Drucksache 17 / 10 211 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage des Abgeordneten Stefan Evers (CDU) vom 14. Februar 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 15. Februar 2012) und Antwort Seveso II – Konsequenzen aus der EuGH-Rechtsprechung und aktuelle Situation in Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: Frage 1: Welche Konsequenzen ergeben sich aus aktueller EuGH-Rechtsprechung für die planungsrechtliche bzw. Genehmigungspraxis in Berlin im Zusammenhang mit sogenannten „Seveso-II“-Standorten und ihrem Umfeld? Antwort zu 1.: Zum Thema der „Seveso-II“-Standorte finden sich grundlegende Informationen zum Sachstand in Berlin in den Antworten zu den Kleinen Anfragen der Abgeordnetenhaus-Drucksachen 17/10168 und 16/14024. Entsprechend der Bezeichnung der einschlägigen StörfallVerordnung wird hier im Weiteren statt „Seveso-II“- Standort der Begriff des Störfallbetriebs verwendet. Zu Frage 1 der vorliegenden Drucksache ist ins- besondere auf die Antworten zu den Fragen 1 bis 4 der Kleinen Anfrage 17/10168 zu verweisen. Dort ist u.a. dargestellt, dass das Abstandsgebot aus Art. 12 Abs. 1 der sogenannte Seveso-II-Richtline (RL) auch auf Baugenehmigungsverfahren anwendbar ist und eine Beachtung des Abstandsgebots erfordert. Die Baugenehmigungsverfahren sind immer dann betroffen, wenn keine planungsrechtliche Grundlage besteht, die eine Berücksichtigung des Abstandsgebots enthält. Ein unmittelbarer Handlungsbedarf der für den Voll- zug der Störfall-Verordnung zuständigen Behörden ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 15.09.2011 nicht. Zur weiteren Erörterung der Konsequenzen hat sich bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt eine fachübergreifende Arbeitsgruppe gebildet. Frage 2: Welche Veränderungen haben sich in den vergangenen drei Jahren bei den Berliner „Seveso-II“- Standorten ergeben, kam es insbesondere zur Aufgabe bzw. Umsiedlung einzelner Standorte? Antwort zu 2.: Im Rahmen der Beantwortung der Kleinen Anfrage ist es nicht möglich, die Veränderungen bei den in Berlin vorhandenen Störfallbetrieben in den letzten drei Jahren vollständig aufzulisten. Nach dem Zusammenhang der Fragestellung wäre auch das Umfeld des jeweiligen Betriebs einzubeziehen. In Berlin sind unterschiedliche störfallrechtliche Überwachungsbehörden zuständig (vergleiche insbesondere die Beantwortung zu Frage 1 der Kleinen Anfrage Drucksache 16/14024). Für das jeweilige Umfeld kommen weitere zuständige Behörden hinzu, vor allem die Bauaufsichts- und -planungsbehörden . Festgestellt werden kann, dass insgesamt die Zahl der Störfallbetriebe in den letzten Jahren geringfügig zurückgegangen ist. Ursache sind Stilllegungen oder Reduzierungen der vorhandenen Mengen störfallrelevanter Stoffe unter die im Anhang I der 12. Bundes-Immisionsschutzgesetz Verordnung über kleine und mittlere Feuerungsanlagen (BImSchV) genannten stoffbezogenen Mengenschwellen . Momentan sind 31 Standorte von Störfallbetrieben bekannt. Damit hält eine langfristige leicht rückläufige Tendenz an. Frage 3: Für welche „Seveso II“- Standorte bestehen nach Kenntnis des Senats und der Bezirke derzeit Überlegungen , die heutigen Nutzungen zugunsten alternativer Entwicklungen aufzugeben und in welcher Weise unterstützen Senat und Bezirke solche Bestrebungen grundsätzlich bzw. einzelfallbezogen? Antwort zu 3.: Ein Störfallbetrieb in Neukölln wird noch in diesem Jahr wegen fehlender Erweiterungs- und Entwicklungsmöglichkeiten seinen Standort von Berlin ins Umland verlegen. Für einen weiteren Störfallbetrieb in Charlottenburg-Wilmersdorf ist die Stilllegung beabsichtigt . Das Kraftwerk Lichterfelde in SteglitzZehlendorf wird langfristig durch ein Gas- und Dampfturbinenkraftwerk ersetzt, das keinen Störfallbetrieb enthält . Ebenfalls soll das Kraftwerk Klingenberg in Lichtenberg langfristig durch solch ein Gas- und Dampf- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 211 turbinenkraftwerk ersetzt werden. Allerdings bleibt abzuwarten , welche Entwicklung das dort zusätzlich geplante Holzkraftwerk nimmt. Unterschiedliche Fördermöglichkeiten der Um- siedlung durch das Land Berlin werden in der Beantwortung zu Frage 9 der Kleinen Anfrage 17/10168 beispielhaft aufgelistet. Frage 4: Welche und wie viele öffentliche Nutzungen befinden sich in Berlin innerhalb des Gefahrenradius eines Seveso-II-Standorts, Angaben bitte gegliedert nach Bezirken? Antwort zu 4.: Die Fragestellung ist hinsichtlich der Begriffe „Gefahrenradius“ und „öffentliche Nutzungen“ nicht eindeutig. Der „Gefahrenradius“ wird hier als angemessener Abstand im Sinne des Artikels 12 Abs. 1 RL verstanden. Das sogenannte Abstandsgebot der Seveso-II-Richtlinie beinhaltet ein langfristiges Entwicklungsziel, das bei behördlichen Entscheidungen über die Flächennutzung und - ausweisung zu berücksichtigen ist. Der angemessene Abstand wird in der Regel durch anerkannte Sachverständige im Sinne des § 29a Bundes-Immissionsschutzgesetz im Rahmen von Gutachten auf der Grundlage von vernünftigerweise ausgeschlossenen Schadensereignissen ermittelt und basiert im Sinne der Vorsorge auf großzügigen Bewertungsmaßstäben. So wird z.B. für einen fiktiv unterstellten Brand eines Heizöltanks als angemessener Abstand der Bereich ermittelt, innerhalb dessen „nachteilige Wirkungen bei ungeschützten Menschen im Freien“ auftreten können. Durch die Ermittlung angemessener Abstände soll verhindert werden, dass bei zukünftigen Planungen und Projekten öffentliche oder sonstige sensible Nutzungen innerhalb dieses Abstandes vorgesehen werden, ohne dass das Abstandsgebot hierbei hinreichend Berücksichtigung gefunden hat. Damit soll sowohl eine Verdichtung unpassender Nutzungen im Umfeld von Störfallbetrieben wie auch ein weiteres „Heranrücken“ an diese Betriebe verhindert werden. Die systematische Erfassung der bereits vorhandenen Nutzungen ist nicht Sinn und Zweck dieser auf die Zukunft gerichteten Abstandsermittlung. Aus diesem Grund gibt es auch keine systematische Zusammenstellung von öffentlichen oder sonstigen sensiblen Nutzungen, die innerhalb des angemessenen Abstandes liegen. Innerhalb des „angemessenen Abstandes“ besteht daher keine polizei- und ordnungsrechtliche Gefährdungslage für die Nachbarschaft, die aktuellen Handlungsbedarf hervorruft. Da noch nicht für alle Störfallbetriebe die angemessenen Abstände im Rahmen einzelfallbezogener Gutachten ermittelt wurden, können für einige Betriebe nur sogenannte Achtungsabstände angegeben werden. Dies sind pauschale Tabellenwerte, die aus einem für die Zwecke der Bauleitplanung erstellten Leitfaden der Kommission für Anlagensicherheit abgeleitet werden. Die Achtungsabstände sind stoffabhängig und können bis zu 1.500 m groß sein. Eine Erhebung zur Umgebungs- situation ist nicht vorgesehen und wäre wenig aussagekräftig . Der Fragegegenstand „öffentliche Nutzungen“ ist kein feststehender Begriff. Stellt man auf den Sachzusammenhang der Frage ab, werden zum Abstandsgebot des Art. 12 Abs. 1 RL als Schutzgut neben Wohngebieten u.a. „öffentlich genutzte Gebäude und Gebiete“ genannt. Hier sind Nutzungsbereiche mit Publikumsverkehr gemeint, die einem unbestimmten Kreis von Personen zugänglich sind. Bei einem organisationsrechtlich geprägten Verständnis von „öffentlichen Nutzungen“ könnte man auf den Begriff der öffentlichen Einrichtung zurückgreifen. In diese Richtung geht die Beantwortung des Bezirksamts Mitte zur Mündlichen Anfrage, DS 0193/IV – Leben und Arbeiten mit Risiko? vom Februar 2012 an den Bezirksverordneten Urchs. Dieser hatte allerdings ausdrücklich nach „öffentlichen Einrichtungen des Bezirks“ gefragt. Diese sind als „öffentlich genutzte Gebäude und Gebiete“ in den Schutzzweck des Abstandsgebots aus Art. 12 Abs. 1 RL eingeschlossen. Im Rahmen der Bearbeitung der vorliegenden Kleinen Anfrage kann demnach keine abschließende Antwort zu Frage 4 erfolgen. Aus der Zuarbeit der Bezirksämter ergeben sich folgende Informationen: Für Lichtenberg wird zum Kraftwerk Klingenberg als öffentliche Nutzung die überörtliche Hauptverkehrsstraße Köpenicker Chaussee benannt. Für Mitte werden 25 öffentliche Infrastruktureinrichtungen aufgelistet, die sich innerhalb der „Achtungsabstände “ der zwei in diesem Bezirk vorhandenen Störfallbetriebe befinden. Dort werden noch zwei weitere Störfallbetriebe außerhalb des Bezirks benannt mit jeweils einer öffentlichen Einrichtung im angegebenen „Achtungsabstand“. Für Tempelhof-Schöneberg wird darauf hingewiesen, dass vier Störfallbetriebe in einem Industriegebiet liegen. Berlin, den 23. März 2012 In Vertretung C h r i s t i a n G a e b l e r ................................ Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 27. Mrz. 2012) 2