Drucksache 17 / 10 194 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Klaus Lederer (LINKE) vom 09. Februar 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 10. Februar 2012) und Antwort Rechte und Hilfe für transsexuelle, transgender und intersexuelle minderjährige Menschen in Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Welche Beratungs- und Hilfsangebote bestehen im Land Berlin für die spezifischen Unterstützungsbedürfnisse von transsexuellen, transgender und intersexuellen minderjährigen Menschen und deren Angehörigen ? Zu 1.: Für transgeschlechtliche Menschen (Trans- sexuelle und Transgender) aller Altersstufen und deren Angehörige wird Beratung von den Freien Trägern Sonntags-club e.V. und Trans-Inter-Queer e.V. angeboten . Es handelt sich bei beiden Trägern um eine niedrigschwellige qualifizierte Beratung. Im Rahmen des Projektes "Queer Leben" werden Beratungsangebote für Familien, Jugendliche, Eltern und Kinder organisiert. Durch den am Projekt beteiligten Träger Trialog e.V. sowie durch den Träger Gleich & Gleich e.V. können auch Hilfen zur Erziehung nach SGB VIII geleistet werden. Beide Träger verfügen über spezifisches Wissen der Unterstützungsbedürfnisse der Zielgruppen. Neben ambulanten Hilfen gibt es auch Wohnangebote für Jugendliche. Für psychologische Begleitung stehen einzelne niedergelassene Psychotherapeutinnen und -therapeuten zur Verfügung, in medizinischen und diagnostischen Fragen berät die dortige Kinder- und Jugendpsychiatrie im Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité. 2. Welche Beratungs- und Hilfsangebote hält der Senat über die bereits bestehenden Angebote hinaus für notwendig? Gibt es „Versorgungslücken? Wie können diese ggf. geschlossen werden? Zu 2.: Angesichts der Tatsache, dass Fragen der Geschlechtsidentität (Transsexualität) zunehmend in jüngerem Lebensalter von den betroffenen Kindern und Jugendlichen sowie deren Angehörigen offener thematisiert und die Lebenssituation intersexueller Kinder und Jugendlicher immer mehr enttabuisiert wird, hält der Senat eine Bedarfsanalyse und bedarfsgerechte Weiterentwicklung der bestehenden Angebote für dringend notwendig. Aus der Erfahrung der im Feld aktiven Träger wird bzgl. transsexuellen, transgender und besonders intersexuellen minderjährigen Menschen auf folgende Weiterentwicklungsbedarfe hingewiesen: • In stationären Einrichtungen nach § 34 SGB VIII, • In Kriseneinrichtung/ Krisenwohnen für Kinder und für Jugendliche , • In den Angeboten der Erziehungs- und Familien- beratung, • Angebote zur umfassenden Begleitung von Familien mit einem trans* bzw. inter* Kind in Umbruchssituationen (Kita, Einschulung, Jobsuche ), • gezielt auf Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle zugeschnittene Informations- und Fortbildungsangebote für Kinderärzte/-innen, Psychiatriepersonal , Jugendämter, • Angebote zu Empowerment, • Informations- und Beratungsangebote speziell für transsexuelle, transgender und intersexuelle minderjährige Menschen mit Behinderungen und Fachkräften in diesem Arbeitsfeld. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Lebens- realität von transsexuellen, transgender und besonders intersexuellen minderjährigen Menschen kaum bzw. gar nicht wissenschaftlich untersucht ist. Hier müssten Studien durchgeführt werden, um diese Situation zu ändern. 3. Wie sind Jugendämter und Schulverwaltung über dieses Thema informiert und welche Hilfestellung können sie diesen Menschen geben? 4. Welche Weiterbildungsangebote zum Umgang mit den spezifischen Fragen und Problemlagen von transsexuellen , transgender und intersexuellen minderjährigen Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 194 Menschen in Berlin bestehen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jugendämtern, der Schulverwaltung sowie pädagogischen Fachkräften in Schule und Kinderund Jugendhilfe? 5. Mit welchen konkreten Maßnahmen und in welchem Umfang (Finanzierung, Angebote) unterstützt der Senat Weiterbildungs- und Schulungsangebote für die unter 4. genannten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? 6. Sieht der Senat die Notwendigkeit des Ausbaus dieser Weiterbildungs- und Schulungsangebote? Zu 3.,4.,5.,6.: Fortbildungsangebote zum Themen- komplex Transgender und Transsexualität finden sich im Programmangebot des Sozialpädagogischen Fortbildungsinstituts Berlin-Brandenburg (SFBB) im Programmbereich „Verbindende Themen/Vielfalt von Lebenswelten gestalten.“ Seit 2007 befindet sich das Seminarangebot: „Vielfalt wahrnehmen und wertschätzen: Den DiversityAnsatz für die pädagogische Arbeit nutzbar machen“ jährlich im Programm. (Thematisierung von Transgender ist Teil des Seminarkonzeptes). 2012 (wieder) ergänzt um das Thema: „Heiße Eisen oder Vielfalt bereichert? Lesbische, schwule, bisexuelle und TransgenderJugendliche in der Jugendarbeit.“ Im Programmbereich „Jugendarbeit-Jugendsozialarbeit/ geschlechterbewusste Arbeit mit Mädchen und Jungen-Gender-Mainstreaming“ werden Veranstaltungsformate angeboten, die sich mit Konzepten der Antidiskriminierung, der Vorurteilsbewusstheit und des wertschätzenden Umgangs mit Diversität befassen. 2010 hat das SFBB die Bildungsinitiative QUEERFORMAT mit der Umsetzung des Landesprogramms „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“ beauftragt. Zwischen Dezember 2010 und Dezember 2011 wurden in einem Top-down-Verfahren unterschiedliche Fortbildungsformate in einigen Berliner Bezirken – der Schwerpunkt lag in den Bezirken Mitte und Pankow – umgesetzt: 30 Informationsveranstaltungen für Schlüsselpersonen, 30 Fortbildungsberatungen, 25 Seminare für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe und 3 Qualifizierungsmaßnahmen für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren Für Verantwortliche und Lehrkräfte an Berliner Schulen wurden ebenfalls im Rahmen der Initiative „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ in Fortbildungen die Themen Transsexualität und Transgender, vereinzelt auch Intersexualität, mitbehandelt. Bei Fallanfragen wird von einigen Jugendämtern das Projekt Queer Leben zur Beratung angefragt oder den Betroffenen empfohlen. Der Verein ABqueer bietet ein spezielles Fortbildungsmodul, pädagogische Beratung für Fachkräfte in der Schule und der Kinder- und Jugendhilfe an. Der Berliner Senat wird die Initiative „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ fortsetzen und weiterentwickeln (Richtlinien der Regierungspolitik, Drs. 17/0077, S. 8). Somit ist die Weiterführung der genannten Fortbildungsund Sensibilisierungsmaßnahmen vorgesehen. Der Umfang steht unter dem Vorbehalt der Verabschiedung des Berliner Haushaltsgesetzes 2012/2013. 7. Wie bewertet der Berliner Senat den Versuch eines Berliner Jugendamtes, die elfjährige „Alex“ (siehe http://www.taz.de/!85899/) in eine psychiatrische Einrichtung einzuweisen? Zu 7.: Gesetzliche Grundlage für die Arbeit der Jugendhilfe - öffentliche und freie - ist das VIII. Sozialgesetzbuch Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII). Ausgehend von dem Recht jedes jungen Menschen auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit , verpflichtet es die Jugendhilfe zur Verwirklichung dieses Rechtsanspruchs. Insbesondere soll sie • junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern, • dazu beitragen, dass Benachteiligungen vermieden oder abgebaut werden, • Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen, • Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen, und • dazu beitragen, dass positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien erhalten oder geschaffen werden. Gemeinsam und in enger Zusammenarbeit mit den Er- ziehungsberechtigten und dem Kind bzw. Jugendlichen werden bezogen auf die Situation des Einzelfalls im Rahmen der Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII) die erforderliche Unterstützung und Hilfe angeboten und eingeleitet. Eine Bewertung des Einzelfalls ist aufgrund der bezirklichen Zuständigkeit nicht möglich. 8. Welche Zusammenarbeit besteht zwischen dem Land Berlin und Vereinen und Initiativen, die aus der Selbstorganisation von Trans*- und Inter*-Menschen hervorgegangen sind und wie bewertet der Senat diese Zusammenarbeit? Zu 8.: Zwischen Vereinen und Initiativen der Selbst- organisation von trans- und intergeschlechtlichen Menschen und der für den Bereich gleichgeschlechtliche Lebensweisen/sexuelle Identitäten zuständigen Senatsverwaltung , besteht seit Jahren eine gute fachliche Zusammenarbeit . Die Landesstelle für Gleichbehandlung - gegen Diskriminierung (LADS) moderiert in diesem Zusammenhang einen Runden Tisch, an dem Selbsthilfeinitiativen und Interessengruppen mit medizinischen, psychologischen und sozialpädagogischen Fachkräften zusammen wirken, um die Lebenssituationen trans- und intergeschlechtlicher Menschen zu verbessern. Bei den halbjährlichen Treffen des Runden Tischs werden regelmäßig weitere Handlungsbedarfe sowohl in gesellschaftlicher , medizinischer als auch in rechtlicher Hinsicht deutlich. 9. Wie viele Anträge auf Änderung des Vornamens und Personenstands wurden im Land Berlin in den vergangenen 5 Jahren von Minderjährigen bzw. deren Er- 2 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 194 3 ziehungsberechtigten gestellt (es wird um Auflistung nach Jahren, Bezirken und Geburtsjahrgang gebeten)? 10. Wie viele Anträge auf Änderung des Vornamens und Personenstands wurden in Berlin in den vergangenen 5 Jahren von Erwachsenen gestellt (es wird um Auflistung nach Jahren, Bezirken und Geburtsjahrgang gebeten)? 11. Wie lang ist die durchschnittliche Verfahrensdauer für die Bescheidung eines Antrags auf Änderung des Vornamens bzw. Personenstands im Land Berlin (es wird um eine Auflistung nach Bezirken gebeten)? Zu 9., 10. und 11.: Vorbemerkung: Das Amtsgericht Schöneberg ist hinsichtlich der An- träge, die Gegenstand der Fragen 9 bis 11 sind, für alle Berliner Bezirke sowie für Anträge aus dem Ausland zuständig. Da zu einer Aufteilung nach Bezirken keine statistischen Erhebungen vorliegen, können in der Kürze der Zeit leider keine Angaben zu einer Unterteilung nach Bezirken gemacht werden. Antwort: Für das Jahr 2007 kann eine Unterscheidung nach Minderjährigen und Erwachsenen Antragstellern /innen nicht vorgenommen werden. Im Jahr 2007 wurden insgesamt 102 Anträge ermittelt, welche überwiegend von Erwachsenen gestellt worden sein dürften. Für die Jahre 2008 bis 2011 wird auf die anliegende Tabelle verwiesen, aus der sowohl die Unterscheidung nach Minderjährigen und Erwachsenen sowie nach den einzelnen Jahrgängen ersichtlich ist. Dokumentiert ist die Zahl der Fälle (Verfahren zur Vornamens- und Personenstandsänderung) nach dem Jahr der ersten Antragstellung . Demnach gingen von Minderjährigen je zwei Anträge in 2009 und 2010 sowie neun in 2011, somit insgesamt bisher 13 Anträge ein. Ein deutlicher Anstieg der Fallzahlen bei Minderjährigen und Erwachsenen im Jahr 2011 resultiert daraus, dass seit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2011 (1 BvR 3295/07) für die Personenstandsänderung keine geschlechtsangleichenden Operationen mehr vorausgesetzt werden und somit die Anträge auf Vornamensänderung und Personenstandsänderung nach § 1 und § 8 Transsexuellengesetz in einem Verfahren gestellt werden können . Die durchschnittliche Verfahrensdauer für die Be- scheidung eines Antrages auf Änderung des Vornamens bzw. Personenstands im Land Berlin hängt maßgeblich von der Einholung des medizinischen Gutachtens ab und beträgt durchschnittlich sechs bis neun Monate. Berlin, den 16. März 2012 Dilek Kolat ___________________ Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 27. Mrz. 2012) Anlage zur Antwort auf die Kleine Anfrage 17/ 10194 Tabelle: Anträge auf Änderung des Vornamens sowie des Personenstandes in den Jahren 2008 bis 2011 nach dem Datum des Antragseingangs. 2008 2009 2010 2011 Jahrgang Mdj. Erw. Mdj. Erw. Mdj. Erw. Mdj. Erw. 1937 1 1938 1939 1940 1941 1 1942 1943 1 1944 1 1945 1 1 1946 2 2 1947 0 1948 1 1949 2 1950 0 1951 1 1952 1 1953 0 1954 0 2 1955 0 1 1956 2 2 1 4 1957 1 1958 3 0 1 1959 2 2 3 2 1960 3 3 1 1961 2 3 2 1962 1 4 2 2 1963 2 3 3 4 1964 3 1 3 1965 3 7 2 1966 1 3 4 3 1967 1 3 1 1968 1 2 1 4 1969 2 4 4 1970 1 1 2 4 1971 1 4 0 1 1972 0 1 3 1973 2 1 2 2 1974 3 2 5 9 1975 2 2 3 3 1976 1 2 3 7 1977 2 1 3 11 1978 3 1 3 5 1979 5 2 11 1980 2 6 4 7 1981 1 4 3 6 1982 1 6 8 1983 3 3 8 8 1984 2 2 6 - - 2 2008 2009 2010 2011 Jahrgang Mdj. Erw. Mdj. Erw. Mdj. Erw. Mdj. Erw. 1985 2 2 4 1986 6 3 9 1987 1 4 1 1988 4 3 2 6 1989 1 2 5 5 1990 2 5 7 1991 2 2 1992 2 3 1993 1 2 1994 1 5 1995 1 1996 1 Gesamt 0 48 2 94 2 97 9 165 ka17-10194 ka17-10194Anlage