Drucksache 17 / 10 315 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage des Abgeordneten Stefan Gelbhaar (GRÜNE) vom 13. März 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 14. März 2012) und Antwort Abmahnwahn und Abmahnpraxis im Land Berlin? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: Vorbemerkung: Anwaltliche Abmahnungen zur Wahrnehmung von Urheberrechten insbesondere an Filmund Musiktiteln benötigen regelmäßig die Auskunft der Telekommunikationsanbieter, um den Inhaber des Telefonanschlusses zu der gespeicherten IP-Adresse zu ermitteln. Wegen der behaupteten Rechteverletzung wird dabei gerichtlich die entsprechende Sicherung und Übermittlung der Daten beantragt. Im weiteren Verlauf wird sodann unter Nutzung der gewonnenen Daten ein außergerichtliches, anwaltliches Abmahnschreiben verfasst , in dem auch die Einleitung eines Gerichtsverfahrens angedroht wird. Dazu frage ich: A. Auskunftserteilung 1. Wie viele Auskünfte wurden jährlich seit 2007 im Land Berlin beantragt, und gewährt? Zu 1.: Eine statistische Erfassung der Auskunfts- beantragung und -gewährung gemäß § 101 Abs. 9 Urhebergesetz (UrhG) erfolgt nicht. Die somit erforderliche Einzelauswertung kann mit vertretbaren Mitteln nicht vorgenommen werden. Einer Schätzung zufolge waren seit September 2011 ca. 40 Verfahren anhängig. 2. Wie beurteilt der Senat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Aktenzeichen 1 BvR 1299/05, indem es Regelungen des Telekommunikationsgesetzes zur Speicherung und Verwendung von Telekommunikationsdaten teilweise für verfassungswidrig erklärt hat und eine Neuregelung bis Juli 2013 eingefordert hat? Welche Auswirkungen des Urteils sieht der Senat auf die Praxis der Auskunftserteilung in privatrechtlichen Angelegenheiten wie der Behauptung von Urheberrechtsverletzungen? Zu 2.: Einer Beurteilung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 2012 – 1 BvR 1299/05 – enthält sich der Senat. Die in der Entscheidung des Bundes- verfassungsgerichts beanstandeten Defizite des § 113 Abs. 1 Satz 1 Telekommunikationsgesetz (TKG) treffen auf die Vorschrift des § 101 UrhG nicht zu. § 101 UrhG selbst stellt eine ausreichende Rechtsgrundlage für den damit verbundenen Eingriff in das Telekommunikationsgeheimnis dar, indem er dessen Voraussetzungen regelt und damit einen im Grundsatz angemessenen Ausgleich zwischen dem durch Artikel 14 Grundgesetz (GG) geschützten Recht des geistigen Eigentums einerseits und dem Telekommunikationsgeheimnis (Art. 10 GG) andererseits herstellt. Insbesondere durch die Einführung des – in § 113 Abs. 1 Satz 1 TKG fehlenden – Richtervorbehalts in § 101 Abs. 9 UrhG werden die mit der Abfrage von Verkehrsdaten verbundenen erheblichen Grundrechtseingriffe einer vorherigen unabhängigen Kontrolle zugeführt. Die Gerichte müssen selbst das Vorliegen eines Auskunftsanspruchs ermitteln und eine Abwägung mit Art. 10 GG vornehmen. Auch verstößt § 101 UrhG nicht gegen das Zitiergebot – in § 101 UrhG wird in Abs. 10 ausdrücklich auf die Einschränkung der Rechte der Nutzer aus Artikel 10 GG hingewiesen. Allerdings verkennt der Senat nicht, dass das Verfahren nach § 101 Abs. 2 Nr. 3 i. V. m. Abs. 9 UrhG bisher nicht optimal ausgestaltet ist und im Hinblick auf die Eingriffsintensität der angeordneten Maßnahmen, die durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 2012 erneut hervorgehoben worden ist, der gesetzgeberischen Nachbesserung bedarf. Das gilt sowohl für die Präzisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs der erforderlichen „offensichtlichen Rechtsverletzung“, wie insbesondere auch des Begriffs des „gewerblichen Ausmaßes“, der von den Gerichten sehr unterschiedlich ausgelegt wird und zu großer Rechtsunsicherheit führt. Auch muss besser als bisher sichergestellt werden, dass das Verfahren nicht zu einem standardisierten Masseverfahren verkommt, bei dem ausschließlich mit Textbausteinen gearbeitet wird und kein Raum für die Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 315 echte Prüfung der Voraussetzungen des Auskunftsanspruchs und der Verhältnismäßigkeit der beantragten Maßnahme bleibt. Auch die von einigen Gerichten für zulässig erachtete „Speicherung auf Zuruf“, mit der entgegen der Regelung des § 96 Abs. 2 Satz 2 TKG eine Speicherung der Verbindungsdaten erreicht werden soll, bedarf einer verfassungsrechtlichen Überprüfung und Vereinheitlichung der gerichtlichen Praxis durch gesetzgeberische Maßnahmen. Zuständig für die Ergreifung solcher Maßnahmen sind allerdings nicht die Länder, sondern der Bund. Die Bundesministerin für Justiz hat einen Gesetzentwurf angekündigt, mit dem Auswüchse des Abmahnwesens bekämpft werden sollen. Der Senat geht davon aus, dass die erforderlichen Präzisierungen in dem Gesetzentwurf enthalten sind und wird das Gesetzgebungsverfahren kritisch begleiten. 3. Welche Kosten, und welcher sonstige Aufwand, entstehen dadurch dem Land Berlin im Einzelfall und insgesamt, jährlich seit 2007? Zu 3.: Die Kosten für Auskunftsbeantragung und - gewährung gemäß § 101 Abs. 9 UrhG werden nicht gesondert erfasst. 4. Werden diese Kosten geltend gemacht? Welche Einnahmen, etwa durch gerichtliche oder sonstige Gebühren, ergeben sich also für das Land Berlin in den Fällen der Auskunftserteilung, im Einzelfall und insgesamt, jährlich seit 2007? Zu 4.: Gemäß § 128 e Abs. 1 Nr. 4 Kostenordnung (KostO) fallen Gebühren von 200 € an, bei Antragsrücknahmen reduziert sich diese Gebühr gemäß § 128 e Abs. 2 KostO auf 50 €. Die genauen Einnahmen des Landes Berlin können nicht beziffert werden, weil die Zahl der Anträge und der Antragsrücknahmen statistisch nicht erfasst werden. Die somit erforderliche Einzelauswertung kann mit vertretbaren Mitteln nicht vorgenommen werden. 5. Welchen Streitwert legen die Berliner Gerichte für die Auskunftsanordnung zu Grunde? Welche regelmäßigen Anwaltskosten resultieren aus dieser Festlegung? Zu 5.: Streitwertbeschlüsse werden nicht statistisch erfasst. Eine Einzelauswertung wäre mit vertretbarem Aufwand nicht möglich. B. Außergerichtliche Abmahnungen 6. Liegen dem Senat Zahlen über die Anzahl außergerichtlicher Abmahnungen vor, und wenn ja, wie viele solcher Abmahnungen gab es in den Jahren seit 2007 (bitte jährliche Auflistung)? Zu 6.: Zu außergerichtlichen Vorgängen liegen dem Senat keine Daten vor. 7. Wie bewertet der Berliner Senat die tausendfachen Abmahnungen (in 2011 bundesweit rund 218.500 Fälle) wegen der behaupteten Verletzung von Urheberrechten an Film- und Musiktiteln? Was schlägt der Senat zur Beendigung dieser Abmahnpraxis vor? Zu 7.: Es besteht Einigkeit darüber, dass der von manchen Abmahnanwälten/-innen geübten Praxis, urheberrechtliche Abmahnungen in industriellem Ausmaß zu dem einzigen Zweck zu produzieren, dadurch Rechtsverfolgungskosten zu generieren, Einhalt geboten werden muss. Diesem Zweck dient die zum 1. September 2008 in das Urhebergesetz eingefügte Vorschrift des § 97a Abs. 2 UrhG. Sie hat eine sog. Deckelung der Abmahnkosten eingeführt. Danach soll unter den in § 97a UrhG festgelegten Voraussetzungen der/die abmahnende Anwalt/Anwältin nicht mehr als 100 € von Abgemahnten verlangen dürfen. Allerdings stellt § 97a Abs. 2 UrhG für die Deckelung der Abmahnkosten zu hohe Hürden auf. Nach Äußerungen der Bundesministerin der Justiz wird eine Änderung des § 97a Abs. 2 UrhG Gegenstand eines derzeit in Arbeit befindlichen Gesetzentwurfs sein. Der Senat geht davon aus, dass der angekündigte Gesetzentwurf einen ausreichenden Schutz vor missbräuchlichen Abmahnungen enthalten wird und wird das Gesetzgebungsverfahren kritisch begleiten. 8. Welche Altersstruktur haben die Abgemahnten? Werden Wiederholungsfälle separat erfasst, und wenn ja, wie oft sind Wiederholungsfälle zu vermelden? Zu 8.: Hierzu liegen dem Senat keine Daten vor. C. Gerichtsverfahren 9. Wie viele Gerichtsverfahren wegen behaupteter und erwiesener Urheberrechtsverletzungen sind in Berlin seit 2007 (bitte jährliche Zahlen auflisten) eingeleitet worden? Zu 9.: Angegeben werden kann nur die Zahl der Urheberrechtsstreitigkeiten insgesamt, mit vertretbarem Aufwand konnte nicht ermittelt werden, wie viele der Urheberrechtsstreitigkeiten Film- und Musiktitel betrafen. Im amtsgerichtlichen Bereich werden Streitigkeiten aus dem Urheberrecht erst seit 2012 statistisch gesondert erfasst. Im Jahr 2012 sind bislang 97 Urheberrechtsstreitigkeiten eingegangen. Beim Landgericht Berlin sind im Jahr 2007 insgesamt 611 Urheberrechtsstreitigkeiten eingegangen, im Jahr 2008 insgesamt 338 Urheberrechtsstreitigkeiten, im Jahr 2009 insgesamt 373 Urheberrechtsstreitigkeiten, im Jahr 2010 insgesamt 521 Urheberrechtsstreitigkeiten, im Jahr 2010 insgesamt 402 Urheberrechtsstreitigkeiten und im Jahr 2012 bislang 112 Urheberrechtsstreitigkeiten. 10. Wie viele Urteile bzw. Beschlüsse ergingen gegen Verbraucherinnen und Verbraucher durch Berliner Gerichte, in wie vielen Fällen wurde die gerichtliche Geltendmachung im Ergebnis abgelehnt (jährlich seit 2007)? Zu 10.: Eine gesonderte Erfassung der Verfahren gegen Verbraucher/-innen folgt nicht, gleiches gilt für den 2 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 315 3 Ausgang des Verfahrens. Die somit erforderliche Einzelauswertung kann mit vertretbaren Mitteln nicht vorgenommen werden. 11. Welchen Streitwert legen die Berliner Gerichte für diese Fälle zu Grunde (bitte einzeln für: einfache, einmalige behauptete Verletzung eines Urheberrechts an einem Musiktitel sowie an einem Filmtitel, Streitwert bei behaupteter Mehrfachverletzung)? Welche regelmäßigen Anwaltskosten resultieren aus dieser Festlegung? Zu 11.: Streitwertfestsetzungen sind Einzel- fallentscheidungen. Im Rahmen dieser Entscheidungen sind die Schwere der Urheberrechtsverletzung, die wirtschaftliche Bedeutung, die Marktaktualität und die Zugkraft des/der Rechtsinhabers/Rechtsinhaberin zu berücksichtigen. 12. Welche Altersstruktur haben die Beklagten bzw. Antragsgegner? Werden Wiederholungsfälle separat erfasst, und wenn ja, wie oft sind Wiederholungsfälle zu vermelden? Zu 12.: Hierzu werden keine Daten erhoben, eine Einzelauswertung ist mit vertretbarem Aufwand nicht möglich. Berlin, den 4. April 2012 Thomas Heilmann Senator für Justiz und Verbraucherschutz (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 19. April 2012)