Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Kathi Petersen SPD vom 04.08.2015 Depressive Erkrankungen bei bayerischen Arbeitnehmer (inn)en und Arbeitnehmern Sowohl der Gesundheitsreport der DAK vom Juli 2015 wie auch der bereits im Januar 2015 von der Techniker Krankenasse (TK) veröffentlichte Depressionsatlas belegen eine drastische Zunahme depressiver Erkrankungen. So haben sich laut Depressionsatlas, der auf den 4,1 Mio. TK-Versicherten basiert, bundesweit die Fehltage von Arbeitnehmer(inne)n von 2000 bis 2013 um beinahe 70 % erhöht. Im Durchschnitt waren Betroffene 64 Tage lang nicht arbeitsfähig. Zudem stieg die Zahl der Fälle, bei denen Antidepressiva verordnet worden sind, im selben Zeitraum um das Dreifache. Ich frage die Staatsregierung: 1. Welche Kenntnisse hat die Staatsregierung über die Belastung von Arbeitnehmer(inne)n mit depressiven Erkrankungen im Freistaat Bayern (Antworten bitte aufgeteilt nach Regierungsbezirken, Landkreisen und kreisfreien Städten)? 2. a) Wie beurteilt die Staatsregierung die zunehmende Inzidenz und Prävalenz von depressiven Erkrankungen bei Arbeitnehmer(inne)n im Freistaat Bayern? b) Welche Ursachen könnten der Zunahme der Erkrankungshäufigkeit zugrunde liegen? c) Welche präventiven Maßnahmen hält die Staatsregierung grundsätzlich für geeignet, um Prävalenz und Inzidenz depressiver Erkrankungen bei Arbeitnehmer(inne)n zu reduzieren? 3. Welche Rolle könnten Gefährdungsbeurteilungen hier spielen? 4. a) Wie beurteilt die Staatsregierung das besonders hohe Risiko einer depressiven Erkrankung bei Angehörigen von Sozial- und Gesundheitsberufen, insbesondere bei Altenpfleger(inne)n? b) Welche Ursachen liegen der hohen Krankheitsbelastung in diesen Berufen zugrunde? c) Welche präventiven Maßnahmen sind nach Auffassung der Staatsregierung hier geeignet? 5. a) Wie beurteilt die Staatsregierung den sozialen Gradienten bei der Erkrankungshäufigkeit? b) Wie beurteilt die Staatsregierung die vergleichsweise häufige Verordnung von Antidepressiva in Bayern, insbesondere in einigen Gegenden in Niederbayern und der Oberpfalz (s. TK-Depressionsatlas 2015, S. 27) Antwort des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 06.10.2015 Die Schriftliche Anfrage wird im Einvernehmen mit dem Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration wie folgt beantwortet: 1. Welche Kenntnisse hat die Staatsregierung über die Belastung von Arbeitnehmer(inne)n mit depressiven Erkrankungen im Freistaat Bayern (Antworten bitte aufgeteilt nach Regierungsbezirken, Landkreisen und kreisfreien Städten)? Kleinräumige Daten zu depressiven Störungen bei Arbeitnehmer(inne)n und Arbeitnehmern in Bayern liegen der Staatsregierung zum einen aus dem Depressionsatlas der TK (Techniker Krankenkasse (2015) Depressionsatlas, Hamburg) vor. Dort werden u. a. Daten zur Arbeitsunfähigkeit infolge von Depressionen bei den TK-Versicherten ausgewiesen. Zum anderen liegen kleinräumige Daten zu diesem Störungsbild für Barmer GEK-Versicherte aus dem Gesundheitsreport Bayern 2014 der Barmer GEK vor (Barmer GEK (2014) Gesundheitsreport 2014 Bayern, Wuppertal ). Kassenartenübergreifende Daten zu depressiven Störungen gibt es auf regionaler Ebene nicht. Dem Depressionsatlas der TK zufolge waren in Bayern 2013 ca. 11 % weniger Personen aufgrund einer Depression arbeitsunfähig als im Bundesdurchschnitt. Die Betroffenenrate lag bei den TK-Versicherten in Bayern bei 1,42 % gegenüber 1,59 % in Deutschland. Auch dem Gesundheitsreport der Barmer GEK zufolge gab es in Bayern weniger Krankschreibungen infolge von Depressionen als im Bundesdurchschnitt (Betroffenenrate der Erwerbspersonen mit Arbeitsunfähigkeit: 1,85 % in Bayern versus 2,04 % im Bundesdurchschnitt). Allerdings gibt es der Barmer GEK zufolge in Bayern unter der Erwerbsbevölkerung mehr Menschen mit einer diagnostizierten Depression als im Bundesdurchschnitt: Dem Gesundheitsreport der Barmer GEK ist zu entnehmen, dass 2012 in Bayern 11,94 % der Erwerbspersonen (Erwerbstätige und Arbeitsuchende) eine diagnostizierte Depression hatten, gegenüber 10,94 % im Bundesdurchschnitt. Dieser Befund wird auch durch die Daten der GEDA-Studie des Robert-Koch-Instituts bestätigt (hier unter Bezug auf die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter): Anteil der Bevölkerung mit einer ärztlich diagnostizierten Depression, 2012 Deutschland Bayern 18 bis unter 30 Jahre 5,0 % 3,8 % 30 bis unter 45 Jahre 7,4 % 5,9 % 45 bis unter 65 Jahre 11,3 % 14,2 % 18 bis unter 65 Jahre 8,7 % 9,1 % Datenquelle: RKI, GEDA Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de –Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de–Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 27.11.2015 17/8279 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/8279 Somit ist festzuhalten, dass in Bayern einerseits etwas mehr Menschen mit einer diagnostizierten Depression leben als im Bundesdurchschnitt, dies gilt auch für die Erwerbsbevölkerung , dass aber andererseits in Bayern weniger Beschäftigte aufgrund einer Depression krankgeschrieben werden als im Bundesdurchschnitt. Viele Menschen gehen, auch nachdem sie die Diagnose einer Depression erhalten haben , zur Arbeit. D. h. nur ein kleiner Teil der diagnostizierten Depressionen schlägt sich unmittelbar in einer Krankschreibung nieder. Für die Landkreise und kreisfreien Städte weisen sowohl der Depressionsatlas der TK als auch der Gesundheitsreport der Barmer GEK nur Abweichungen der Betroffenenrate vom Bundesdurchschnitt aus, die numerischen Werte liegen nicht vor. Beide Reporte verzeichnen in Nordostbayern etwas höhere Betroffenenraten als im Süden und Westen Bayerns. Dieses regionale Muster ist bei vielen gesundheitlichen Merkmalen in Bayern gegeben und steht mit der sozioökonomischen Struktur Bayerns in Zusammenhang. 2. a) Wie beurteilt die Staatsregierung die zunehmende Inzidenz und Prävalenz von depressiven Erkrankungen bei Arbeitnehmer(inne)n im Freistaat Bayern ? b) Welche Ursachen könnten der Zunahme der Erkrankungshäufigkeit zugrunde liegen? c) Welche präventiven Maßnahmen hält die Staatsregierung grundsätzlich für geeignet, um Prävalenz und Inzidenz depressiver Erkrankungen bei Arbeitnehmer(inne)n zu reduzieren? Die Fragen werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet: Die von allen Krankenkassen seit vielen Jahren berichtete Zunahme der Krankschreibungen von Arbeitnehmer(inne)n und Arbeitnehmern in Deutschland infolge von psychischen Störungen, darunter vor allem depressiven Störungen, ist eine Zunahme diagnostizierter Erkrankungen. Ob Depressionen an sich häufiger werden, wird unter Fachleuten kontrovers diskutiert. Daten großer Surveys auf Bundesebene deuten darauf hin, dass es keinen Anstieg der Depressionen an sich gibt (Wittchen HU et al (2011), The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. European Neuropsychopharmacology 21: 655-679). Insofern könnte der Anstieg der diagnostizierten Fälle auf eine partielle Enttabuisierung des Krankheitsbildes und ein besseres Versorgungsangebot zurückzuführen sein (siehe auch LGL Bayern (2011) Gesundheitsreport Bayern 1/2011: Psychische Gesundheit – Update 2011). Die gängigen Ursachenmodelle der Entstehung psychischer Erkrankungen gehen von einem „biopsychosozialen“ Modell aus, wonach (neuro-)biologische, psychische und soziale Faktoren sowie deren Wechselwirkung die zentrale Rolle für die Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Erkrankungen (Depression, Angststörung etc.) spielen . Als belastende psychosoziale Einflüsse können akute (kritische Lebensereignisse, traumatische Erfahrungen wie z. B. Gewalterfahrungen) oder chronische Stressoren (z. B. familiäre Konflikte, Arbeitsplatzunsicherheit) unterschieden werden, die aufgrund ihrer Bedrohlichkeit (chronische) Stressreaktionen im Organismus auslösen und zu psychosomatischen Beeinträchtigungen, Ängsten etc. führen können . Arbeitsplatzbezogene psychische Belastungen sind hier nur ein Teilaspekt im komplexen Ursachengefüge von depressiven Störungen. Es gibt empirische Evidenz, dass eine hohe psychische Belastung am Arbeitsplatz (Stress z. B. durch andauernde Überforderung am Arbeitsplatz) zu den Risikofaktoren für die Entstehung/Auslösung und/oder Aufrechterhaltung einer psychischen Erkrankung zählt. Wissenschaftlichen Studien zufolge (siehe z. B. die Publikationen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin „Stressreport Deutschland 2012“ und die 2010 veröffentlichte „Untersuchung arbeitsbedingter Ursachen für das Auftreten von depressiven Störungen “) werden unter anderem folgende Arbeitsmerkmale mit dem Auftreten psychischer Störungen wie einer Depression in Verbindung gebracht: hohe Arbeitsintensität (z. B. Zeitdruck und Störungen des Arbeitsablaufs), sogenannte Gratifikationskrisen (Ungleichgewicht hoher Anforderungen im Beruf und den erhaltenen Belohnungen wie Lohn, Anerkennung etc.), eine geringe soziale Unterstützung am Arbeitsplatz (durch Kollegen und Vorgesetzte), soziale Stressoren am Arbeitsplatz (eskalierte Konflikte oder Mobbing), Arbeitsplatzunsicherheit und in der Folge Arbeitsplatzverlust. Vor diesem Hintergrund erscheinen alle betrieblichen Maßnahmen, die geeignet sind, diese arbeitsbedingten psychischen Risikofaktoren zu verringern bzw. ihnen vorzubeugen , letztlich auch hilfreich im Sinne einer Prävention. Allerdings sollte der Einfluss dieser Maßnahmen angesichts des multifaktoriellen Entstehungszusammenhangs einer Depression nicht überschätzt werden. Solche präventiven Maßnahmen, die entweder der Verhältnis - oder der Verhaltensprävention zuzuordnen sind, können im Sinne aktueller arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse beispielhaft sein (keine abschließende Aufzählung): Drucksache 17/8279 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 – Maßnahmen zur Reduzierung von Leistungsverdichtung, – Erweiterung von Handlungs- und Kontrollspielräumen beim Arbeitsablauf (inhaltliche und zeitliche Freiheitsgrade ), – verbesserte Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen , – Maßnahmen zur Verbesserung der betrieblichen Gratifikationen (angemessene Gehälter und Löhne, faire Aufstiegschancen und Bemühungen des Unternehmens um den Erhalt von Arbeitsplätzen, aber auch eine Anerkennungs - und Wertschätzungskultur im Unternehmen), – gezielte Schulung von Führungsverhalten, Förderung vertrauensvoller zwischenmenschlicher Beziehungen sowie von Transparenz und Gerechtigkeit, – Stressmanagement- und Stressbewältigungstrainings für die Beschäftigten, Coachings etc., – bessere Vereinbarkeit von Arbeits- und Privatleben. 3. Welche Rolle könnten Gefährdungsbeurteilungen hier spielen? Die Gefährdungsbeurteilung ist eine arbeitsschutzgesetzliche Pflicht, die sich an den Arbeitgeber richtet. Sie dient der menschengerechten Gestaltung von Arbeit, der Prävention von Unfällen und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren und ist ein zentrales Instrument zur Steuerung der betrieblichen Arbeitsschutzaktivitäten. Bei der Gefährdungsbeurteilung im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes geht es immer um die Beurteilung und Gestaltung der Arbeit. Für die Ermittlung der Ursachen von (depressiven) Erkrankungen ist sie weder vorgesehen noch geeignet. Ein Zusammenhang zwischen Belastungsschwerpunkten und der Häufigkeit von Depressionen im Betrieb ist nicht darstellbar, da dem Arbeitgeber lediglich Arbeitsunfähigkeitszeiten, nicht jedoch Diagnosen bekannt sind. Auch die Gewerbeaufsicht als Aufsichtsbehörde hat keinen Zugang zu Diagnosen. Auftrag des Arbeitsschutzgesetzes ist es, mit der Gefährdungsbeurteilung auch die psychischen Belastungsfaktoren zu erheben, auszuwerten und ggf. entsprechende Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten zu ergreifen. In diesem Sinne kann die betriebliche Gefährdungsbeurteilung einen Beitrag dazu leisten, die mit der Arbeit assoziierten Risikofaktoren (siehe Antwort zu Frage 2) für eine psychische Erkrankung zu ermitteln und Gegenmaßnahmen abzuleiten. 4. a) Wie beurteilt die Staatsregierung das besonders hohe Risiko einer depressiven Erkrankung bei Angehörigen von Sozial- und Gesundheitsberufen, insbesondere bei Altenpfleger(inne)n? b) Welche Ursachen liegen der hohen Krankheitsbelastung in diesen Berufen zugrunde? c) Welche präventiven Maßnahmen sind nach Auffassung der Staatsregierung hier geeignet? Die Fragen werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet: Siehe hierzu auch Antwort zu Frage 2. Zur Vermeidung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz hat die bayerische Gewerbeaufsicht die Ergebnisse verschiedener empirischer Untersuchungen, wonach der psychische Gesundheitszustand von Altenpfleger(inne)n signifikant schlechter ist als der Durchschnitt der berufstätigen Bevölkerung in Deutschland, immer wieder zum Anlass genommen, in diesem Bereich besonders aktiv zu werden. 2005/2006 führte die bayerische Gewerbeaufsicht eine Schwerpunktaktion mit dem Titel „Psychische Fehlbelastungen in der stationären Altenpflege und Möglichkeiten der Prävention“ durch. Das Projekt befasste sich vorrangig mit psychischen Fehlbelastungen von Pflegekräften in der stationären Altenpflege in Bayern. Die Unternehmen sollten sensibilisiert werden, sich im eigenen Interesse mit der Optimierung der arbeitsbedingten psychischen Belastungen ihrer Beschäftigten auseinanderzusetzen. In den Besichtigungen „vor Ort“ und in Gesprächen mit den betrieblichen Funktionsträgern und Mitarbeitern wurden psychische Belastungen ermittelt und gemeinsam Lösungen angedacht, wie die vorgefundenen Fehlbelastungen effektiv reduziert werden können. Befragt wurden 4.500 Beschäftigte aus 243 bayerischen Altenheimen. Die wirkungsvollsten Beiträge zur Belastungsoptimierung sahen sie im Mittel in arbeitsorganisatorischen Maßnahmen (rechtzeitige und ausreichende Information, eindeutige Klärung von Zuständigkeiten, Schaffung von Zeitpuffern) und Fortbildungsangeboten. Weiter beteiligte sich die bayerische Gewerbeaufsicht am Arbeitsprogramm „Pflege“ der Deutschen Gemeinsamen Arbeitsschutzstrategie (GDA) mit Betriebsbesichtigungen in den Jahren 2009–2012. Ziel des Arbeitsprogramms war es unter anderem, die psychischen Fehlbelastungen in der Altenpflege zu verringern. Im Rahmen des GDA-Arbeitsprogramms „Schutz und Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingten psychischen Belastungen“ findet derzeit eine Vertiefungsaktion der Gewerbeärztlichen Dienste in Bayern im Bereich der ambulanten Pflege statt. Ergebnisse werden Mitte des nächsten Jahres veröffentlicht. 5. a) Wie beurteilt die Staatsregierung den sozialen Gradienten bei der Erkrankungshäufigkeit? b) Wie beurteilt die Staatsregierung die vergleichsweise häufige Verordnung von Antidepressiva in Bayern, insbesondere in einigen Gegenden in Niederbayern und der Oberpfalz (s. TK-Depressionsatlas 2015, S. 27) Die meisten Erkrankungen weisen einen Sozialgradienten auf. In dieser Hinsicht stellen die Depressionen keine Ausnahme dar. Das regionale Muster bei den Verordnungen von Antidepressiva korrespondiert mit der Häufigkeit der diagnostizierten Depressionen. Zu diesem Schluss kommen auch die beiden Krankenkassenreporte. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass Spezifika des regionalen Versorgungsangebots , z. B. das Verhältnis zwischen psychologischen und ärztlichen Psychotherapeuten bzw. Psychiatern, ebenfalls eine Rolle spielen.