Drucksache 17 / 10 213 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Klaus Lederer (LINKE) vom 14. Februar 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 15. Februar 2012) und Antwort Berlin als Stadt sexueller Vielfalt und internationaler Solidarität gegen LSBTTI-Verfolgung Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Inwieweit sieht der Senat im Rahmen seines Be- kenntnisses für Selbstbestimmung und sexuelle Vielfalt in den vom Abgeordnetenhaus gebilligten Richtlinien der Regierungspolitik Aktivitäten der Unterstützung für Lesben , Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender, Intersexuelle (LSBTTI-Menschen) in Ländern, in denen die sexuelle Orientierung oder Identität verfolgt bzw. bestraft wird, als notwendig an? Zu 1.: Der Senat vertritt grundsätzlich seine Richtlinien der Regierungspolitik auch stets im internationalen Kontext. Die Maßnahmen und Aktivitäten des aktuellen Maßnahmenpakets zur Bekämpfung von Homophobie (Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“ / Drs. 16/2978) beziehen sich in erster Linie auf das Land Berlin. Im Rahmen der Weiterentwicklung dieser Initiative gilt es zu prüfen, welche Möglichkeiten der Senat auf internationaler Ebene hat, die Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt zu befördern. 2. Gibt es konkrete Projekte, Aktivitäten oder Kon- takte, die der Senat durchführt oder unterstützt, die dem Ziel dienen, LSBTTI-Menschen in solchen Staaten Solidarität und Unterstützung zu vermitteln? Wenn ja: Welche sind das! Zu 2.: Die Außenpolitik liegt in der originären Zuständigkeit des Bundes und nicht der Länder. Dennoch nutzt der Senat seine Möglichkeiten, die Akzeptanz sexueller Vielfalt über die Landesgrenzen hinweg anlassbezogen zu fördern. Beispielhaft sei das Unterstützungsschreiben des Regierenden Bürgermeisters an den Oberbürgermeister von Budapest für die Austragung der 14. Eurogames 2012 in Budapest erwähnt. Ferner prüft der Senat, im Rahmen der Weiterentwicklung der Initiative das Thema Akzeptanz sexueller Vielfalt zu einem Schwerpunktthema bei internationalen Veranstaltungen in Berlin zu machen. 3. Ist das Land Berlin im Rahmen der Beteiligung der deutschen Bundesländer in den EU-Institutionen an Diskussionen , Konsultationen oder der Vorbereitung europäischer Gesetzgebung aktiv, um eine Verbesserung der Lebens- und Menschenrechtssituation von LSBTTI in anderen Staaten oder aber der Asylgewährung für solche Menschen in den EU-Mitgliedstaaten zu erreichen? Wenn ja: Welche Aktivitäten sind das? Wenn nein, warum nicht? Zu 3.: Das Land Berlin ist in dem für die Bundesländer üblichen Rahmen an der Erarbeitung der neuen Richtlinien für das Asylverfahren beteiligt. Dies betrifft insbesondere den Vorschlag für die Richtlinie betreffend das Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzstatus (sog. Verfahrens -Richtlinie), den Vorschlag für die Richtlinie über Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern /innen (sog. Aufnahme-Richtlinie) und die zwischenzeitlich bereits verabschiedete Änderung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikations- und Anerkennungsrichtlinie). Ziel des Senats ist in diesem Zusammenhang die Verbesserung der Situation für alle schutzbedürftigen Personen, auch von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgender und Intersexuellen (LSBTTI-Menschen). 4. Ist dem Senat die ländervergleichende Studie „Fleeing Homophobia“ (www.asyl.net/ fileadmin /user_upload/redaktion/Dokumente/1111FH-DE.pdf) bekannt? Wenn ja: Teilt der Senat angesichts des status quo der Asylpraxis gegenüber aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung in den Herkunftsländern verfolgte Menschen die Schlussfolgerung, dass der europäische und deutsche Standard der Hilfe für diese Flüchtlinge weiterhin der Verbesserung bedarf, und welche Punkte sind dem Senat diesbezüglich besonders wichtig? Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 213 Zu 4.: Die Studie ist dem Senat bekannt. Der Senat begrüßt Anstrengungen der zuständigen Stellen auf Bundes - und EU-Ebene die Asylpraxis auch hinsichtlich Personen , die aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung verfolgt werden, qualitativ zu verbessern und innerhalb Europas anzugleichen. Auf die Asylpraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge hat der Senat jedoch keinen Einfluss. 5. Welche Anstrengungen kann bzw. wird der Senat unternehmen, um – ggf. durch öffentliche Positionierung Berlins, durch Gespräche oder mittels einer Bundesratsinitiative – auf die Änderung bzw. Klarstellung von Bundesrecht hinzuwirken, auch um hiermit die zum Teil noch sehr restriktive Spruchpraxis mancher deutscher Gerichte positiv zu beeinflussen (vgl. insoweit die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE – Drucksache 17/8228 – „Asylrechtlicher Umgang mit homosexuellen Flüchtlingen und der Einschränkung der sexuellen Vielfalt“, BT-Drs. 17/8357 vom 18.1.2012)? Zu 5.: Eine Änderung von Bundesrecht ist nach Auffassung des Senats nicht erforderlich, da Personen, die im Herkunftsland aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden, nach der geltenden Rechtslage in Deutschland Asyl gewährt oder die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird. Grundlage hierfür ist Art. 10 Abs. 1 d der Qualifikationsrichtlinie der EU (RL 2004/83/EG). Die Qualifikationsrichtlinie regelt u.a. die Voraussetzungen für die Gewährung der Flüchtlingseigenschaft und ist für die Rechtsanwendung maßgebend. Eine Einflussnahme auf die Spruchpraxis der Verwaltungsgerichte ist nach Auffassung des Senats weder möglich noch statthaft. Der Senat ist jedoch stets darum bemüht, das Wissen, die Wahrnehmung und Sensibilität für Menschen mit einem LSBTTI-Hintergrund in der Gesellschaft zu erhöhen, damit Vorurteile und Stereotypisierungen vermieden werden können. 6. In welcher Weise werden die besonderen Bedürf- nisse von LSBTTI-Flüchtlingen bei der Unterbringung von Asylsuchenden und Geduldeten, im Clearingverfahren bei minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen bzw. in der Abschiebungshaft berücksichtigt? 7. Gab es in diesem Bereich (Frage 6) in der Vergangenheit konkrete Fälle? Inwieweit ist sich der Senat hierbei bewusst und trägt dem Umstand Rechnung, dass die betroffenen Menschen oftmals erhebliche innere Hürden überwinden müssen, um über ihre sexuelle Orientierung oder Identität – gerade gegenüber Bediensteten eines fremden Staats, aus Angst, dass die eigene sexuelle Orientierung oder Identität den Behörden des Herkunftslandes bekannt werden könnte, aber auch aus Scham und Verinnerlichung von Diskriminierungserfahrungen im Herkunftsland ? Inwieweit existieren hierzu für die Bediensteten konkrete Anweisungen, Handreichungen, Fortbildungsangebote oder -pflichten zur Hilfe und Unterstützung ? Zu 6. und 7.: Zur Unterbringung im Abschiebegewahrsam : Bei der Unterbringung im Abschiebungsgewahrsam wird das Schutzbedürfnis von LSBTTI-Menschen berücksichtigt , soweit dies erwünscht ist oder sich aus Gründen der Sicherheit oder der Achtung der Menschenwürde als notwendig erweist. Die besonderen Interessen und Bedürfnisse von transsexuellen und intersexuellen Menschen werden dabei unabhängig davon berücksichtigt, in welchem rechtlichen oder medizinischen Stadium des Geschlechtswechsels bzw. der Geschlechtszugehörigkeit sie sich befinden. So werden den LSBTTI-Menschen zum Beispiel auf Wunsch andere Unterbringungsmöglichkeiten angeboten. Das Merkmal der sexuellen Identität findet keine explizite Erwähnung in der Gewahrsamsordnung. In Punkt 2.1(2) der Gewahrsamsordnung ist lediglich geregelt, dass Frauen und Männer getrennt unterzubringen sind. LSBTTIMenschen können getrennt von anderen Abschiebungshäftlingen , aber auch gemeinsam mit diesen untergebracht werden. Die Entscheidung hierüber würde unter Berücksichtigung der Wünsche des oder der Betroffenen sowie in Abwägung mit den berechtigten Belangen der übrigen Inhaftierten und den vollzuglichen Interessen getroffen. Bisher hat diese Frage jedoch keine praktische Relevanz erlangt, da ein solcher Einzelfall noch nicht vorgekommen ist. Unabhängig von der Form der Unterbringung haben alle Abschiebungshäftlinge täglich die Möglichkeit, an gemeinschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen und den Kontakt zu den anderen Inhaftierten zu pflegen. Gemäß Gewahrsamsordnung Punkt 2.4(4) dürfen die Abschiebungshäftlinge nur von Personen gleichen Geschlechts oder Ärzten/-innen durchsucht werden. Da für Menschen, die nicht eindeutig einem Geschlecht angehören , keine explizite Regelung vorliegt, ist hier der Wunsch der Person maßgeblich. Alle schutz- und hilfebedürftigen Personen, auch LSBTTI-Menschen, bekommen im Abschiebungsgewahrsam sozialpädagogische, psychologische und seelsorgerische Unterstützung.“ Zur Unterbringung von Asylsuchenden: Bei der Unterbringung von LSBTTI-Menschen in Gemeinschaftsunterkünften würde sich die Berliner Unterbringungsleitstelle (BUL) unter Berücksichtigung der verfügbaren Kapazitäten und Ressourcen bemühen, den aus der sexuellen Orientierung oder Identität eventuellen individuellen Anforderungen bestmöglich zu entsprechen. Es sind derartige Einzelfälle jedoch nicht bekannt geworden . Unterstützung erhalten diese Personen auch durch den Sozialdienst des Referats II A im Landesamt für Gesundheit und Soziales. Die dort tätigen Sozialarbeiter/-innen und Sozialpädagogen/-innen besitzen auf Grund ihrer Ausbildung und langjährigen Erfahrungen im Bereich der Flüchtlingsarbeit auch Kompetenzen in der Kommunikation mit den genannten Personenkreisen. 2 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 213 3 Die bisherigen Erfahrungen bei der Beratung dieser Personenkreise im Zusammenhang mit der Betreuung im Asyl- und leistungsrechtlichen Verfahren haben keine Hinweise auf gravierende Probleme auf Grund der individuellen sexuellen Orientierung oder Identität ergeben. Vielmehr streben die betroffenen Personen in aller Regel den Verbleib in Berlin an, da sie die Möglichkeiten und den persönlichen Freiraum für die Verwirklichung ihrer sexuellen Orientierung oder Identität im urbanen Umfeld einer weltoffenen Großstadt eher als erfüllt erachten als in ländlichen Regionen. Zur Unterbringung von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen im Clearingverfahren: Während der Clearingphase sind bisher keine LSBTTI-Flüchtlinge bekannt geworden. Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge werden in der Erstaufnahme- und Clearingstelle gemäß § 42 SGB (Sozialgesetzbuch) VIII untergebracht und dort intensiv betreut. Neben pädagogischem Fachpersonal steht ein Psychologe/in zur Verfügung , um auf Minderjährige mit besonderen Bedürfnissen adäquat eingehen zu können. Die Erstaufnahme- und Clearingstelle ist per Träger- vertrag beauftragt, eine pädagogische, medizinische und ggf. therapeutische Betreuung sicherzustellen und bei der Durchführung des umfassenden Clearingverfahrens geschlechtsspezifische Schutz- und Betreuungsbelange zu berücksichtigen 8. Sieht der Senat Möglichkeiten, auf die Nutzung von Spielräumen durch den Bund oder das Land Berlin bei Maßnahmen nach §§ 22, 23 AufenthG hinzuwirken, um Menschen konkrete Hilfe zu leisten, die wegen ihrer sexuellen Identität oder Orientierung oder aufgrund ihres Engagements für die Rechte und eine verbesserte Lebenssituation von LSBTTI-Menschen konkreten Bedrohungen ihrer körperliche Integrität sowie mit Folter, Terror oder gar Todesgefahr ausgesetzt sind? Wenn ja, welche Spielräume sind das und wie könnten sie genutzt werden? Zu 8.: In geeigneten Einzelfällen wäre es nach Auffassung des Senats denkbar, Personen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung und/oder wegen ihres Einsatzes für LSBTTI-Menschen konkret gefährdet sind, eine Aufnahmezusage aus humanitären Gründen gemäß § 22 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) zu erteilen. Eine solche Aufnahme läge jedoch in der Zuständigkeit des Auswärtigen Amtes bzw. der jeweiligen Auslandsvertretung. Sofern die Wohnsitznahme in Berlin beabsichtigt ist, bedürfte es des Einvernehmens der Berliner Ausländerbehörde. Ein solcher Einzelfall ist jedoch bisher nicht an das Land Berlin herangetragen worden. 9. Worin sieht der Senat weitere praktische Möglich- keiten, Berlins Ruf als weltoffene und bunte Metropole auch dafür einzusetzen, um hier und international für die Dimension der Verfolgung von LSBTTI-Menschen sowie der Asylsuche und Not wegen der Verfolgung aufgrund sexueller Orientierung oder Identität zu sensibilisieren und konkrete Hilfe zu leisten? Zu 9.: Wie bereits ausgeführt bezieht sich das Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Homophobie in erster Linie auf das Land Berlin. Der Regierende Bürgermeister und die Fachsenatoren/-innen setzen sich gleichwohl – soweit es Anknüpfungspunkte oder konkrete Anlässe gibt – bei internationalen Kontakten für eine selbstbestimmte Lebensweise ein. Berlin wirbt im Rahmen des Stadtmarketings und von Tourismuskampagnen offensiv mit Weltoffenheit und einer toleranten Einstellung zur Homosexualität . Der Senat hofft darauf, dass der Erfolg dieser Kampagnen auch zu "Nachahmereffekten" und im Idealfall zu einem Umdenken bei der Einstellung zur Homosexualität führt. Berlin, den 8. März 2012 Frank Henkel Senator für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 11. Mai 2012)