Drucksache 17 / 10 168 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Antje Kapek (GRÜNE) vom 24. November 2011 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 02. Februar 2012) und Antwort Keine einheitliche Rechtsauslegung des Landes Berlin bezüglich der Seveso-II-Richtlinie? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: Frage 1.: Welche Schlussfolgerungen zieht das Land Berlin aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 15.09.2011 zur Auslegung des Art. 12 Abs. 1 der Seveso-II-Richtlinie? Antwort zu 1.: Wesentliche Aussage der Rechtspre- chung des Europäischen Gerichtshofs vom 15.09.2011 ist die Anwendbarkeit des Abstandsgebots aus Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 96/82/EG und ihrer Änderung durch die Richtlinie 2003/105/EG, der sog. Seveso-II-Richtlinie (RL), auch für Baugenehmigungsverfahren, wenn eine Berücksichtigung nicht auf der Ebene der Bauleitplanung erfolgt ist. Ein unmittelbarer Handlungsbedarf für die störfall- rechtlichen Überwachungsbehörden ergibt sich daraus nicht, weil das Abstandsgebot aus Art. 12 Abs. 1 RL die Betreiberpflichten für Störfall-Anlagen grundsätzlich nicht ändert. Die Überwachungsbehörden für Seveso-IIBetriebe leisten allerdings im Rahmen der Behördenbeteiligung beratende Unterstützung bei entsprechenden Anfragen der Bauaufsichtsämter zu Baugenehmigungsverfahren . Ohne umfassende Beachtung des Abstandsgebots werden neue Seveso-II-Betriebe bei Konflikten mit sensiblen Nutzungen im Umfeld nicht genehmigt. Frage 2.: In welcher Art und Weise sind davon Bau- genehmigungsverfahren betroffen, wenn sich das beantragte Bauvorhaben innerhalb des/der "Schutzabstandes / -flächen" i.S. des § 50 BImSchG eines SevesoII -Betriebes befindet? Antwort zu 2.: Baugenehmigungsverfahren sind immer dann betroffen, wenn für das Bauvorhaben keine planungsrechtliche Grundlage besteht, die das Erfordernis aus Artikel 12 Abs. 1 der Richtlinie 96/82, dass zwischen den unter diese Richtlinie fallenden Betrieben einerseits und öffentlich genutzten Gebäuden andererseits ein angemessener Abstand gewahrt bleibt oder die Risiken der Ansiedlung eines Gebäudes oder einer Nutzung innerhalb der angemessenen Abstandsgrenzen im Stadium der Planung gebührend gewürdigt und bewältigt wurden, enthält . Der Europäische Gerichtshof hat festgestellt, dass sich die Anforderungen aus Artikel 12 Abs. 1 der Richtlinie 96/82 dann unmittelbar an die Baugenehmigungsbehörden richten, wenn ihnen seitens der Planungsbehörden nicht Rechnung getragen wurde; in diesen Fällen müssen im Rahmen der baurechtlichen Prüfung die sich aus der Richtlinie ergebenden Maßnahmen getroffen werden. Frage 3.: Wie viele Baugenehmigungen mussten bis- lang im Zusammenhang mit den aktuell 33 Seveso-IIBetrieben in Berlin nach dem EuGH-Urteil versagt werden ? Antwort zu 3.: Die aus zehn Bezirksämtern vor- liegenden Antworten ergeben, dass seit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs keine Baugenehmigungen unter Hinweis auf die Seveso-II-Richtlinie versagt wurden; auch die oberste Bauaufsicht hat seitdem keinem Bauantrag deswegen die Genehmigung versagt. Frage 4.: Hält das Land Berlin es für notwendig, zeit- nah einen einheitlichen Abwägungsrahmen für den vom EuGH vorgesehenen "Wertungsspielraum" der Genehmigungsbehörden zu erarbeiten, der insbesondere auch die Berücksichtigung von "sozioökonomischen Faktoren" (EuGH) definiert ? Antwort zu 4.: Ein einheitlicher Abwägungsrahmen zur Berücksichtigung des Abstandsgebots wäre eine sinnvolle Orientierungshilfe, der die Entscheidungsfindung bei Genehmigungsverfahren erleichtert. Die auch in der Entscheidung des EuGH hervorgehobene erforderliche Einzelfallbewertung kann er aber nicht ersetzen. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 168 2 Für Genehmigungsbehörden gilt bislang ein grundsätzlich konditional angelegtes rechtliches Prüfprogramm. Ob mit Hilfe der Planungsbehörden verlässliche und weiterführende Aussagen zu einem Abwägungsrahmen und insbesondere zur Berücksichtigung „sozioökonomischer Faktoren“ getroffen werden können, soll aus Anlass eines konkreten Einzelfalls im Zusammenwirken von Baugenehmigungs-, Planungs- und Ordnungsbehörden kurzfristig im Rahmen einer Arbeitsgruppe geprüft werden. Frage 5.: Welche Zuständigkeiten bestehen im Land Berlin für die sich aus dem EuGH-Urteil ergebende immissionsschutzrechtliche Stellungnahme zum Baugenehmigungsverfahren ? Antwort zu 5.: Am baurechtlichen Genehmigungsver- fahren für sensible Nutzungen im Umfeld von Seveso-IIBetrieben muss die jeweilige Überwachungsbehörde des betroffenen Seveso-II-Betriebs beteiligt werden, je nach Anlage die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit Berlin (LAGetSi), die Umweltverwaltung des betroffenen Bezirks oder das Landesamt für Bergbau, Geologie und Rohstoffe Brandenburg. Eine Stellungnahme dieser Behörden hat zwar nur empfehlenden Charakter, sie dient jedoch insbesondere der Bereitstellung aktueller Informationen zur Situation in dem jeweiligen Seveso-II-Betrieb, die nach der Entscheidung des EuGH in die baurechtliche Beurteilung einfließen müssen. Frage 6.: Welche Standorte, bzw. Gebietskategorien sind nach Auffassung des Senats geeignet bzw. ungeeignet für Seveso-II-Betriebe? Antwort zu 6.: Der Stadtentwicklungsplan Industrie und Gewerbe enthält unter „Ausschluss sensibler Nutzungen“ (Seite 83) einen Hinweis auf Betriebe, die mit gefährlichen Stoffen umgehen. Er benennt fünf Standorte, die die dafür geforderten Rahmenbedingungen aufweisen. Frage 7.: Sieht das Land Berlin die Notwendigkeit diese Seveso-II-Betriebe zu verlagern, wenn sie sich insbesondere in der Nähe von sensiblen Nutzungen (Schulen, Kitas, Seniorenheime u.a.) befinden? Wenn ja, wo sind in Berlin potenzielle Standorte vorhanden? Antwort zu 7.: Soweit der vorhandene Betrieb ge- nehmigt wurde, genießt er Bestandsschutz. Eine Verlagerung von Betrieben hängt daher von der entsprechenden Bereitschaft der Betriebsinhaber ab. Aus stadtentwicklungspolitischer Sicht wäre eine aktive Verlagerungspolitik in der Weise, dass sogenannte Seveso-II-Betriebe aus Gemengelagen mit sensiblen Nutzungen grundsätzlich umzusiedeln wären, sicherlich eine wünschenswerte Lösung, die allerdings den Einsatz erheblicher öffentlicher Mittel erfordern würde. Lediglich bei den mittelbaren Kosten sind daher im Einzelfall Förderungen vorstellbar (vgl. Antwort zu Frage 9). Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 6. ver- wiesen. Frage 8.: Hat der Senat in der Vergangenheit Ge- spräche mit betroffenen Betrieben über mögliche Verlagerungen geführt bzw. plant er solche Gespräche zu führen? Wenn ja, nach welchen Kriterien werden diese Betriebe ausgewählt? Antwort zu 8.: Vor dem Hintergrund der erheblichen Kosten einer aktiven Umsiedlungspolitik sind Gespräche mit betroffenen Unternehmen seitens der für Wirtschaft zuständigen Senatsverwaltung nicht erfolgt. Frage 9.: Sieht der Senat die Möglichkeit betroffene Betriebe bei der Umsiedlung zu unterstützen und in welcher Form? Antwort zu 9.: Ein unternehmensseitig geplanter Um- zug kann mit bestehenden Instrumenten der Wirtschaftsförderung des Landes Berlins begleitet und unterstützt werden. Zu den Förderangeboten des Landes Berlin zählen auf den Einzelfall bezogen u.a. die Bereitstellung landeseigener Gewerbe- und Industriegrundstücke, Förderung durch Investitionszuschüsse sowie die Gewährung von Bürgschaften. Frage 10.: Ist es seit der Beantwortung der Anfrage Drucksache 16/14024 durch die damalige Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz zu weiteren Versuchen einer Verlagerung von Seveso-IIBetrieben gekommen ? Wenn ja, mit welchem Erfolg? Antwort zu 10.: Der für Wirtschaft zuständigen Senatsverwaltung ist in den vergangenen 24 Monaten kein unternehmensseitig geplanter Umzug bekannt geworden . Berlin, den 02. März 2012 In Vertretung G o t h e ................................ Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 14. Mrz. 2012)