Drucksache 17 / 10 018 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Marianne Burkert-Eulitz (GRÜNE) vom 22. November 2011 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 23. November 2011) und Antwort Wie geht es mit der Umsetzung des Fonds zur Gewährung von Leistungen an ehemalige Heimkinder im Land Berlin weiter? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Wie viele regionale Anlauf- und Beratungsstellen werden wo in Berlin eingerichtet und in wessen Trägerschaft werden sich die Anlauf- und Beratungsstellen befinden ? Zu 1.: Das Land Berlin wird zu Beginn des Jahres 2012 eine Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder einrichten. Die Aufgabe soll von einem freien Träger wahrgenommen werden. Dazu wurde ein Interessenbekundungs - und Auswahlverfahren durchgeführt. Den Zuschlag erhielt die GskA Gesellschaft für sozialkulturelle Arbeit m.b.H. Die Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder wird im Januar 2012 in der Holsteinischen Straße 30, 12161 Berlin eingerichtet. 2. In wieweit wird der Senat bei der Vergabe der Trägerschaft für Anlauf- und Beratungsstellen darauf achten, dass ehemalige Träger von Heimen davon ausgenommen sind, um eine Re-Traumatisierung ehemaliger Heimkinder zu minimieren? 3. Wie stellt der Senat bei der Einrichtung von zentralen Anlauf- und Beratungsstellen sicher, dass diese entsprechend den Empfehlungen des Runden Tisches Heimerziehung sowohl physisch wie psychisch „leicht zu erreichen“ (niedrigschwellig) sein sollen? 4. Wie stellt der Senat sicher, dass die Anlauf- und Beratungsstellen entsprechend den Empfehlungen des Runden Tisches Heimerziehung partizipativ und aktivierend tätig sind und Betroffene sich nicht als „Objekt“ einer Beratung fühlen, sondern durch die Arbeit der Anlauf- und Beratungsstellen in die Lage versetzt werden, aktiv an der Aufarbeitung der eigenen Biografie mitzuwirken Zu 2., 3. und 4.: Zur Wahrnehmung der Aufgabe werden Kenntnisse und Erfahrungen über den spezifischen Bedarf ehemaliger Heimkinder vorausgesetzt, u.a. Fachkenntnisse über Beratung mit hohem Schwierigkeitsgrad , insbesondere zum Aspekt der Re-Traumatisierung. Weitere Voraussetzung sind die leichte Erreichbarkeit des Standortes, der niedrigschwellige Zugang und die Beteiligung der ehemaligen Heimkinder. Darüber hinaus sind die Bereitstellung eines Treffpunktes für selbstorganisierte Treffen und die Vorbereitung, Unterstützung und Durchführung von Veranstaltungen, Gesprächsrunden und Workshops Teil des Aufgabenprofils. Die Empfehlungen des Runden Tisches Heimerziehung (RTH) sind Bestandteil der Verdingungsunterlagen und damit verpflichtende Arbeitsgrundlage für die Berliner Anlauf- und Beratungsstelle. 5. Mit welcher Personal-, Raum- und Sachausstattung und welchem zeitlichen Planungshorizont soll die Anlaufund Beratungsstelle arbeiten und innerhalb welches Zeitrahmens sollen eingehende Anfragen beantwortet, Beratungsgespräche terminiert, gestellte Anträge bearbeitet und Leistungen ausgezahlt werden? 6. Auf wie viele Beratungsanfragen, Ersuchen um Unterstützung und Antragstellungen schätzt die Landesregierung den Bedarf ein, worauf gründen sich die Annahmen und inwiefern ist die Bedarfsplanung flexibel an höhere Bedarfe anpassbar? 7. Welche Vorstellung hat der Senat davon, nach welchen Kriterien Leistungen aus dem neu eingerichteten Entschädigungsfonds an betroffene ehemalige Heimkinder erbracht werden sollen? Zu 5., 6. und 7.: Für die Berliner Anlauf- und Be- ratungsstelle wird eine jährliche Zuwendung i.H.v. ca. 100.000 € für Personal- und Sachausstattung zur Verfügung stehen. Zusätzlich wird eine sozialpädagogische Fachkraft, die bereits jetzt in der für Jugend und Familie Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 018 2 zuständigen Senatsverwaltung mit Beratungs- und Informationsanfragen von ehemaligen Heimkindern befasst ist, in der Anlauf- und Beratungsstelle eingesetzt. Die Zahl der potenziellen Antragstellerinnen und Antragsteller ist dem Senat nicht bekannt. Anfragen und Beratungsgespräche sollen zeitnah und ohne Wartezeit terminiert werden können. Die Rahmenbedingungen zur Antragsbearbeitung und Leistungsgewährung wurden von dem gemäß Satzung zur Verwaltung des Fonds eingesetzten Lenkungsausschuss am 12.12.2011 entschieden. 8. Wofür stehen die Mittel in Höhe von 400.000 Euro, die neu in den Haushalt für die Einrichtung eines zentralen Fonds Heimerziehung eingestellt werden, genau zur Verfügung? Worüber werden die Kosten für die Arbeit der zentralen Anlaufstelle/n bezahlt und welche Kosten werden dafür veranschlagt? Zu 8.: Die Empfehlungen des RTH konzentrieren sich auf Hilfen, die geeignet sind, Folgeschäden entgegenzutreten . Der RTH hält dafür eine Summe von 120 Mio. € für erforderlich, die zu gleichen Teilen vom Bund, den alten Bundesländern und den Kirchen getragen werden (vgl. Abschlussbericht des RTH Seite 39, www.rundertisch-heimerziehung.de). Die Höhe der Beteiligung des einzelnen Landes berechnet sich nach den Vorgaben des Königsteiner Schlüssels von 1989. Für das Land Berlin ergibt sich auf dieser Grundlage für Berlin (West) eine Beteiligung von bis zu 1,1 Mio. €. In den Jahren 2012 und 2013 werden jeweils bis zu 30% der Gesamtsumme eingezahlt. Die in den Jahren 2012 und 2013 vorgesehenen Haushaltsmittel in Höhe von jeweils 400.000 € sind für die Einzahlungen Berlins in den Fonds vorgesehen. Die Voraussetzungen für Ansprüche von ehemaligen DDR-Heimkindern werden derzeit erarbeitet. 9. Wie bewertet der Senat den Ansatz, dass laut Ver- handlungen zwischen Bund und Ländern zehn Prozent der Fondsmittel für den Aufbau der regionalen Anlaufstellen verwendet werden können? Zu 9.: Um eine bedarfsgerechte Umsetzung der Leistungen sicherzustellen, wurde im Zusammenhang mit der Einrichtung des Fonds zwischen dem Bund, den Ländern und den beiden Kirchen entschieden, dass Anträge auf Leistungen aus dem Fonds in den regionalen Anlauf- und Beratungsstellen aufgenommen, bearbeitet und der zentralen Stelle zugeleitet werden. Dieses zweistufige Verfahren ist Gegenstand einer Verwaltungsvereinbarung , der Berlin durch Senatsbeschluss vom 06.12.2011 beigetreten ist. Die regionalen Anlauf- und Beratungsstellen erbringen einen wesentlichen Teil der notwendigen persönlichen Hilfe für die ehemaligen Heimkinder und erschließen weitere Hilfen. Solche Leistungen können z.B. sein: - Ermöglichen und aktive Unterstützung des Kontakts mit anderen Betroffenen und gemeinschaftsfördernde Aktivitäten, Bereitstellung von Räumen für einen selbstorganisierten Treffpunkt, - Unterstützung im Zusammenhang mit dem Wiederfinden von Verwandten und der Wiederherstellung von Kontakten zu Verwandten, Freunden, anderen Betroffenen , - Unterstützung bei der Ermittlung von Akten bei verschiedenen Ämtern oder Institutionen, persönliche Begleitung bei der Einsicht in Heim- und andere Akten - Unterstützung bei der Erstellung von Biografien - Unterstützung bei der Suche nach einer angemessenen Unterkunft, ggf. mit dem Ziel der Verhinderung einer Altersheimunterbringung. 10. Inwiefern unterstützt der Senat – rechtlich, mate- riell, informatorisch und praktisch – die Suche nach Akten und eine Akteneinsicht durch ehemalige Heimkinder , die schutzwürdiges Interesse an der weiteren Aufbewahrung von Akten sowie deren Einsicht haben, da sie ein verfassungsrechtlich geschütztes Recht auf Kenntnis über ihre Vergangenheit haben? Zu 10.: Aktensicherung, Akteneinsichts- bzw. -aus- kunftsgewährung, verlässliche Ansprechpartner/innen in den Institutionen, weitgehende Gebührenfreiheit, Transparenz über Aufbewahrungsfristen sowie über datenschutzrechtliche Regelungen sind grundlegende Elemente bei der Aufarbeitung der Heimerziehung in Berlin. Bereits 2009 wurden die bezirklichen Jugendämter entsprechend informiert und zur Sicherung des Altaktenbestandes aufgefordert . 2011 wurde in Abstimmung mit dem Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit ein Leitfaden erarbeitet, der Empfehlungen an die Berliner Jugendämter zum Umgang mit Akteneinsichtsbegehren ehemaliger Heimkinder enthält und allen Bezirken zur Verfügung gestellt. In allen Jugendämtern und bei den Wohlfahrtsverbänden wurden Ansprechpartner/-innen benannt, die 2011 in einer Fortbildungsveranstaltung auf die spezifischen Bedarfe ehemaliger Heimkinder bei der Akteneinsicht vorbereitet wurden. 11. Wird es entsprechend der Empfehlungen des RTH Aufgabe der zentralen Anlauf- und Beratungsstelle sein, Betroffene bei der Ermittlung und Durchsetzung von eventuellen sozial- oder zivilrechtlichen Ansprüchen (z. B. Rente, OEG, Sozialleistungen) zu unterstützen? 12. Wird es entsprechend der Empfehlungen des RTH Aufgabe der zentralen Anlauf- und Beratungsstelle sein, Betroffenen Hilfe bei der Realisierung und Umsetzung eines eventuellen Berichtigungsanspruchs nach § 84 SGB X 43 zu gewähren? Zu 11. und 12.: Die regionalen Anlauf- und Be- ratungsstellen prüfen vor der Beantragung von Leistungen aus dem Fonds, ob andere Leistungsträger in Betracht kommen. Rechtsberatung oder rechtliche bzw. rechtsanwaltliche Vertretung wird nicht geleistet. Die Zentrale Stelle ist keine Anlauf- und Beratungsstelle. Sie ist lediglich für die Verwaltung des Fonds und für die Auszahlung der Leistungen zuständig. Für die Zentrale Stelle ist der Bund zuständig. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 018 3 13. Wird die Anlauf- und Beratungsstelle eigene Hilfsangebote vorhalten? Zu 13.: Die Berliner Anlauf- und Beratungsstelle wird für ehemalige Heimkinder vielfältige persönliche Hilfe und Unterstützung leisten. Außerdem wird es Angebote von Veranstaltungen und Unterstützung für selbstorganisierte Treffen und Aktivitäten geben. 14. Welche Maßnahmen der öffentlichen Kommuni- kation plant die Landesregierung, um die Anlauf- und Beratungsstellen als besondere Angebote an ehemalige Heimkinder öffentlich wahrnehmbar zu machen? Zu 14.: Die Öffentlichkeitsarbeit zum Beginn der Arbeit der Anlauf- und Beratungsstellen und zur Antragstellung auf Leistungen aus dem Fonds wird gemeinsam vom Bund und den Ländern geplant und durchgeführt. Es gehört zum Anforderungsprofil der Berliner Anlauf- und Beratungsstelle, dass sie die Öffentlichkeit regelmäßig über ihr Angebot auf verschiedenen Wegen informiert, z.B. durch Berichte und Anzeigen in Zeitungen und in den Bezirkszeitungen, Kurzfilme im Berliner Fenster, dem Informations- und Werbefernsehen in der U-Bahn u.v.m. Ziel der Öffentlichkeitsarbeit ist, den bisher nicht organisierten ehemaligen Heimkindern Zugang zur Anlauf - und Beratungsstelle zu verschaffen. 15. Wie bewertet der Senat den von den AutorInnen der Studie „Heimerziehung in Berlin“ (hrgs. im Auftrag der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung , 2011) zitierten Appell von Renate Künast, dass „eine überzeugend ausgesprochene und gesellschaftlich transparent gemachte moralische Rehabilitierung der Betroffenen“ nötig ist und welche landespolitischen Maßnahmen leitet er daraus ab? Zu 15.: Die Aufarbeitung der Berliner Heimerziehung hat für den Berliner Senat eine große Bedeutung. Seit 2009 wurden vielfältige Aktivitäten zur Förderung des Aufarbeitungsprozesses unternommen. Neben umfangreichen Maßnahmen zur Aktensicherung und Unterstützung der Akteneinsicht wurde durch die Erstellung der Dokumentation zur Berliner Heimerziehung in Ost und West mit Beteiligung der ehemaligen Heimkinder das Wissen über die Zusammenhänge der damaligen Zeit gesichert . Die Einrichtung der Berliner Anlauf- und Beratungsstelle und die Beteiligung Berlins am Entschädigungsfonds sind wesentliche Komponenten einer transparenten und umfassenden Rehabilitierung der Betroffenen . 16. Welche Schritte wird die Landesregierung ent- sprechend der Empfehlungen des RTH unternehmen, um die Anlauf- und Beratungsstellen bundesweit zu vernetzen und so Wissenstransfer zwischen den lokalen Anlauf- und Beratungsstellen zu ermöglichen, Erfahrungsaustausch zu organisieren, gemeinsame Standards zu erarbeiten, Fachveranstaltungen durchzuführen sowie die Kommunikation zur Bundesebene und zum Gesetzgeber sicherzustellen? Zu 16.: Die bundesweite Vernetzung der Anlauf- und Beratungsstellen wird durch den Lenkungsausschuss auf Bundesebene organisiert. Die Belange der ehemaligen Heimkinder werden im Lenkungsausschuss durch eine Ombudsperson vertreten. Der Ausschuss beschließt die Richtlinien, nach denen Leistungen an die Betroffenen gewährt werden. Des Weiteren nimmt er die Aufgabe der Kontrolle und Steuerung des Fonds. Der Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer sowie die Erarbeitung und Weiterentwicklung gemeinsamer Standards, die Durchführung von Fachveranstaltungen werden ebenfalls durch die Zentrale Stelle des Bundes gemeinsam mit den Ländern durchgeführt. Berlin, den 22. Dezember 2011 In Vertretung Sigrid Klebba Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 11. Jan. 2012)