dabei werden Art, Ziel und Qualität des Leistungsangebotes, der zu betreuende Personenkreis, die erforderliche sächliche und personelle Ausstattung, die Qualifikation des Personals und die betriebsnotwendigen Anlagen der Einrichtung transparent für alle Beteiligten definiert. Ein weiterer Baustein zur Sicherstellung einer qualifizierten Betreuung von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen liegt in der Beratungs- und Aufsichtstätigkeit der Heimaufsicht. In Bayern wird diese durch die Regierungen durchgeführt. Diese strukturelle Ebene des Schutzes von jungen Menschen in Einrichtungen wird ergänzt durch die individuelle Verantwortlichkeit der fallverantwortlichen Jugendämter. In Bayern werden diese Schutzmaßnahmen für junge Menschen durch den Landesheimrat Bayern ergänzt. Der Freistaat Bayern fördert dieses Projekt. Hierbei handelt es sich um ein ehrenamtlich gewähltes Gremium junger Menschen in der Heimerziehung. Sie setzen sich für mehr Beteiligung und für die Wahrnehmung der Rechte von Kindern, Jugendlichen und jungen Volljährigen in Einrichtungen der Erziehungshilfe ein. Der Landesheimrat ist Ansprechpartner und Vertreter für alle jungen Menschen, die in bayerischen Heimen leben, und wird durch eine hauptamtliche Geschäftsstelle im ZBFS – Bayerisches Landesjugendamt – unterstützt. Damit ist der Landesheimrat ein wichtiges Gremium für die Wahrung der Rechte junger Menschen in Einrichtungen . Im Ergebnis ist festzustellen, dass es bewährte Verfahren für die Jugendämter und freien Träger gibt, um eine qualitativ hochwertige Leistung zu erbringen. In den Medien skandalisierte Einzelfälle dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kinder- und Jugendhilfe in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle im positiven Zusammenwirken aller Beteiligten eine gelingende Hilfestellung für Kinder, Jugendliche und ihre Familien leistet.