Drucksache 17 / 10 105 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Marianne Burkert-Eulitz (GRÜNE) vom 17. Januar 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 18. Januar 2012) und Antwort Besserer Kinderschutz in Berlin? – Stand der Durchsetzung des neuen Vormundschaftsrechtes II – In Ergänzung zu Drs. 17/ 10 008 Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. In der Beantwortung der Kleinen Anfrage 17/10 008 wurde zu Frage 2 durch die zuständige Senatsverwaltung geantwortet, dass in Berlin durchschnittlich 75 - 45 Fälle der Amtsvormundschaft pro Vollzeitkraft zu bearbeiten sind. Nach Kenntnis der Fragestellerin gibt es keinen einzigen Bezirk, in dem lediglich 45 Fälle von einer Vollzeitkraft zu bearbeiten sind. In mehr als zwei Bezirken liegen die Fallzahlen bei weit mehr als 100 Fällen und im Landesdurchschnitt bei mehr als 70 Fällen. Wie erklärt sich diese Diskrepanz zu den von der Senatsverwaltung in der Drs. 17/10 008 gemachten Angaben? Übersicht 2. Wie hoch sind die Fallzahlen aufgeschlüsselt nach Bezirken tatsächlich? 8. Wie viele der Amtsvormünder in Berlin haben eine sozialpädagogische Ausbildung und verfügen über eine entsprechende Qualifikation? 9. Wie viele der Amtsvormünder verfügen lediglich über eine Verwaltungsausbildung? Zu 1., 2., 8. und 9.: Die vorgelegten Fragen wurden zum Anlass einer Abfrage bei den bezirklichen Jugendämtern genommen. Zu den Ergebnissen informiert die nachfolgende Übersicht detailliert für alle Bezirke mit Stand 31.01.2012. Bezirk Durchschnittliche Fallzahl Vormundschaftsstellen Stellenanteil mit sozialpädagogischer Ausbildung Stellenanteil mit Verwaltungsausbildung Durchschnittli - che Fallzahl pro Vormund /Vormünderin Mitte 363 4,75 0 4,75 76 FriedrichshainKreuzberg 240 4,05 3 2 60 Pankow 299 7 3 4 43 CharlottenburgWilmersdorf 186 2,90 0 2,90 64 Spandau 312 4 0 4 78 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10105 * SteglitzZehlendorf a) Aufgaben nach § 55 SGB VIII ohne b) Keine Meldung zur Gesamtfallz. b) unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Zur Gesamtfallz . siehe die ergänzenden Hinweise 8 3,8 8 0 0 3,8 50 Siehe hierzu die er- gänzenden Hinweise Tempelhof- Schöneberg 237 5 0 5 47 Neukölln 331 6 0 6 55 TreptowKöpenick 219 4 0 4 55 MarzahnHellersdorf 485 7 1 6 69 ** Lichtenberg Keine Meldung 9 5 1 40 - 45 Reinickendorf 373 4 0 4 93 Ergänzende Hinweise zur Übersicht: * Der Bezirk Steglitz-Zehlendorf nimmt neben der Führung der Vormundschaften und Pflegschaften für deutsche Minderjährige zentral für alle Berliner Bezirke die Vormundschaften für unbegleitet eingereiste minderjährige Flüchtlinge wahr, weil diese auf Grund der Ausführungsvorschriften über die Gewährung von Jugendhilfe für alleinstehende minderjährige Ausländer (AVJAMA ) in der Erstaufnahme- und Clearingstelle im Bezirk Steglitz-Zehlendorf in Obhut genommen werden. Beide Bereiche werden organisatorisch getrennt wahrgenommen . Im Bereich der kommunalen Aufgabe, wie sie auch in den anderen Bezirken wahrzunehmen ist, hat das Jugendamt die Führung der Vormundschaften und Pflegschaften den 4 Regionalen Sozialen Diensten (RSD) des Bezirkes zugeordnet. In jedem RSD stehen 2 Mitarbeiterinnen (Sozialarbeiterinnen ) zur Verfügung. In drei dieser RSD werden durch diese Mitarbeiterinnen neben der Tätigkeit als Vormund noch andere Tätigkeiten wahrgenommen. Damit wird sichergestellt, dass die Fallzahl von 50 pro Voll zeitstelle nicht überschritten wird. Dies ist im Mittel derzeit auch nicht der Fall. Hinsichtlich der minderjährigen unbegleiteten Flücht- linge sind die Vormünder ausschließlich in dieser Funktion tätig. Die Fallzahlen sind schwankend. Dazu kommt eine sehr hohe Fluktuation. So gab es im Jahr 2011 208 Zugänge und 297 Abgänge. Im Jahr 2011 wurden im Mittel 342 Mündel von 3, seit Ende des Jahres von 4 Vormündern/Vormünderinnen mit 2,8 bzw. 3,8 Stellen betreut. Dies entspricht einer durchschnittlichen Fallzahl von 122 bzw. 90 Fällen pro Vollzeitstelle (jeweils mit Verwaltungsausbildung). ** Das Jugendamt Lichtenberg ist im Bereich Vor- mundschaft/Pflegschaft mit insgesamt 9 Vollzeitstellen ausgestattet (Spalte 3 der Übersicht). Davon sind 3 Stellen mit Diplom-Juristen/innen besetzt. 2 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10105 Gemäß § 72 SGB VIII gelten zur Erfüllung des Fach- kräftegebotes folgende Berufs-/ Ausbildungsabschlüsse als Qualifikation für die Übernahme einer Tätigkeit als Vormund/Vormünderin: Diplom-Verwaltungswirt/in/Verwaltungsfachwirt/in Sozialarbeiter/in/Sozialpädagoge/Sozialpädagogin und Rechtspfleger/in. Hinzu tritt jeweils das Erfordernis der persönlichen Eignung. Für die Berliner Praxis gilt ferner, dass die Übertra- gung von Vormundschafts-/Pflegschaftsangelegenheiten eine mehrjährige berufspraktische Erfahrung im Jugendamt sowie die Absolvierung eines umfänglichen Vormundschaftslehrganges (oder Erlangung entsprechender Kenntnisse über die Fortbildungsstätten: Sozialpädagogische Fortbildungsstätte Berlin-Brandenburg oder Verwaltungsakademie ) voraussetzt. Hinzu tritt die verpflichtende Teilnahme an tätigkeitsbezogenen und berufsfeldübergreifenden Fortbildungsveranstaltungen. Diese zusätzlichen Anforderungen gelten uneingeschränkt für alle Vormünder /Vormünderinnen. 3. Ist es richtig, dass im Rat der Bürgermeister bereits über den zusätzlichen Personalbedarf verhandelt wurde? Wenn ja, was wurde dort verhandelt. Wenn nein, wann liegen die Ergebnisse vor? 4. Von welchem zusätzlichen Personalbedarf geht die zuständige Senatsverwaltung aus, um die im Gesetz geregelten Fallzahlen und Besuchsvorgaben zu erfüllen? 5. Welche zusätzlichen Mittel sollen in den kommen- den Haushalt eingestellt werden? Zu 3., 4. und 5.: Die Aufgabenwahrnehmung im Be- reich Amtsvormundschaft/-pflegschaft erfolgt über die bezirklichen Jugendämter. Diese haben in eigener Zuständigkeit und Verantwortung der Senatsverwaltung für Finanzen im Juli 2011 den aus dortiger Sicht aus den gesetzlichen Änderungen resultierenden Personalmehrbedarf dargelegt. 6. In der Frage 4 der Kleinen Anfrage 17/10 008 war nach der Häufigkeit der Besuche eines Amtsvormundes bei einem Mündel gefragt. Die Antwort der Senatsverwaltung lautete 3 – 4 Mündelbesuche pro Jahr und ansonsten nach den Umständen des Einzelfalles. Diese Praxis entspricht nicht den rechtlichen Vorschriften - es gilt § 1793 Abs. 1a BGB: „Der Vormund hat mit dem Mündel persönlichen Kontakt zu halten. Er soll den Mündel in der Regel einmal im Monat in dessen üblicher Umgebung aufsuchen es sei denn, im Einzelfall sind kürzere oder längere Besuchsabstände oder ein anderer Ort geboten.“ Ist die von der Senatsverwaltung beschriebene übliche Praxis in Berlin gesetzeswidrig? 7. Was wird die Senatsverwaltung tun, um diese rechtswidrigen Zustände zu beenden? Zu 6. und 7.: Die Beantwortung der Frage 4 der Kleinen Anfrage 17/10 008 basiert auf Angaben der bezirklichen Jugendämter im Januar 2010 im Vorfeld der zwischenzeitlich im Vormundschaftsbereich in Kraft getretenen gesetzlichen Änderungen. Eine aktualisierte, einzelfallbezogene Ermittlung der seinerzeit angefragten Besuchshäufigkeit übersteigt den möglichen Aufwand im Rahmen einer Kleinen Anfrage. Zu § 1793 Abs. 1a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) hat der Gesetzgeber folgende Begründung abgegeben (Bundestags-Drucksache (BT-Drs.) 17/3617, S. 7): „Umfang und Häufigkeit des Kontaktes richten sich nach den Erfordernissen zum jeweiligen Zeitpunkt. Im Regelfall hält der Gesetzgeber einen persönlichen Kontakt einmal im Monat für erforderlich; im Einzelfall kann es notwendig sein, den Mündel auch häufiger zu treffen. Wenn nach den besonderen Umständen des Einzelfalles ein weniger häufiger Kontakt angezeigt sein sollte, kann der Vormund den Mündel – in dem erforderlichen Umfang – auch seltener treffen.“ Die Beurteilung des Einzelfalles zum jeweiligen Zeit- punkt ist ausschlaggebend für die Kontaktdichte und -gestaltung zwischen Vormund/Vormünderin/Pfleger/Pflegerin und Kind/Jugendlichem. Je nachdem, was die Situation des Kindes/Jugendlichen erfordert, kommen häufigere oder seltenere als monatliche Kontakte in Betracht. Seltenere als monatliche Kontakte sind ausweislich der Gesetzesbegründung „beispielsweise“ geboten, „wenn der Mündel in stabilen Verhältnissen lebt und nach seinem Alter und seiner Persönlichkeitsstruktur in der Lage ist, auf eventuelle Missstände oder Anliegen in geeigneter Weise selbst hinzuweisen.“ (BT-Drs. a.a.O.). Die individuelle Entscheidungsbefugnis der Fachkraft entspricht ihrer individuellen Verantwortung für das Wohl des ihr anvertrauten Kindes/Jugendlichen. Abweichungen von der Vorgabe monatlicher Kontakte in der üblichen Umgebung sind danach zulässig und werden häufig auch geboten sein. Vom monatlichen Rhythmus in der üblichen Umgebung des Kindes/Jugendlichen abweichende Kontaktmuster hat der Vormund/Pfleger/die Vormünderin /Pflegerin, ausgehend vom Einzelfall im Rahmen der ihm nach § 1840 Abs. 1 BGB dem die Aufsicht führenden Familiengericht gegenüber gegebenen Berichtspflicht, nachvollziehbar zu begründen. Eine bezirksübergreifende Arbeitsgruppe der Jugend- ämter entwickelt derzeit in Abstimmung mit den Familiengerichten Kriterien für die Beurteilung der erforderlichen Kontaktausgestaltung im Sinne einheitlicher Qualitätsstandards gemäß § 1793 BGB, um der neuen Gesetzesnorm in diesem Sinne angemessener Rechnung zu tragen. 10. In der Antwort zu Frage 8 der Drucksache 17/10 008 äußert die Senatsverwaltung ihre fachliche Meinung zur Eignung oder besser die Nichteignung von natürlichen Personen als Vormünder. Entspricht die dort 3 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10105 4 geäußerte Meinung den Regelungen des Vormundschaftsrechts im BGB insbesondere der vom Bundesgesetzgeber eindeutig gewollten und so geregelten Nachrangigkeit von Amtsvormündern und der auch nach der kürzlichen Gesetzesnovellierung im Vormundschaftsrecht erhalten gebliebenen Regelungen zur eindeutigen Nachrangstellung der Amtsvormundschaft? Zu 10.: Die Antwort zu Frage 8 der Drucksache 17/10 008 enthält keine Meinungsäußerung der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung zur Eignung oder Nichteignung von natürlichen Personen als Vormünder /innen. Feststellungen darüber, ob eine natürliche Person für die Übernahme einer ehrenamtlich zu führenden Vormundschaft geeignet oder nicht geeignet ist, treffen im 1. Schritt ausschließlich die Jugendämter und sodann die Familiengerichte in jeweils eigener Zuständigkeit. Die für Jugend zuständige Senatsverwaltung hatte seinerzeit in Beantwortung der Frage 8 der in Bezug genommenen Drucksache unter anderem die Schwierigkeit, den Familiengerichten natürliche Personen für die Übernahme vorschlagen zu können, dargestellt. Diese Situation ist nach wie vor gegeben. 11. Welche fachliche Meinung nimmt die Senatsver- waltung zur Regelung des § 1779 Abs. 2 BGB und den dortigen gesetzlichen Vorgaben zur Geeignetheit einer Person als Vormund ein? Zu 11.: § 1779 BGB - Auswahl durch das Familienge- richt - enthält für die Familiengerichte bindende Verfahrensvorgaben und insbesondere im 2. Absatz Prüfungsmaßstäbe für die Ermittlung der Eignung von natürlichen Personen zur Übernahme einer Einzelvormundschaft. Die für Jugend zuständige Senatsverwaltung hält die in vorzitierter Norm aufgeführten Prüfungsmaßstäbe für erforderlich und geeignet. 12. Nach der von der Senatsverwaltung veröffentlich- ten Meinung zur regelmäßigen Ungeeignetheit von natürlichen Personen als Vormund bei Fällen des § 1666 BGB (wobei der Sorgerechtsentzug nach § 1666 BGB der Regelfall ist) (Beantwortung zu Frage 8 in Drs. 17/10 008) müsste die Amtsvormundschaft der gesetzliche Regelfall sein – nach der Rechtsprechung und den Regelungen im BGB gilt aber eine eindeutige Nachrangigkeit der Amtsvormundschaft . Welche Meinung vertritt die Senatsverwaltung zu § 1791 b BGB: „Ist eine als ehrenamtlicher Einzelvormund geeignete Person nicht vorhanden, so kann auch das Jugendamt bestellt werden.“? 13. Wie interpretiert die Senatsverwaltung die Berliner Praxis, seine in der Drucksache 17/ 10 008 geäußerte Meinung und die Kommentierung zum § 1791 b BGB im Palandt (2012) Rd. 1, dass „die regelmäßige Bestellung des Jugendamtes contra legem“ geschieht? 14. Welche Meinung vertritt die Senatsverwaltung zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes: „Die Bestellung eines Jugendamtes als Vormund gemäß „ 1791 BGB ist nur zulässig, wenn eine als Einzelperson geeig- nete Person nicht vorhanden ist 18.12.08 AZ 1 BvR 2604/06?“ Zu 12., 13. und 14.: Die Jugendämter prüfen in Beach- tung der im BGB für den Vormundschaftsbereich vorgegebenen Rangfolge (§ 1791b BGB) im Vorfeld von familiengerichtlichen Maßnahmen (z.B. Amtsvormundschafts- /Amtspflegschaftsbestellung) durchgängig und intensiv, ob dem Familiengericht eine geeignete natürliche Person zur Übernahme einer Einzelvormundschaft vorgeschlagen werden kann. Steht eine natürliche Person (z.B. aus dem Familienverband) zur Verfügung, wird deren Eignung nach berlineinheitlichen Kriterien geprüft. Die Eignungsprüfung bezieht auch die durch Rechtssprechung vorgegeben Prüfungsmaßstäbe ein. Die Familiengerichte sind nicht an den Vorschlag des Jugendamtes und deren Eignungsfeststellung gebunden und führen häufig ein eigenes Eignungsfeststellungverfahren durch. Dieses dauert in der Regel mehrere Monate, so dass in diesen Fällen zur Vermeidung eines rechtsvertretungsfreien Raumes im ersten Schritt das Jugendamt zur Übernahme einer Amtsvormundschaft/-pflegschaft bestellt wird. 15. Sieht die Senatsverwaltung Handlungsbedarf, wenn ja welche, wenn nein warum nicht? Zu 15.: Die für Jugend zuständige Senatsverwaltung verfolgt das Ziel, dem gesetzlich vorgegebenen Vorrang der ehrenamtlich zu führenden Einzelvormundschaft stärker als bisher Geltung zu verschaffen. Hierzu werden unter anderem die Modalitäten für eine Erweiterung der vorhandenen Vereinsvormundschaftsstruktur geprüft. In diesem Kontext ist beabsichtigt, freie Träger der Jugendhilfe dafür zu gewinnen, durch gezielte Anwerbung, Schulung und Begleitung von natürlichen Personen zur Umsetzung der angesprochenen Vorrangstellung beizutragen . Berlin, den 21. Februar 2012 In Vertretung Sigrid Klebba Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 29. Feb. 2012) Bezirk