Drucksache 17 / 10 025 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage des Abgeordneten Dirk Behrendt (GRÜNE) vom 24. November 2011 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 29. November 2011) und Antwort Zwangspsychiatrie – Wie weiter nach dem Bundesverfassungsgericht Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Welche Konsequenzen sind nach Auffassung des Senats aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15. April 2011 zur Zwangspsychiatrie in RheinlandPfalz (2 BvR 882/09) für das Berliner PsychKG zu ziehen? Zu 1.: Es existiert kein Urteil zur „Zwangs- psychiatrie“. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat sich in seinen Beschlüssen vom 23. März 2011 (2 BvR 882/09) und vom 12. Oktober 2011 (2 BvR 633/11) mit der Frage der Zwangsmedikation während der strafrechtlichen Unterbringung psychisch kranker Rechtsbrecher/innen auseinandergesetzt . Gegenstand dieser Verfahren war zum einen § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 des rheinlandpfälzischen Landesgesetzes über den Vollzug freiheitsentziehender Maßregeln (Maßregelvollzugsgesetz – MVollzG), zum anderen eine Vorschrift des badenwürttembergischen Unterbringungsgesetz (§ 8 Abs. 2 Satz 2 UBG), die unter bestimmten Voraussetzungen eine Zwangsmedikation von untergebrachten Patienten vorsahen . Eine vergleichbare Regelung zu den durch das Bun- desverfassungsgericht außer Kraft gesetzten landesrechtlichen Vorschriften des Landes Rheinland-Pfalz, dass Behandlungen und Untersuchungen zur Erreichung des Vollzugsziels ohne Einwilligung des untergebrachten Patienten durchgeführt werden können, sieht das Berliner Gesetz für Psychisch Kranke (PsychKG) in dieser Form nicht vor. Ebenso findet sich im Berliner Gesetz für Psychisch Kranke keine analoge Vorschrift zum Land BadenWürttemberg , dass der/die Untergebrachte diejenigen Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen zu dulden hat, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst erforderlich sind, um die Krankheit zu untersuchen und zu behandeln, soweit die Untersuchung oder Behandlung nicht unter Absatz 3 UBG fällt. Die in diesem Zusammenhang gerügte Eingriffsermächtigung des § 8 Abs. 2 Satz 2 UBG BW zur Zwangsbehandlung genügt allerdings, auch in Verbindung mit weiteren Bestimmungen des badenwürttembergischen Unterbringungsgesetzes, den in diesem Beschluss konkretisierten Maßstäben nicht. So ist – wie das Bundesverfassungsgericht feststellte – insbesondere die medizinische Zwangsbehandlung des/der Untergebrachten zur Erreichung des Vollzugsziels nach dieser Vorschrift nicht, wie verfassungsrechtlich geboten, auf die Fälle einer krankheitsbedingt fehlenden Einsichtsfähigkeit begrenzt. Ebenfalls entspricht § 8 Abs. 2 Satz 2 UBG BW einer Reihe weiterer aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abzuleitender Anforderungen, denen ein zur medizinischen Zwangsbehandlung eines/einer Untergebrachten ermächtigendes Gesetz genügen muss, nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings nicht grundsätzlich die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung eines Untergebrachten außer Kraft gesetzt. Die Zwangsbehandlung eines/einer Untergebrachten kann ungeachtet der besonderen Schwere des darin liegenden Eingriffs durch das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse des Untergebrachten selbst gerechtfertigt sein. Dies gilt auch für eine Zwangsbehandlung zur Erreichung des Ziels des Maßregelvollzuges (Vgl. hierzu BVerfG – 2 BvR 633/11 - Rz 37). Die Voraussetzungen hierfür hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 23. März 2011 geklärt (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 327 f.). 2. Hält der Senat eine Anweisung an die Berliner psychiatrischen Kliniken, bis zu ein ggf. erfolgenden gesetzlichen Neuregelung keine Zwangsbehandlungen mehr vorzunehmen, wie in Baden-Württemberg (Schwäbisches Tagblatt vom 21. Oktober 2011), für angezeigt ? Zu 2.: Nein. Auch heute schon sind die Festlegungen des Bundesverfassungsgerichts bei Fragen der Intervention ohne oder gegen den Willen eines psychisch erkrankten Menschen zu berücksichtigen. Von einer Anweisung des Landes Baden-Württem- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 025 berg, von Zwangsbehandlungen bis zur gesetzlichen Neuregelung generell abzusehen, kann im Übrigen nicht gesprochen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 12. Oktober 2011 – im Wesentlichen unter Bezugnahme auf die Entscheidung vom 23. März 2011 – lediglich § 8 Abs. 2 Satz 2 Unterbringungsgesetz Baden-Württemberg (UBG) für verfassungswidrig erklärt. Damit ist eine der bisherigen rechtlichen Grundlagen für die Zwangsmedikation von Patienten, die nach dem UBG in einer anerkannten Einrichtung untergebracht sind, nichtig. Das Land Baden-Württemberg hat sich nun bei der durch das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung , Familien und Senioren herausgegebenen Anweisung an die Zentren für Psychia-trie vom 20.12.2011 allerdings an den vom BVerfG gesetzten engen Grenzen orientiert und in diesem Zusammenhang auf die anderen – nicht vom Bundesverfassungsgericht außer Kraft gesetzten Vorschriften des UBG – Möglichkeiten zur Zwangsmedikation hingewiesen. Berlin, den 16. Dezember 2011 In Vertretung Emine D e m i r b ü k e n - W e g n e r _____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 20. Dez. 2011) 2