Drucksache 17 / 10 092 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage des Abgeordneten Joschka Langenbrinck (SPD) vom 03. Januar 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 10. Januar 2012) und Antwort Aktueller Stand der Ausweitung des „Neuköllner Modells“ auf ganz Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: Vorbemerkung: Bei dem „Neuköllner Modell“ handelt es sich um eine spezielle Form des vereinfachten Jugendverfahrens gemäß §§ 76ff. des Jugendgerichtsgesetzes. Ziel ist es, in Fällen leichter bis mittlerer Jugendkriminalität bei einfacher Beweislage eine abschließende Bearbeitung im Wege eines besonders beschleunigten Verfahrens innerhalb eines Zeitraums von ca. drei Wochen zu erreichen. Das Konzept kommt zur Anwendung , wenn einerseits niederschwelligere Maßnahmen als erzieherisch unzureichend anzusehen und andererseits schwerwiegendere Rechtsfolgen als ein Jugendarrest nicht zu erwarten sind. Die Beweislage stellt sich nach den entwickelten Kriterien als einfach dar, wenn ein glaubhaftes Geständnis vorliegt oder maximal drei Zeugen seitens des Gerichts benötigt werden. Das „Neuköllner Modell“ betrifft damit lediglich einen eng umrissenen Teilbereich der Jugendkriminalität. Keine Anwendung findet es beispielsweise auf sogenannte Intensiv- oder Schwellentäter/-innen. 1. Wie ist der aktuelle Stand der Ausweitung des vereinfachten Jugendstrafverfahrens gemäß §§ 76 ff. JGG im Rahmen des „Neuköllner Modells“ auf alle Berliner Bezirke bzw. Polizeidirektionen? Zu 1.: Nach einem mehrmonatigen Probelauf in den Polizeiabschnitten 54 und 55 wurde das besonders beschleunigte vereinfachte Jugendverfahren („Neuköllner Modell“) am 1. Juli 2008 auf alle Abschnittsbereiche der Polizeidirektion 5 (Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln) ausgedehnt. Seit dem 1. September 2009 wird das Verfahren auch in der Direktion 6 (Bezirke Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick ) und seit dem 1. Januar 2010 in der Direktion 1 (Bezirke Pankow und Reinickendorf) umgesetzt. Seit der am 1. Juni 2010 vollzogenen Ausweitung auf die Direktionen 2 (Bezirke Spandau und CharlottenburgWilmersdorf ), 3 (Bezirke Mitte und Wedding) und 4 (Bezirke Steglitz-Zehlendorf und Tempelhof-Schöneberg) wird das "Neuköllner Modell" stadtweit angewendet. 2. Wird das beschleunigte Jugendstrafverfahren in allen Bezirken bzw. Polizeidirektionen Berlins in gleichem Maße angewendet und wenn nein, warum nicht und haben sich neue Erfahrungen in der Anwendung des „Neuköllner Modells“ in den neu hinzugekommenen Polizeidirektionen ergeben? Zu 2.: Die Verfahrens- und Beschleunigungsprin- zipien des "Neuköllner Modells" – u. a. Nutzung kurzer Wege, Straffung interner Abläufe und Installierung fester Ansprechpartner/-innen – werden in den Zuständigkeitsbereichen der Polizeidirektionen gleichermaßen angewendet . Nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen sozialen Strukturen in den Bezirken bzw. Direktionen ergeben sich jedoch Unterschiede im Hinblick auf das Fallzahlenaufkommen . Etwaige neue Erfahrungen bei der Umsetzung des "Neuköllner Modells" fließen in die regelmäßigen Absprachen zwischen den Verfahrensbeteiligten (Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendgericht und Jugendgerichtshilfe ) ein, in deren Rahmen das Konzept kontinuierlich weiter entwickelt und optimiert wird. 3. Wie viele beschleunigte Jugendstrafverfahren gab es seit Übernahme des „Neuköllner Modells“ in den einzelnen Bezirken bzw. Polizeidirektionen (Aufstellung bitte nach Bezirken bzw. Direktionen)? Zu 3.: Im Jahr 2008 wurden durch die Sachbearbeiter/- innen der Direktion 5 insgesamt 61 Ermittlungsvorgänge zur Durchführung des besonders beschleunigten vereinfachten Jugendverfahrens angeregt und von der Staatsanwaltschaft angenommen. Im Jahr 2009 wurden 87 Verfahren aus dem Bereich der Direktion 5 und 32 Verfahren aus dem Bereich der Direktion 6 nach den Grundsätzen des "Neuköllner Modells" durchgeführt. Im Jahr 2010 waren insgesamt 372 besonders be- schleunigte vereinfachte Jugendverfahren zu verzeichnen, Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 092 2 5. Bestätigt der Senat, dass das „Neuköllner Modell“ auch in den anderen Bezirken bzw. Polizeidirektionen ein Erfolg ist? davon 81 in der Direktion 1, 44 in der Direktion 2, 20 in der Direktion 3, 31 in der Direktion 4, 123 in der Direktion 5 und 73 in der Direktion 6. 6. Stimmt der Senat auch weiterhin der Aussage zu, dass das „Neuköllner Modell“ ein sinnvoller und erfolgreicher Baustein zur Bekämpfung der Jugendkriminalität ist, indem es der Erkenntnis folgt, dass Verfahren im Jugendstrafrecht schnell und konsequent geführt werden müssen und die Strafe auf dem Fuße folgen muss, um die Verfestigung krimineller Lebensgewohnheiten zu unterbinden und um pädagogische Wirkung entfalten zu können? Im Jahr 2011 waren es insgesamt 358 Verfahren, von denen 109 auf die Direktion 1, 28 auf die Direktion 2, 47 auf die Direktion 3, 51 auf die Direktion 4, 57 auf die Direktion 5, 59 auf die Direktion 6 und sieben auf das Landeskriminalamt entfielen. 4. Wie hat sich die Jugendkriminalität seit Einführung des „Neuköllner Modells“ in den einzelnen Bezirken bzw. Polizeidirektionen im Vergleich zu dem bestehenden Trend vor seiner Einführung entwickelt und sieht der Senat einen Zusammenhang zwischen Jugendkriminalitätsentwicklung und der landesweiten Einführung des beschleunigten Jugendstrafverfahrens und wie begründet der Senat einen möglichen Zusammenhang? Zu 4., 5. und 6.: Ausweislich der Polizeilichen Krimi- nalstatistik hat sich die Jugendkriminalität im Land Berlin in der Zeit von 2001 bis 2010 wie folgt entwickelt: 40.875 40.750 37.407 34.798 32.764 33.125 33.365 31.861 31.167 28.814 9.087 9.323 8.806 8.431 8.118 8.397 8.659 8.452 8.451 7.987 4.000 5.000 6.000 7.000 8.000 9.000 10.000 0 10.000 20.000 30.000 40.000 50.000 60.000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 Jugenddelinquenz Berlin 2001 bis 2010 Tatverdächtigenbelastungszahlen (8- bis unter 21-Jährige) und absolute Zahlen Im Gesamtkontext des jugendstrafrechtlichen Sank- tionssystems hat sich das "Neuköllner Modell" bereits jetzt als die schnellste prozessuale Möglichkeit für eine jugendrichterliche Intervention in den bezeichneten geeigneten Fällen etabliert. Hinzu kommt, dass die im Rahmen der Umsetzung des Konzepts durchgeführten Fortbildungsoffensiven den Blick der Verfahrensbeteiligten für die Beschleunigungsmöglichkeiten im Jugendstrafverfahren insgesamt geschärft und die Bereitschaft zur Ausschöpfung derselben gestärkt haben. Bei der Tatverdächtigenbelastungszahl (TVBZ) handelt es sich um die Zahl der ermittelten Tatverdächtigen, errechnet auf 100.000 Einwohner/-innen des entsprechenden Bevölkerungsanteils (hier: 8- bis unter 21-Jährige). Die Verringerung der TVBZ lässt den Schluss zu, dass der dargestellte Zahlenrückgang nicht allein mit dem demographischen Wandel im Zusammenhang steht, sondern die Jugendkriminalität tatsächlich abnimmt. Auch für das Jahr 2011 zeichnet sich ein weiterer erheblicher Rückgang der TVBZ bei den 8- bis unter 21-Jährigen ab. Zusammenfassend leistet das „Neuköllner Modell“ damit einen beachtlichen Beitrag zur schnellen, stringenten und erzieherisch angemessenen Einwirkung auf jugendliche Straftäter/-innen Dementsprechend ist das Konzept weiterhin als ein sinnvoller und erfolgreicher Baustein zur Reduzierung der Jugendkriminalität anzusehen . Zwar lässt sich angesichts der Komplexität des Phänomens der Jugendkriminalität ein konkreter Zusammenhang zwischen der dargestellten Entwicklung und der Umsetzung des „Neuköllner Modells“ nicht hinreichend sicher belegen. Fest steht jedoch, dass das Ziel des Konzeptes, das vereinfachte Jugendverfahren nach den §§ 76 ff. Jugendgerichtsgesetz in geeigneten Einzelfällen zu optimieren und zu beschleunigen, in den Zuständigkeitsbereichen aller Polizeidirektionen erreicht werden konnte. So berichten die Verfahrensbeteiligten übereinstimmend , dass sich die vereinbarten Verfahrensschritte als sinnvoll und effektiv erwiesen haben, eine hinreichende Anzahl geeigneter Fälle vorhanden und die beabsichtigte Verfahrensbeschleunigung regelmäßig eingetreten ist. Berlin, den 31. Januar 2012 Thomas Heilmann Senator für Justiz und Verbraucherschutz (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 15. Feb. 2012)