Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Christine Kamm BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 12.10.2015 Will die Staatsregierung Fluchtursachen oder Flüchtlinge bekämpfen? Von verschiedenen Vertretern der Staatsregierung wurde – in Zusammenhang mit dem Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten Orban bei der CSU-Klausur – als auch später – die Begrenzung des Flüchtlingszuzugs oder auch ein Aufnahmestopp als Lösungsansatz gepriesen, wobei zugrunde liegende Umsetzungsideen ungeklärt bleiben. Ich frage die Staatsregierung: 1.1 Was versteht die Staatsregierung unter Kontingenten für Bürgerkriegsflüchtlinge? 1.2 Nach welchen Kriterien soll das Kontingent, welches Bayern aufnehmen möchte, gebildet werden? 1.3 Wie viele Flüchtlinge will die Staatsregierung im Rahmen einer Kontingentlösung aufnehmen? 2. Was unternimmt die Staatsregierung, damit hier lebende Syrer und anerkannte syrische Flüchtlinge schnell ihre engsten Familienangehörigen aus den Kriegsgebieten nachholen können? 3. Was soll nach Meinung der Staatsregierung mit den Schutzsuchenden geschehen, die sich auf den Inseln in Griechenland oder an den unterschiedlichen Grenzen Südosteuropas befinden, wo keinerlei Aufnahmekapazität mehr besteht, oder aus der Seenot gerettet werden, wenn sowohl die deutschen Kontingente als auch die Kontingente der an Deutschland angrenzenden Nachbarländer überschritten sind? 4.1 Wie beurteilt die Staatsregierung den Vorschlag von Minister Söder, wonach Zäune an den bayerischen Grenzen errichtet werden sollen, und den Vorschlag des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, wonach griechische Inseln militärisch gesichert werden sollen und es dazu den europäischen Staaten ermöglicht werden muss, hierzu Militärkontingente nach Griechenland zu entsenden? 4.2 Wie ist es nach Ansicht der Staatsregierung auszuschließen , dass durch zunehmende Grenzzäune Flüchtlinge in den beginnenden Wintermonaten im Niemandsland zwischen den verschiedenen geschlossenen Grenzen oder in anderen denkbar menschenunwürdigen Situationen stranden, wodurch beispielsweise Kinder zu Schaden kommen könnten? 5.1 Trifft es zu, dass in Ungarn allein in diesem Jahr über 150.000 Flüchtlinge registriert wurden, aber sich nur etwa 3.000 im Asylsystem befinden? 5.2 Wie viele Flüchtlinge hat Bayern dieses Jahr direkt von Österreich an der Grenze übernommen? 5.3 Weshalb will die Staatsregierung weiterhin am längst gescheiterten Dublin-III-System und der Kriminalisierung der schutzsuchenden Flüchtlinge, die hierher über einen anderen EU-Staat kommen, festhalten? 6. Wie würde die Staatsregierung eine ideale europaweite Verteilung der Flüchtlinge beschreiben und wie definiert sie einheitliche europäische Asylmindeststandards in Bezug auf Verfahren, Unterbringung, Verpflegung und Teilhabe? 7. In Bezug auf die Rede in der Vollversammlung am 30.09.2015 von Innenminister Herrmann und seinem Vorschlag, direkt an den bayerischen Grenzen beschleunigte Asylverfahren durchzuführen und abgelehnte Asylbewerber/-innen abzuweisen, frage ich, wo diese Transitzonen in der Grenzregion zu Österreich errichtet werden sollen (da aufgrund von Erfahrungen der ehemaligen innerdeutschen Transitzonen davon ausgegangen werden kann, dass viel Platz benötigt wird), wie viele dieser Einrichtungen geplant sind, für wie viele Asylsuchende sie jeweils konzipiert werden sollen und ob von dort aus Asylverfahren und Abschiebungen durchgeführt werden sollen? 8. Prüft die Staatsregierung im Voraus, ob ihre Forderungen im Bereich der Asylpolitik mit geltendem europäischem Recht vereinbar sind? Antwort des Staatsministeriums des Innern, für Bau und Verkehr vom 23.11.2015 1.1 Was versteht die Staatsregierung unter Kontingenten für Bürgerkriegsflüchtlinge? Einem Menschen, der vor den allgemeinen Gefahren in einem Bürgerkrieg flieht, ist sogenannter subsidiärer Schutz zu gewähren, wenn bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts besteht (Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehö- Drucksachen, Plenarprotokolle sowie die Tagesordnungen der Vollversammlung und der Ausschüsse sind im Internet unter www.bayern.landtag.de –Dokumente abrufbar. Die aktuelle Sitzungsübersicht steht unter www.bayern.landtag.de–Aktuelles/Sitzungen/Tagesübersicht zur Verfügung. 17. Wahlperiode 23.12.2015 17/9159 Bayerischer Landtag Seite 2 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/9159 rigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, sog. Qualifikations-Richtlinie; umgesetzt durch § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 des Asylgesetzes). Für subsidiär Schutzberechtigte gilt weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch fallen sie unter Art. 16 a des Grundgesetzes. Vor diesem Hintergrund ist es daher möglich, durch eine entsprechende Änderung der Qualifikations-Richtlinie über Kontingente die Zahl der in der Europäischen Union aufzunehmenden subsidiär Schutzberechtigten zu begrenzen. Die Staatsregierung hat dies mit Beschluss des Ministerrats vom 09.10.2015 gefordert . 1.2 Nach welchen Kriterien soll das Kontingent, welches Bayern aufnehmen möchte, gebildet werden? Mit Beschluss des Ministerrats vom 09.10.2015 hat die Staatsregierung den Bund und die Europäische Union aufgefordert , die Grundlagen dafür zu schaffen, schutzbedürftige Bürgerkriegsflüchtlinge im Rahmen von Kontingenten aufzunehmen und nach einem solidarischen Verteilmechanismus mit festen Quoten innerhalb und außerhalb der Europäischen Union zu verteilen. Über die konkrete Ausgestaltung von Kontingenten wird auf europäischer Ebene zu entscheiden sein. Eine Vorfestlegung z. B. auf bestimmte Personengruppen oder bestimmte Kriterien kann daher nicht erfolgen. 1.3 Wie viele Flüchtlinge will die Staatsregierung im Rahmen einer Kontingentlösung aufnehmen? Auf die Antwort zu Ziffer 1.2 wird verwiesen. 2. Was unternimmt die Staatsregierung, damit hier lebende Syrer und anerkannte syrische Flüchtlinge schnell ihre engsten Familienangehörigen aus den Kriegsgebieten nachholen können? Der Familiennachzug richtet sich nach den Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes (§§ 27 ff. AufenthG). Die Prüfung der Voraussetzungen erfolgt im Rahmen des Visumverfahrens und somit in der Zuständigkeit des Auswärtigen Amts und nicht der Staatsregierung. Auch für den organisatorischen Ablauf des Visumverfahrens ist allein das Auswärtige Amt mit seinen Auslandsvertretungen zuständig. Die Länder haben Globalzustimmungen nach § 32 der Aufenthaltsverordnung erteilt, sodass es keiner Zustimmung der Ausländerbehörde zur Visumerteilung bedarf. 3. Was soll nach Meinung der Staatsregierung mit den Schutzsuchenden geschehen, die sich auf den Inseln in Griechenland oder an den unterschiedlichen Grenzen Südosteuropas befinden, wo keinerlei Aufnahmekapazität mehr besteht, oder aus der Seenot gerettet werden, wenn sowohl die deutschen Kontingente als auch die Kontingente der an Deutschland angrenzenden Nachbarländer überschritten sind? Die Staatsregierung hat in ihrem Beschluss vom 09.10.2015 dargelegt, dass eine Kontingentlösung nach einem solidarischen Verteilmechanismus mit festen Quoten innerhalb, aber auch außerhalb der Europäischen Union erfolgen muss. Neben allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen vor allem auch die Anrainerstaaten Syriens eingebunden sein, weil auch die Europäische Union insgesamt nur eine begrenzte Zahl der Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen können wird. Daher haben sowohl die Europäische Union als auch die Bundesregierung den Nachbarländern Syriens bereits massive finanzielle Unterstützung zugesagt, um die Situation der Flüchtlinge dort zu verbessern. Zudem muss die Fluchtursachenbekämpfung insgesamt wie von der Staatsregierung mehrfach gefordert intensiviert werden. 4.1 Wie beurteilt die Staatsregierung den Vorschlag von Minister Söder, wonach Zäune an den bayerischen Grenzen errichtet werden sollen und den Vorschlag des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, wonach griechische Inseln militärisch gesichert werden sollen, und es dazu den europäischen Staaten ermöglicht werden muss, hierzu Militärkontingente nach Griechenland zu entsenden? Die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen war und ist ein richtiger Schritt. Grenzkontrollen sind eine notwendige Voraussetzung, um angesichts der aktuellen Lage überhaupt ein geordnetes Verfahren bei der Einreise und Aufnahme von Schutzsuchenden zu ermöglichen. Deshalb sind nach wie vor die notwendigen Maßnahmen für ihre Aufrechterhaltung im Rahmen des Schengener Grenzkodex zu treffen. Der Staatsregierung sind Einzelheiten zur Äußerung des ungarischen Ministerpräsidenten nicht bekannt. Eine Steuerung der gegenwärtigen Migrationsströme erfordert jedenfalls den effektiven Schutz der EU-Außengrenzen. Daher hat die Staatsregierung den Bund sowie die Europäische Union am 09.10.2015 auch aufgefordert, die EU-Außengrenzen nachhaltig zu schützen, Asylbewerber unmittelbar nach Einreise in die Europäische Union zu registrieren und ein zügiges Asylverfahren durchzuführen sowie die von der Europäischen Union beschlossenen „Hotspots“ zur Aufnahme , Identifizierung, Registrierung und Versorgung in Griechenland und Italien schnellstmöglich in Betrieb zu nehmen. 4.2 Wie ist es nach Ansicht der Staatsregierung auszuschließen , dass durch zunehmende Grenzzäune Flüchtlinge in den beginnenden Wintermonaten im Niemandsland zwischen den verschiedenen geschlossenen Grenzen oder in anderen denkbar menschenunwürdigen Situationen stranden, wodurch beispielsweise Kinder zu Schaden kommen könnten? Die Staats- und Regierungschefs von Albanien, Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Kroatien, Mazedonien, Österreich , Rumänien, Serbien, Slowenien und Ungarn haben sich bei ihrem Sondergipfel am 25.10.2015 auf folgende sofortige Maßnahmen zur Bewältigung der Flüchtlingsströme über die Westbalkanroute geeinigt: • Stärkung der Kapazitäten zur vorübergehenden Bereitstellung von Unterkünften, Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung etc. • Erhöhung der Aufnahmekapazität Griechenlands auf 30.000 Plätze bis Jahresende und Unterstützung des UNHCR zur Schaffung weiterer 20.000 Plätze in Griechenland • Förderung des Ausbaus der Aufnahmekapazitäten entlang der gesamten Westbalkanroute um 50.000 Plätze • Zusammenarbeit mit internationalen Finanzinstitutionen zur Unterstützung der Länder der Westbalkanroute beim Ressourcenaufbau Drucksache 17/9159 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Seite 3 5.1 Trifft es zu, dass in Ungarn allein in diesem Jahr über 150.000 Flüchtlinge registriert wurden, aber sich nur etwa 3.000 im Asylsystem befinden? Nach Angaben des Statistischen Amts der Europäischen Union (Eurostat) und des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wurde in Ungarn bis Ende August 2015 ein Zugang von 145.165 Asylbewerbern registriert. Die Zahl der sich aktuell im dortigen Asylsystem befindlichen Menschen ist der Staatsregierung nicht bekannt. 5.2 Wie viele Flüchtlinge hat Bayern dieses Jahr direkt von Österreich an der Grenze übernommen? Im ersten Halbjahr 2015 wurden über 37.000 Flüchtlinge durch Landes- und Bundespolizei aufgegriffen. Der Erhebung liegen Zahlen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik zugrunde. Mit erhöhtem Flüchtlingsaufkommen und Verschärfung der Lage seit Anfang Juli 2015 werden die polizeilichen Aufgriffe von Flüchtlingen über eine tägliche Einlaufstatistik dokumentiert. Demzufolge wurden durch Landes- und Bundespolizei knapp 500.000 Flüchtlinge aufgegriffen, davon allein rund 200.000 Personen im Oktober 2015 und bereits über 60.000 im bisherigen Verlauf des Novembers 2015 (Stand 10.11.2015). Da die Aufgriffszahlen der Bundespolizei für den Monat September 2015 dem Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr noch nicht vollständig vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass die Gesamtzahl der Aufgriffe höher liegt. 5.3 Weshalb will die Staatsregierung weiterhin am längst gescheiterten Dublin-III-System und der Kriminalisierung der schutzsuchenden Flüchtlinge, die hierher über einen anderen EU-Staat kommen, festhalten? Durch die Frage wird der Eindruck erweckt, dass Ziel des Dublin-Verfahrens eine Kriminalisierung von Asylbewerbern sei. Dies trifft nicht zu. Die Dublin-III-Verordnung legt die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen (Art. 1 der Dublin-III-Verordnung). Die Verordnung beruht dabei auf dem Grundgedanken, dass sich Asylbewerber ihr bevorzugtes Asylland in der Europäischen Union nicht frei wählen dürfen, sondern hierfür ein geregeltes Verfahren in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 67 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union) gilt. 6. Wie würde die Staatsregierung eine ideale europaweite Verteilung der Flüchtlinge beschreiben und wie definiert sie einheitliche europäische Asylmindeststandards in Bezug auf Verfahren, Unterbringung , Verpflegung und Teilhabe? Ein solidarischer Verteilmechanismus nach festen Quoten in Europa muss die Bevölkerungszahl in den Mitgliedstaaten, deren Wirtschaftskraft in Form des Bruttoinlandsprodukts und der Arbeitslosenquote sowie die Zahl der von ihnen bereits aufgenommenen Asylsuchenden berücksichtigen. Die einheitlichen Asylmindeststandards sind Gegenstand der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung oder Aberkennung des internationalen Schutzes („Asylverfahrensrichtlinie“) und der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen („Aufnahmerichtlinie“). 7. In Bezug auf die Rede in der Vollversammlung am 30.09.2015 von Innenminister Herrmann und seinem Vorschlag, direkt an den bayerischen Grenzen beschleunigte Asylverfahren durchzuführen und abgelehnte Asylbewerber/-innen abzuweisen, frage ich, wo diese Transitzonen in der Grenzregion zu Österreich errichtet werden sollen (da aufgrund von Erfahrungen der ehemaligen innerdeutschen Transitzonen davon ausgegangen werden kann, dass viel Platz benötigt wird), wie viele dieser Einrichtungen geplant sind, für wie viele Asylsuchende sie jeweils konzipiert werden sollen und ob von dort aus Asylverfahren und Abschiebungen durchgeführt werden sollen? Die Parteivorsitzenden der CDU, CSU und SPD haben sich am 05.11.2015 darauf geeinigt, dass für Asylbewerber mit geringer Aussicht auf Anerkennung die Verfahren beschleunigt werden sollen. Für diesen Personenkreis (Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten, mit Wiedereinreisesperren, mit Folgeanträgen oder ohne Mitwirkungsbereitschaft) soll ein beschleunigtes Asylverfahren durchgeführt werden, dessen zeitliche Abläufe in Anlehnung an das Flughafenverfahren gestaltet werden sollen, d. h. Entscheidung über den Asylantrag innerhalb einer Woche, Rechtsmittelverfahren innerhalb von zwei Wochen und anschließende Rückführung nach vollziehbarer Antragsablehnung. Diese Verfahren sollen bundesweit in insgesamt drei bis fünf besonderen Aufnahmeeinrichtungen durchgeführt werden, darunter zunächst die bestehenden Ankunfts- und Rückführungseinrichtungen in Ingolstadt/Manching und Bamberg. 8. Prüft die Staatsregierung im Voraus, ob ihre Forderungen im Bereich der Asylpolitik mit geltendem europäischem Recht vereinbar sind? Ja. Seite 4 Bayerischer Landtag · 17. Wahlperiode Drucksache 17/9159