Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Prof. (Univ. Lima) Dr. Peter Bauer FREIE WÄHLER vom 09.09.2015 Analphabeten in Bayern In den Nürnberger Nachrichten (NN) vom 8. September 2015 war anlässlich des „Weltalphabetisierungstages“ zu lesen , dass es in Deutschland rund 7,5 Millionen „funktionale Analphabeten“ gibt, 300.000 Deutsche hätten sogar Probleme , den eigenen Namen zu schreiben. Daher frage ich die Staatsregierung: 1. Wie viele Personen in Bayern gelten als „funktionale Analphabeten “, aufgeteilt nach Geschlecht, Alter und wie hat sich die Anzahl in den letzten fünf Jahren verändert? 2. Wie ist es aus Sicht der Staatsregierung zu erklären, dass im Bildungsland Bayern junge Menschen nach neunjähriger Schulpflicht die Schule als „funktionale Analphabeten “ verlassen? 3. Welche Maßnahmen hat die Staatsregierung in den letzten fünf Jahren ergriffen, um „funktionale Analphabeten “ zu verhindern, und welche Maßnahmen sind in den nächsten Jahren geplant, um zu verhindern, dass junge Menschen die Schule ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeit verlassen? 4. Gibt bzw. gab es Sonderprogramme oder sind welche in Planung, die darauf abzielen, „funktionale Analphabeten“ im Erwachsenenalter zu fördern bzw. zu motivieren, um Lesen und Schreiben zu lernen? 5. Welche, insbesondere finanziellen, Mittel hat die Staatsregierung zur Bekämpfung des „funktionalen Analphabetismus “ bereits zur Verfügung gestellt oder plant sie, zur Verfügung zu stellen, und wird im Nachtragshaushalt die Staatsregierung im Rahmen der Volkshochschulen (VHS) spezielle Kurse fördern, wenn nein, warum nicht? Antwort des Staatsministeriums für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst vom 05.11.2015 1. Wie viele Personen in Bayern gelten als „funktionale Analphabeten“, aufgeteilt nach Geschlecht, Alter und wie hat sich die Anzahl in den letzten fünf Jahren verändert ? Eine statistische Erhebung über die Zahl der in Bayern lebenden Menschen mit funktionalem Analphabetismus besteht nicht. Derartige Zahlen differenziert nach Geschlecht und Alter sind aus Sicht des Staatsministeriums nicht zu erlangen. Die Anfang 2011 erschienene und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Level-One Studie1 kommt zu dem Ergebnis, dass in Deutschland 7,5 Mio. Menschen vom funktionalen Analphabetismus betroffen sind. Aus diesem Ergebnis wird für Bayern die Zahl der Menschen mit funktionalem Analphabetismus auf rund 700.000 abgeleitet. 2. Wie ist es aus Sicht der Staatsregierung zu erklären, dass im Bildungsland Bayern junge Menschen nach neunjähriger Schulpflicht die Schule als „funktionale Analphabeten“ verlassen? Funktionaler Analphabetismus entsteht auch dadurch, dass Lesen und Schreiben über längere Zeit nicht „geübt“ wird oder Kinder und Jugendliche aus nicht alphabetisierten Gesellschaftsteilen anderer Länder an eine bayerische Schule quer einsteigen. Nach vollständiger 9-jähriger Schulzeit an der Mittelschule ist auch bei Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf Analphabetismus vorstellbar . Mit Beendigung der neunjährigen Schulpflicht haben Schülerinnen und Schüler der Förderschule ein sehr unterschiedliches Maß an Lese- und Rechtschreibkompetenzen erworben. Diese sind durch die unterschiedlichen kognitiven Voraussetzungen der Schülerschaft bedingt. Besonders deutlich wird dies bei der Schülerschaft mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Nur ca. 3 % erreichen Lese- und Rechtschreibkompetenzen, die nicht unter eine Kategorisierung von funktionalem Analphabetismus fallen. Die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler erreicht entsprechend ihrer intellektuellen Fähigkeiten darunterliegende Kompetenzstufen . Mit zunehmend intellektueller Leistungsfähigkeit steigern sich in den Förderschwerpunkten Lernen, Hören, Sprache, Sehen, körperlich-motorische Entwicklung bzw. emotional-soziale Entwicklung die Lese- und Rechtschreibkompetenzen der Schülerinnen und Schüler deutlich. Körperliche und Sinnesbeeinträchtigungen erschweren teils Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de –Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de–Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 14.12.2015 17/8911 Bayerischer Landtag 1 Prof. Dr. Anke Grotlüschen, Professorin für Lebenslanges Lernen, Universität Hamburg Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/8911 den funktionellen Gebrauch von Schriftsprache erheblich. Eine Klassifizierung dieser Schüler als funktionale Analphabeten kann nur im Einzelfall, bestimmt durch die individuellen Voraussetzungen der Schülerin bzw. des Schülers, vorgenommen werden. 3. Welche Maßnahmen hat die Staatsregierung in den letzten fünf Jahren ergriffen, um „funktionale Analphabeten “ zu verhindern, und welche Maßnahmen sind in den nächsten Jahren geplant, um zu verhindern , dass junge Menschen die Schule ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeit verlassen? Im Rahmen des Unterrichts wird u. a. das „Lesen (er)lernen“ und „Lesen können“ durch zahlreiche schulspezifische Prinzipien und Unterstützungsmaßnahmen befördert, darunter: – Klassenleiterprinzip In den meisten Fächern unterrichtet dieselbe Lehrkraft in einer Klasse und gewährleistet dadurch über die Dauer eines Schuljahres eine engere Betreuung und Unterstützung der einzelnen Schülerinnen und Schüler (individuelle Betreuung, Intensivierung) – auch im Bereich der Lesefähigkeit. – Individuelle / modulare Förderung Dem Prinzip der individuellen Förderung, das einen besonderen Stellenwert besitzt, wird in verschiedener Weise Rechnung getragen. So ist das Ziel, alle Schülerinnen und Schüler bestmöglich zu fördern – sowohl im Klassenverband als auch in individualisierten Sozialformen – fest im Erziehungs- und Bildungsauftrag verankert und Aufgabe aller am Unterricht Beteiligten. Ermöglicht wird individuelle Förderung durch die modulare Förderung (Deutsch, Mathematik, Englisch) in den Jahrgangsstufen 5 und 6 (nach Erfassen der Lernausgangslage) und durch zusätzliche Förderstunden in Jahrgangsstufe 5 und 6. – Kleine Klassen Die Tatsache, dass die durchschnittliche Schülerzahl in den Mittelschulklassen unter 20 liegt, erleichtert den Lehrkräften die Durchführung von Differenzierungs- und Individualisierungsmaßnahmen auch im Rahmen des regulären Pflichtunterrichts. – Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund Ausländische Kinder und Jugendliche, die schulpflichtig sind, werden zunächst in der Sprengelschule eingeschult , wo über die geeignete Deutschfördermaßnahme entschieden wird. Deutschfördermaßnahmen an Mittelschulen sind neben der individuellen Förderung Deutschförderklassen, Deutschförderkurse und Übergangsklassen. Die Zielsetzung der Übergangsklasse ist in erster Linie der Spracherwerb , um den Übergang in eine Regelklasse zu ermöglichen . Im Förderschulbereich durchlaufen die Schülerinnen und Schüler eine zeitlich oft gegenüber der Norm verzögerte Entwicklung und Reifung. Entsprechend erstreckt sich die Anbahnung und Förderung von Lese- und Rechtschreibkompetenzen über einen längeren Zeitraum. Um den Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ein altersangemessenes Angebot zur Steigerung ihrer Lese- und Schreibkenntnisse bieten zu können, entwickelt das Staatsministerium in Zusammenarbeit mit der Ludwig- Maximilians-Universität München einen computergestützten Leselehrgang. Dieser bietet auch Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen 7–9 die Möglichkeiten des Ausbaus ihrer Lese- und Schreibfähigkeit. 4. Gibt bzw. gab es Sonderprogramme oder sind welche in Planung, die darauf abzielen, „funktionale Analphabeten “ im Erwachsenenalter zu fördern bzw. zu motivieren, um Lesen und Schreiben zu lernen? Im Jahr 2013 wurde ein Förderprogramm „ALPHA+ besser lesen und schreiben“ aufgelegt. Für dieses Förderprogramm standen in den Jahren 2013 und 2014 jährlich 500.000 € ESF-Mittel und 200.000 € Landesmittel zur Verfügung. Dieses Förderprogramm wurde inzwischen wegen der nicht mehr zur Verfügung stehenden ESF-Mittel eingestellt. Im Rahmen dieses Förderprogrammes wurden 148 Einzelprojekte mit 1.436 Teilnehmerinnen und Teilnehmern realisiert. Als Projektträger traten praktisch ausschließlich Volkshochschulen auf. Seit Januar 2015 stellt das Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst Landesmittel in Höhe von 700.000 € (2015) und 1.000.000 Mio. € (2016) für die Förderung von Kursen zur Alphabetisierung bereit. Mit diesen Mitteln wird nach einer Vereinfachung der Förderbedingungen das ursprüngliche Förderprogramm „AL- PHA+ besser lesen und schreiben“ unter gleichem Namen fortgeführt. Zielgruppe dieses Projektes sind Personen ab dem vollendeten 15. Lebensjahr mit erheblichen Defiziten in den schriftsprachlichen Kompetenzen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben. Die Kurse sollen mit einem hohen Lebens- und Arbeitsweltbezug die Lese- und Schreibfähigkeit der Teilnehmenden verbessern und können auch Einheiten zum Ausgleich von Grundbildungsdefiziten im mathematischen und wirtschaftlichen Bereich enthalten. Die Förderung erfolgt als Projektförderung in Form einer pauschalierten Anteilfinanzierung; der Fördersatz beträgt maximal 70 % der förderfähigen pauschalen Gesamtkosten. Das Förderprogramm wird für ganz Bayern durch die Regierung von Niederbayern vollzogen. 5. Welche, insbesondere finanziellen, Mittel hat die Staatsregierung zur Bekämpfung des „funktionalen Analphabetismus“ bereits zur Verfügung gestellt oder plant sie, zur Verfügung zu stellen, und wird im Nachtragshaushalt die Staatsregierung im Rahmen der Volkshochschulen (VHS) spezielle Kurse fördern, wenn nein, warum nicht? Wie bereits in der Antwort zu Frage 4 ausgeführt, werden die Haushaltsmittel für das ausschließlich aus Landesmitteln finanzierte Förderprogramm „ALPHA+ besser lesen und schreiben“ im Jahr 2016 gegenüber dem Jahr 2015 um 300.000 € auf 1.000.000 € erhöht.