Drucksache 17 / 10 032 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Marion Seelig (LINKE) vom 05. Dezember 2011 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 05. Dezember 2011) und Antwort Erfassung von Todesopfern rechter Gewalt in Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: Vorbemerkung: Grundlage für die Beantwortung der Anfrage bildet der „Kriminalpolizeiliche Meldedienst in Staatsschutzsachen “ (KPMD-S), der mit Wirkung vom 01.01.2001 vom „Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität“ (KPMD-PMK) abgelöst wurde. Bei beiden Meldediensten handelt es sich entgegen der PKS (Polizeiliche Kriminalstatistik) um eine Eingangsstatistik. Die Fallzählung erfolgt tatzeitbezogen, unabhängig davon, wann das Ermittlungsverfahren an die Staatsanwaltschaft abgegeben wurde. Die folgenden statistischen Angaben stellen keine Einzelstraftaten der Politisch motivierten Kriminalität (PMK) dar. Bei der Darstellung handelt es sich um Fallzahlen. Ein Fall bezeichnet jeweils einen Lebenssachverhalt in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit identischer oder ähnlicher Motivlage, unabhängig von der Zahl der Tatverdächtigen, Tathandlungen bzw. Anzahl der verletzten Rechtsnormen. 1. Wird vom Senat der Tod des 24-jährigen KlausDieter R., der in der Nacht zum 11. Dezember 1990 in einer Wohnung in Berlin-Lichtenberg von drei Skinheads brutal zusammengeschlagen wurde und sich in Panik aus einem Zimmerfenster zehn Stockwerke tief in den Tod stürzte, gemäß den Kriterien der PMK-rechts als politisch motivierte Straftat erfasst und falls nein, wie begründet der Senat, dass dieser Fall nicht als politisch rechts motivierte Straftat kategorisiert wird? Wurde dieses Tötungsdelikt unmittelbar nach der Tat in einem polizeilichen Lagebild oder in der PMK-rechts erfasst, und wenn ja, wurde es als politisch rechts motivierte Straftat geführt? Zu 1. Sowohl der Tatanstifter als auch das Opfer gehörten der damaligen Skinheadszene um den Bahnhof Lichtenberg an. Der Urteilsbegründung ist zu entnehmen, dass zu keinem Zeitpunkt auch nur geringste Zweifel darüber bestanden, dass ein rein materielles Interesse Tat auslösend war. Es handelt sich insofern nicht um eine Tat des Phänomenbereiches PMK – rechts. 2. Wird vom Senat der Tod des 58-jährigen Obdachlosen Günter S., der am 29. August 1992 nachts auf einer Parkbank in Berlin-Charlottenburg von einem Ku-Klux-Klan-Anhänger totgeschlagen wurde, gemäß den Kriterien der PMK-rechts als politisch motivierte Straftat erfasst und falls nein, wie begründet der Senat, dass dieser Fall nicht als politisch rechts motivierte Straftat kategorisiert wird? Wurde dieses Tötungsdelikt unmittelbar nach der Tat in einem polizeilichen Lagebild oder in der PMK-rechts erfasst, und wenn ja, wurde es als politisch rechts motivierte Straftat geführt? Zu 2.: Die Täter hatten zunächst versucht, mehrere ausländische Bürger zu einer Schlägerei zu provozieren. Zwei in der Nähe befindliche Obdachlose, darunter das spätere Opfer, ermahnten sie zur Ruhe. Daraufhin wandten sie sich den beiden Obdachlosen zu, es entstand ein kurzes Wortgefecht, in dessen Folge einer der Täter seinem Opfer einen Schlag mit einem AluminiumBaseballschläger auf den Kopf versetzte. An den Folgen des Schlages verstarb das Opfer. Das Gericht erkannte zu keinem Zeitpunkt ein politisches Motiv, sondern stellte fest, dass es dem Täter ausschließlich um die Lust an Gewaltanwendung gegangen ist. Es handelt sich insofern nicht um eine Tat des Phänomenbereiches PMK – rechts. 3. Wird vom Senat der Tod der 32-jährigen Prostituierten Beate F., die am 23. Juli 1994 von drei Skinheads in Berlin erwürgt und an eine Mülltonne gelegt wurde, gemäß den Kriterien der PMK-rechts als politisch motivierte Straftat erfasst und falls nein, wie begründet der Senat, dass dieser Fall nicht als politisch rechts motivierte Straftat kategorisiert wird? Wurde dieses Tötungsdelikt unmittelbar nach der Tat in einem Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 032 polizeilichen Lagebild oder in der PMK-rechts erfasst, und wenn ja, wurde es als politisch rechts motivierte Straftat geführt? Zu 3.: Das spätere Opfer hatte vor der Tat mit allen vier (nicht drei) Tätern mehrfach freiwillig sexuelle Handlungen vollzogen, bis einer der Täter begann, die Frau sadistisch zu quälen. Als sie daraufhin die Wohnung verlassen wollte, raubten ihr die Täter zunächst einige persönliche Gegenstände. Sie verschlossen die Wohnungstür und fesselten das Opfer. Neben weiteren Quälereien musste die Frau mehrfache Vergewaltigungen erleiden. Letztendlich einigten sich die Täter, ihr Opfer zu töten, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Es handelt sich insofern nicht um eine Tat des Phänomenbereiches PMK - rechts. 4. Wird vom Senat der Tod des 45-jährigen polnischen Bauarbeiters Jan W. in Berlin, der in der Nacht zum 26. Juli 1994 nach einem Streit mit einer Gruppe junger Deutscher zusammen mit einem 36- jährigen Landsmann ins Wasser getrieben und gewaltsam daran gehindert wurde, ans Ufer zurückzuschwimmen, gemäß den Kriterien der PMK-rechts als politisch motivierte Straftat erfasst und falls nein, wie begründet der Senat, dass dieser Fall nicht als politisch rechts motivierte Straftat kategorisiert wird? Wurde dieses Tötungsdelikt unmittelbar nach der Tat in einem polizeilichen Lagebild oder in der PMK-rechts erfasst, und wenn ja, wurde es als politisch rechts motivierte Straftat geführt? Zu 4.: Das Gericht stellte eindeutig fest, dass fremdenfeindliche Motive auszuschließen sind. Keiner der Täter hatte Vorerkenntnisse aus dem Bereich PMK - rechts. Es handelt sich insofern nicht um eine Tat des Phänomenbereiches PMK - rechts. 5. Wird vom Senat die Tötung des 31-jährigen Chris D. und des 26-jährigen Olaf S., die in der Nacht zum 17. April 1997 in Berlin-Treptow durch einen Neonazi erstochen wurden, gemäß den Kriterien der PMK-rechts als politisch motivierte Straftat erfasst und falls nein, wie begründet der Senat, dass dieser Fall nicht als politisch rechts motivierte Straftat kategorisiert wird? Wurde dieses Tötungsdelikt unmittelbar nach der Tat in einem polizeilichen Lagebild oder in der PMK-rechts erfasst, und wenn ja, wurde es als politisch rechts motivierte Straftat geführt? Zu 5.: Nach einer Feier von Angehörigen der rechten Szene kam es zwischen den Tätern und den späteren Opfern in einem Auto zu Streitigkeiten bezüglich des Verbotsdatums der FAP (Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei), wenig später gab es ein Handgemenge, das in der Folge mit tödlichen Messerstichen endete. Das Gericht stellte in seiner Urteilsbegründung fest, dass die Täter die Tat nicht aus besonderen niedrigen Beweggründen begangen haben. Dies wäre nur dann anzunehmen, wenn die Täter aus Wut über die entgegenstehende Meinung der anderen hinsichtlich des Verbotsdatums der FAP getötet hätten. Dies war zwar zunächst der Anlass für verbale Streitigkeiten, jedoch nicht für die folgende Schlägerei, die in eine Messerstecherei mündete. Es handelt sich insofern nicht um eine Tat des Phänomenbereiches PMK – rechts. Die bloße Zugehörigkeit der Täter zum rechten Milieu begründet nicht zwangsläufig eine Einstufung der Straftat zur PMK – rechts. 6. Wird vom Senat die Tötung des 38-jährigen Sozialhilfeempfängers Kurt S., der in der Nacht zum 6. Oktober 1999 von vier Skinheads in Berlin-Lichtenberg zu Tode gequält wurde, gemäß den Kriterien der PMKrechts als politisch rechts motivierte Straftat erfasst und falls nein, wie begründet der Senat, dass dieser Fall nicht als politisch rechts motivierte Straftat kategorisiert wird? Wurde dieses Tötungsdelikt unmittelbar nach der Tat in einem polizeilichen Lagebild oder in der PMK-rechts erfasst, und wenn ja, wurde es als politisch rechts motivierte Straftat geführt? Zu 6.: Die Täter hatten ihr Opfer in Raubabsicht zunächst schwer misshandelt, hilflos liegen lassen und waren in die Wohnung eines der Täter zurückgekehrt. Später fassten sie einen neuen Tatentschluss, gingen erneut zum Tatort und töteten das Opfer mit einem mitgebrachten Messer sowie Tritten gegen Kopf und Körper, in der Absicht, die zuvor begangenen Straftaten zu verdecken. Es handelt sich insofern nicht um eine Tat des Phänomenbereiches PMK - rechts. 7. Wird vom Senat die Tötung des 60-jährigen Sozialhilfeempfängers Dieter E., der in der Nacht zum 25. Mai 2000 in seiner Wohnung in Berlin-Pankow von vier Rechtsextremisten überfallen und getötet wurde, gemäß den Kriterien der PMK-rechts als politisch motivierte Straftat erfasst und falls nein, wie begründet der Senat, dass dieser Fall nicht als politisch rechts motivierte Straftat kategorisiert wird? Wurde dieses Tötungsdelikt unmittelbar nach der Tat in einem polizeilichen Lagebild oder in der PMK-rechts erfasst, und wenn ja, wurde es als politisch rechts motivierte Straftat geführt? Zu 7.: Täter und Opfer waren miteinander bekannt, sie konsumierten gemeinsam Alkohol. Die Anklage schildert den Tatablauf als „Lust eines Einzelnen an der Gewalt“ und die spätere Tötung als „Deckungstat aus Angst vor polizeilichen Repressalien“. Es handelt sich insofern nicht um eine Tat des Phänomenbereiches PMK - rechts. 8. Wird vom Senat die Tötung des 36-jährigen Ingo B. durch drei Rechtsextreme am 5. November 2001 in Berlin gemäß den Kriterien der PMK-rechts als politisch motivierte Straftat erfasst und falls nein, wie begründet der Senat, dass dieser Fall nicht als politisch rechts motivierte Straftat kategorisiert wird? Wurde dieses Tötungsdelikt unmittelbar nach der Tat in einem polizeilichen Lagebild oder in der PMK-rechts erfasst, und wenn ja, wurde es als politisch rechts motivierte Straftat geführt? 2 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 032 3 Zu 8.: Die Täter forderten vom Opfer in einer Wohnung die Herausgabe von Bargeld. Der Mann weigerte sich und wurde daraufhin über einen längeren Zeitraum massiv gewürgt und geschlagen. Außerdem wirkten die Täter mit ihrem gesamten Körpergewicht auf den Brustkorb ihres Opfers ein. Nachdem die Wohnungsinhaberin mit der Polizei drohte, ließen die Täter vom Opfer ab. Unmittelbar danach verschlechterte sich dessen Zustand, er verstarb trotz ärztlicher Hilfe. Die Obduktion ergab, dass das Opfer schwer herzgeschädigt war und aufgrund eines Herzinfarktes verstarb. Nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft Berlin handelt es sich nicht um eine Straftat, deren Hintergrund im Bereich des Rechtsextremismus zu sehen ist. Es handelt sich insofern nicht um eine Tat des Phänomenbereiches PMK - rechts. 9. Wird sich der Senat dafür einsetzen, dass Todesfälle durch rechte Gewalt, die etwa von Journalisten von „DER TAGESSPIEGEL“ und „DIE ZEIT“ oder von Initiativen wie der „Amadeu-Antonio-Stiftung“ erfasst, jedoch von den Sicherheitsbehörden der Länder nicht als politisch rechts motivierte Kriminalität klassifiziert worden sind, einer erneuten Prüfung auf der Grundlage des Definitionssystems des „Kriminalpolizeilichen Meldedienstes – Politisch motivierte Kriminalität“ unterzogen werden? 10. Hält der Senat eine Evaluation des Definitionssystems des „Kriminalpolizeilichen Meldedienstes – Politisch motivierte Kriminalität“ unter Einbeziehung externer Sachverständiger mit einem Schwerpunkt der praktischen Umsetzung der Erfassungskriterien (z.B. „Hasskriminalität“) für notwendig (bitte begründen)? Zu 9. und 10.: Mit Ausnahme der Staatsschutzdelikte die unabhängig von der Motivation des Täters/der Täterin immer als Politisch motivierte Kriminalität zu erfassen sind, ist für die Polizeibehörden die Tatmotivation für die konkrete Tat entscheidend. Sie ist in Würdigung aller Umstände der Tat und der Einstellung des Täters/der Täterin zu ermitteln. Im Einzelnen gelten die folgenden Straftatbestände als Staatsschutzdelikte: §§ 80-83, 84-86a, 87-91, 94-100a, 102-104a, 105-108e, 109-109h, 129a, 129b, 234a oder 241a des Strafgesetzbuches (StGB). Als relativ häufig vorkommende Beispiele seien hier § 130 StGB und §§ 86, 86a StGB genannt; auch § 129a StGB und §§ 81, 82 StGB zählen dazu. Nur wenn die politische Einstellung des Täters/der Täterin Tat auslösend war, wird der Sachverhalt als politisch motiviert gewertet. Medien und Opferverbände veröffentlichen teilweise Zahlen oder Sachverhalte, ohne wesentliche Ermittlungsergebnisse von Polizei und Staatsanwaltschaften zu berücksichtigen. Dies führt dazu, dass Taten als rechtsmotiviert dargestellt werden, bei denen im Ergebnis umfangreicher Ermittlungen eine entsprechende Tatmotivation beim ermittelten Täter/Täterin nicht belegt ist. Die Bewertung der politischen Motivation einer Tat wird im Polizeilichen Staatsschutz des Landeskriminalamtes Berlin vorgenommen. In einer Gesamtschau werden die Umstände der Tat, die Aussagen des Täters/der Täterin sowie eventuell vorhandener Zeugen betrachtet und in die Entscheidungsfindung einbezogen. Mit Aufnahme der polizeilichen Ermittlungen wird eine erste Bewertung der Straftat vorgenommen. Diese Bewertung wird spätestens nach Abschluss der Ermittlungen erneut geprüft und ggf. angepasst. Ergeben der Polizei bekannte Entscheidungen der Staatsanwaltschaft oder eines Gerichts Anhaltspunkte dafür, dass die bestehende Bewertung nicht mehr zutreffend ist, wird diese entsprechend korrigiert. Darüber hinaus werden auf Anforderung die Anklageschrift bzw. das Urteil übersandt. Das Landeskriminalamt Berlin aktualisiert die Fallzahlen der PMK ständig und legt diese bei Anfragen auch als Datenbasis zu Grunde. Diese Argumentation belegt, dass eine Prüfung / Evaluation des Definitionssystems des KPMD-PMK nicht Ziel führend wäre. Berlin, den 22.Dezember 2011 Frank Henkel Senator für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 02. Februar 2012)