Drucksache 17 / 10 254 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Claudia Hämmerling (GRÜNE) vom 28. Februar 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 29. Februar 2012) und Antwort Ist die Heimaufsicht auf dem aktuellen Stand der Rechtssprechung? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Ist dem Senat bekannt, dass die Heimaufsicht den Pflegeeinrichtungen für Alzheimer- und Demenzerkrankte grundsätzlich richterliche Genehmigungen für freiheitsentziehende Maßnahmen abverlangt, wenn durch ein elektronisches Armband ihre Absicht angezeigt werden soll, dass sie das Haus verlassen wollen? Zu 1.: Die Pflegeeinrichtungen in Berlin haben gesetz- lich vorgeschriebene Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten . Gemäß § 16 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 des Gesetzes über Selbstbestimmung und Teilhabe in betreuten gemeinschaftlichen Wohnformen (Wohnteilhabegesetz – WTG) sind im Falle freiheitsbeschränkender und freiheitsentziehender Maßnahmen gegenüber den Bewohnerinnen und Bewohnern Aufzeichnungen und Dokumente vorzuhalten, aus denen die rechtlichen Grundlagen, Art, Zeitpunkt und Dauer der durchgeführten Maßnahmen sowie die beim Leistungserbringer für die Veranlassung und Durchführung der Maßnahme verantwortlichen Personen ersichtlich sind. Die Heimaufsicht beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) berät die Einrichtungen anhand der von ihr erstellten Beratungshilfe zum Thema „Freiheitsentziehender Maßnahmen“ (Anlage 1) dahin gehend, dass bei Betroffenen mit erkennbaren Hinlauftendenzen und deutlichem Fortbewegungswillen entsprechende Genehmigungen der Amtsgerichte eingeholt werden. Hinsichtlich elektronischer Armbänder besteht keine einheitliche Entscheidungspraxis der Amtsgerichte. Die Armbänder selbst stellen keine freiheitsentziehende Maßnahme dar. Es ist bei den Vormundschaftsrichtern/innen jedoch umstritten, ob die Anwendung möglicherweise gegen die Menschenwürde nach Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz verstößt. Führt das Signal der Armbänder dazu, dass die Betroffenen gegen ihren erkennbaren Willen unverzüglich zurückgeführt werden, so stellt das Zurückführen eine freiheitsentziehende Maßnahme dar. 2. Ist dem Senat ferner bekannt, dass freiheitsentziehende Maßnahmen nur dann richterlich angeordnet werden müssen, wenn die Betroffenen gegen ihren Willen unter Zwang gehindert werden, den Wohnbereich zu verlassen oder gegen ihren Willen mit Zwang zurückgebracht werden? Zu 2.: Diese Auffassung wird in Hinblick auf das alleinige Merkmal des unmittelbaren Zwangs nicht geteilt . Eine genehmigungspflichtige freiheitsentziehende Maßnahme ist bereits dann gegeben, wenn durch entsprechende Vorkehrungen die Betroffenen gegen ihren erkennbaren Willen gehindert werden, den Wohnbereich zu verlassen. 3. Treffen Informationen zu, dass die Heimaufsicht von den Pflegeeinrichtungen fordert, dass BetreuerInnen von Alzheimer- und Demenzkranken bei Gericht Anträge auf freiheitsentziehende Maßnahmen stellen, obwohl das Verhalten der Betroffenen die gerichtliche Anordnung freiheitsentziehender Maßnahmen nicht erforderlich macht? Zu 3.: Nein. Die Heimaufsicht berät die Einrichtungen dahin gehend, in jedem Einzelfall sorgfältig zu prüfen, ob eine Maßnahme geeignet ist, Bewohnerinnen oder Bewohner an ihrem erkennbaren Fortbewegungswillen zu hindern. Freiheitsentziehende Maßnahmen sind wegen der ver- fassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechte nur in Ausnahmefällen zulässig. Wenn einer Person in einer voll – oder teilstationären Pflegeeinrichtung für längere Zeit oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll, so ist das gem. § 1906 Abs. 4 BGB nur mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts zulässig. Nur wenn die Bewohnerin oder der Bewohner in die Maßnahme wirksam eingewilligt hat, ist keine gerichtliche Genehmigung erforderlich. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 254 Eine wirksame Einwilligung liegt vor, wenn die oder der Betroffene über den maßgeblichen natürlichen Willen verfügt und einsichtsfähig ist. Wenn sie oder er die Tragweite der genehmigten oder zu genehmigenden Maßnahme nicht erkennen kann, ist es erforderlich, die freiheitsentziehende Maßnahme durch das Vormundschaftsgericht genehmigen zu lassen. 4. Wie viele Anträge auf freiheitsentziehende Maß- nahmen sind in den letzten 12 Monaten vor dem Betreuungsgericht gestellt worden und wie viele davon wären bei richtiger Beratung der Pflegeeinrichtungen durch die Heimaufsicht bzw. Kenntnis der Rechtslage nicht erforderlich gewesen? Zu 4.: Zahlen sind nicht bekannt. Ob die entbehrlichen Anträge jeweils auf Betreiben der Heimaufsicht gestellt worden sind, ist allerdings fraglich. Es ist durchaus nachvollziehbar , dass Einrichtungen unnötige Anträge stellen, weil sie wegen der komplexen Rechtsmaterie verunsichert sind und sich absichern wollen. 5. Wie wird der Senat sicherstellen, dass den Ge- richten künftig überflüssige Anträge und Verwaltungsakte erspart bleiben? Zu 5.: Dem Senat kommt hier keine derartige Ein- flussmöglichkeit zu. Gewährleistet ist aber, dass die Heimaufsicht beim LAGeSo die Einrichtungen auch wieterhin regelmäßig anhand der von ihr erstellten Beratungshilfe zum Thema „Freiheitsentziehender Maßnahmen “ berät und darüber hinaus die Leistungserbringer auf das umfassende Informationsangebot zu diesem Thema im Internet verweist. Da die Verantwortung für die Umsetzung letztlich den Pflegeeinrichtungen obliegt, lässt sich die Antragstellung seitens der Heimaufsicht nur begrenzt steuern. Berlin, den 19. März 2012 In Vertretung Michael B ü g e ____________________________ Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 22. Mrz. 2012) 2