Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Christine Kamm BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 01.07.2015 Unterbringung und Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen II Ich frage die Staatsregierung: 1. Wie viele unbegleitete Minderjährige (uM) wurden laut Kinder- und Jugendhilfestatistik in den jeweiligen Landkreisen und kreisfreien Städten in Obhut genommen (bitte für die Jahre 2010 bis 2014 einzeln aufschlüsseln )? 1.1 Sollten diese Daten nicht verfügbar sind, bitte ich um Erklärung, warum dies der Fall ist, und frage, ob die Staatsregierung dieses Merkmal zukünftig erheben möchte? 2. Wie viele uM sind derzeit nicht in Jugendmaßnahmen, sondern in Provisorien, Hotels, GUs oder ähnlichen Einrichtungen untergebracht? 3.1 Wie viele uM wurden seit November 2014 im Rahmen der bayernweiten Verteilung verteilt und untergebracht ? 3.2 Wie viele uM wurden außerhalb Bayerns im Rahmen der Jugendhilfe untergebracht? 4.1 Hat die Staatsregierung Kenntnis davon, dass uM, die einer Verteilung widersprechen, wegen fehlender Mitwirkung keine Jugendhilfeleistungen mehr erhalten? 4.2 Sollte dies der Fall sein, frage ich, wie viele uM bislang davon betroffen sind? 5.1 Trifft es zu, dass die Staatsregierung sich in der Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 18. Juni 2015 für eine Herabsenkung der Jugendhilfestandards ausgesprochen hat, um vermeintlichem Asylmissbrauch zu begegnen? 5.2 Welche Standards sollten hierbei unter Nennung der dabei zugrunde liegenden rechtlichen Bestimmungen nach den Vorstellungen der Staatsregierung abgesenkt werden? 5.3 Wie verhält sich diese Forderung zu den Vorgaben der Artikel 2 bis 4 der UN-Kinderrechtskonvention und zu § 6 SGB VIII? 6.1 Wie genau erfolgt die Altersbestimmung unbegleiteter Minderjähriger in Bayern? 6.2 Welche Körperregionen und Extremitäten werden dabei geröntgt oder sonst in irgendeiner Art und Weise medizinisch untersucht (bitte tabellarisch sortiert einzeln auflisten)? 6.3 Welche medizinischen Erklärungen und Prozeduren liegen dabei zugrunde? 7.1 Werden die unbegleiteten Minderjährigen über die Verfahren der Altersbestimmung aufgeklärt? 7.2 Wenn ja, wie? 7.3 Wenn nein, warum nicht? Antwort des Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration vom 04.08.2015 1. Wie viele unbegleitete Minderjährige (uM) wurden laut Kinder- und Jugendhilfestatistik in den jeweiligen Landkreisen und kreisfreien Städten in Obhut genommen (bitte für die Jahre 2010 bis 2014 einzeln aufschlüsseln)? Eine Aufschlüsselung der Daten auf die jeweiligen Landkreise und kreisfreien Städte ist in den Berichten der Kinderund Jugendhilfestatistik nicht enthalten. Die für die Jahre 2010 bis 2014 in der Kinder- und Jugendhilfestatistik insgesamt für Bayern ausgewiesenen Zahlen für uM und junge Volljährige liegen zudem deutlich unter den Werten, wie sie im Rahmen der Erstaufnahmeeinrichtungen (bis 31.12.2013) und durch die seit Mai 2014 durchgeführten monatlichen Erhebungen des StMAS ermittelt wurden. Folgende Zahlen werden in der Kinder- und Jugendhilfestatistik für Bayern genannt (Anlass der Maßnahme: unbegleitete Einreise aus dem Ausland): 2010: 277 2011: 197 2012: 334 2013: 349 2014: 1.986 (Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistiken der Kinderund Jugendhilfe, Vorläufige Schutzmaßnahmen, 2012– 2013 und PM Bayerisches Landesamt für Statistik vom 10.06.2015) Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de –Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de–Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 25.09.2015 17/7886 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/7886 1.1 Sollten diese Daten nicht verfügbar sind, bitte ich um Erklärung, warum dies der Fall ist, und frage, ob die Staatsregierung dieses Merkmal zukünftig erheben möchte? Bis Ende 2013 wurden 16- und 17-jährige unbegleitete Minderjährige in Bayern nach Aufgriff in einer Erstaufnahmeeinrichtung in München oder Zirndorf untergebracht und nach Feststellung des Jugendhilfebedarfs anschließend in der Regel in der Jugendhilfe betreut. Die von den Erstaufnahmeeinrichtungen in Bayern gemeldeten uM-Zahlen für den Zeitraum 2010–Ende 2013 sind jeweils weitaus höher als diejenigen, die in den statistischen Berichten ausgewiesen sind: 2010: 702 2011: 458 2012: 558 2013: 574 Aufgrund dieser festgestellten Diskrepanz erhebt das Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration zur besseren Steuerung (bayernweite Verteilung) seit Mai 2014 jeweils zum Monatsende Stichtagsabfragen, welche die tatsächlichen Zuständigkeiten für uM und junge Volljährige (ehemalige uM, die Hilfen für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII erhalten) bei jedem bayerischen Jugendamt abbilden. Diese Zahlen beinhalten sowohl die Inobhutnahmen von uM als auch die Fälle von uM und jungen Volljährigen, die sich bereits in einer Anschlussmaßnahme befinden. Zum 31.12.2014 befanden sich 3.161 uM (664 unter 16-jährige und 2.497 16- bis 17- jährige uM) sowie 1.304 junge Volljährige im System der Jugendhilfe. 3.415 neu ankommende uM wurden dabei im Laufe des Jahres neu in Obhut genommen. 2. Wie viele uM sind derzeit nicht in Jugendmaßnahmen , sondern in Provisorien, Hotels, GUs oder ähnlichen Einrichtungen untergebracht? Die ggf. erforderliche Unterbringung von uM in Not- und Übergangslösungen findet im Rahmen der Jugendhilfe und in Absprache mit der Heimaufsicht der Regierungen statt. Eine Erfassung zu Provisorien, Hotels, GUs und ähnlichen Einrichtungen findet im StMAS nicht statt. Die weit überwiegende Zahl der uM und jungen Volljährigen ist in regulären Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht. 3.1 Wie viele uM wurden seit November 2014 im Rahmen der bayernweiten Verteilung verteilt und untergebracht ? Von November 2014 bis Ende Juli 2015 wurden im Rahmen der landesweiten Verteilung über 2.400 uM verteilt und untergebracht . 3.2 Wie viele uM wurden außerhalb Bayerns im Rahmen der Jugendhilfe untergebracht? Hierüber liegen der Staatsregierung keine Erkenntnisse vor. 4.1 Hat die Staatsregierung Kenntnis davon, dass uM, die einer Verteilung widersprechen, wegen fehlender Mitwirkung keine Jugendhilfeleistungen mehr erhalten? Wie bei sonstigen Kindern und Jugendlichen auch werden bei der Unterbringung von uM die üblichen Regelungen der Jugendhilfe beachtet. Zunächst werden die uM in Obhut genommen und erhalten im Anschluss in der Regel eine Jugendhilfeleistung . In Einzelfällen kann es aber auch vorkommen , dass der Jugendhilfebedarf eines uM verneint wird. Hierbei ist wesentlich, dass das fallzuständige Jugendamt unter Einbeziehung des unbegleiteten Minderjährigen und seines Vormunds eine gut begründete Einzelfallentscheidung über die Beendigung der Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung trifft. Gegebenenfalls sind ergänzend ambulante Hilfen sicherzustellen. Hinsichtlich dieses Vorgehens besteht breiter Konsens mit den Vertretern der Jugendämter und der Fachverbände, die sich im Rahmen des Forums Unbegleitete Minderjährige (For.UM) hierzu positioniert haben. Über konkrete Einzelfälle einer Ablehnung von Jugendhilfeleistungen liegen der Staatsregierung keine Erkenntnisse vor. 4.2 Sollte dies der Fall sein, frage ich, wie viele uM bislang davon betroffen sind? Auf die Antwort zu Frage 4.1 wird verwiesen. 5.1 Trifft es zu, dass die Staatsregierung sich in der Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 18. Juni 2015 für eine Herabsenkung der Jugendhilfestandards ausgesprochen hat, um vermeintlichem Asylmissbrauch zu begegnen? Mit ihrem Beschluss vom 20.07.2015 fordert die Staatsregierung neben einer bundesweiten Verteilung der unbegleiteten Minderjährigen mit Wirkung ab 01.01.2016 unter anderem eine Überprüfung der Jugendhilfestandards. Hintergrund dieser Forderung, die Jugendhilfestandards zu überprüfen, ist nicht, einem vermeintlichen Asylmissbrauch zu begegnen. Vielmehr besteht mit Vertretern der Praxis aus öffentlicher und freier Jugendhilfe Einigkeit darüber, dass die bundesgesetzlichen Rahmenbedingungen des SGB VIII nicht auf die hohen Zugangszahlen von uM ausgerichtet sind. 5.2 Welche Standards sollten hierbei unter Nennung der dabei zugrunde liegenden rechtlichen Bestimmungen nach den Vorstellungen der Staatsregierung abgesenkt werden? Um künftig die Sicherstellung ausreichender Versorgungsstrukturen und den Vollzug des bundesweiten Verteilungsverfahrens zu gewährleisten, soll das Wunsch- und Wahlrecht über die Regelung der bundesweiten Verteilung als „lex specialis“ eingeschränkt werden. Zudem soll insbesondere bei einer Leistungsgewährung an junge Volljährige (ehemalige uM, die weiterhin Jugendhilfeleistungen erhalten) der Bedarf – vor allem nach einer Unterbringung in einer stationären Einrichtung – kritisch geprüft werden. Kinder- und Jugendhilfe darf nicht zum „Ausfallbürgen“ für andere Systeme werden, die vorrangig für die Wohnraumbeschaffung zuständig sind, zumal vorhandene Kapazitäten für deutlich jüngere uM, deren Betreuungsbedarf im Regelfall höher ist, zur Verfügung stehen müssen. 5.3 Wie verhält sich diese Forderung zu den Vorgaben der Artikel 2 bis 4 der UN-Kinderrechtskonvention und zu § 6 SGB VIII? Mit der Inobhutnahme der uM durch das Jugendamt nach § 42 Absatz 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII wird die vorrangige Berücksichtigung des Wohls des Kindes, wie sie in Artikel 3 Absatz 1 der UN-Kinderrechtskonvention vorgesehen ist, Drucksache 17/7886 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 gewährleistet. Zur Wahrung der Kindesrechte im Sinne von Art. 2 und 4 der UN-Kinderrechtskonvention dient insbesondere die Regelung des § 42 Absatz 2 Satz 4 SGB VIII, wonach das Jugendamt während der Inobhutnahme berechtigt ist, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen notwendig sind. Die Vorgaben des § 6 SGB VIII werden damit ebenfalls gewahrt. 6.1 Wie genau erfolgt die Altersbestimmung unbegleiteter Minderjähriger in Bayern? Die Feststellung der Minderjährigkeit ist Aufgabe der örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Das Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration hat in enger Abstimmung mit der Fachpraxis und angelehnt an die „Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“ der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter entsprechende Empfehlungen veröffentlicht (siehe dazu: http://inobhutnahme-bayern. de/download_altersbegutachtung.html). Als Entscheidungsgrundlage sind insbesondere die Inaugenscheinnahme des jungen Menschen, das persönliche Gespräch und ggf. ein medizinisches Sachverständigengutachten heranzuziehen. 6.2 Welche Körperregionen und Extremitäten werden dabei geröntgt oder sonst in irgendeiner Art und Weise medizinisch untersucht (bitte tabellarisch sortiert einzeln auflisten)? Die Auswahl der einzelnen Untersuchungsschritte im Falle einer medizinischen Begutachtung liegt im Ermessen des Gutachters, wobei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt werden muss. In der Regel wird von den Gutachtern zunächst neben einer körperlichen Untersuchung eine zahnärztliche Untersuchung und erst im Anschluss ggf. ein Röntgen der Hand/Schlüsselbeine und der Zähne vorgenommen . 6.3 Welche medizinischen Erklärungen und Prozeduren liegen dabei zugrunde? Auf die Antwort zu Frage 6.2 wird verwiesen. 7.1 Werden die unbegleiteten Minderjährigen über die Verfahren der Altersbestimmung aufgeklärt? Alle betroffenen Minderjährigen werden im Bedarfsfall unter Hinzuziehung eines Dolmetschers über die jeweils als Nächstes zu vollziehenden Schritte zur Feststellung der Minderjährigkeit informiert. Sie sind darüber aufgeklärt, dass eine Inobhutnahme in der Kinder- und Jugendhilfe nur bei Feststellung der Minderjährigkeit möglich ist. 7.2 Wenn ja, wie? Auf die Antwort zu Frage 7.1 wird verwiesen. 7.3 Wenn nein, warum nicht? Auf die Antwort zu Frage 7.1 wird verwiesen.