Drucksache 17 / 10 337 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Marianne Burkert-Eulitz (GRÜNE) vom 20. März 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 21. März 2012) und Antwort Jugendstrafvollzug in Berlin mit oder ohne Jugendhilfe? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Was wird getan, um Tendenzen „Schwarzer Päda- gogik“ im Jugendstrafvollzug entgegen zu wirken? Zu 1.: Der Begriff der „Schwarzen Pädagogik“ ist allgemein geprägt durch psychische und physische Gewaltandrohung und Gewaltanwendung, durch Einschüchterung sowie durch Demütigung und Züchtigung. Derartig gekennzeichnete Erziehungsmethoden existieren im Berliner Jugendstrafvollzug nicht. 2. Wie wird der Grundsatz, „die Vorbereitung der Wiedereingliederung eines jungen Menschen beginnt mit dem Tag der Aufnahme in den Jugendstrafvollzug“, in Berlin konkret umgesetzt? Zu 2.: Den Vorgaben des Jugendstrafvollzugsgesetzes Berlin (JStVollzGBln) folgend beginnt die Vorbereitung der Wiedereingliederung unmittelbar nach der Aufnahme mit dem Zugangsgespräch. Dort wird die aktuelle Lebenssituation erörtert, dem Inhaftierten die Ziele des Aufenthalts und die Rechte und Pflichten erläutert. Zudem werden unverzüglich die Personensorgeberechtigten und das Jugendamt informiert. Zeitnah folgen die Feststellung des Förder- und Er- ziehungsbedarfs im Diagnoseverfahren, das sich auf Erkenntnisse zur Persönlichkeit, den Lebensverhältnissen, den Ursachen und Umständen der Straftat und der Jugendgerichtshilfe, Bewährungshilfe und der Jugendhilfe stützt. Nach Gesprächen mit der Inhaftierten/dem Inhaftierten und Auswertung der schriftlichen Unterlagen wird der Vollzugsplan innerhalb von sechs Wochen nach der Aufnahme erstellt. Er wird mit der Inhaftierten/dem Inhaftierten erörtert, regelmäßig alle vier Monate überprüft und dokumentiert die Planungen u. a. zu folgenden Punkten: - Art und Weise der Unterbringung, - Teilnahme an welchen (Förder-)Maßnahmen (schu- lisch, beruflich, therapeutisch), - Teilnahme an Sport- und Freizeitangeboten, Ge- sundheits- Für/Vorsorge, - Vollzugslockerungen und Urlaub, - Familienkontakte, soziale Bindungen, - Maßnahmen und Angebote zum Ausgleich von Tat- folgen, Schuldenregulierung, - vorbereitende Maßnahmen für Entlassung, Wieder- eingliederung und Nachsorge. 3. Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen Jugend- hilfe und Jugendstrafvollzug während der gesamten Haftzeit und darüber hinaus aus? Zu 3.: Die jungen Inhaftierten werden bedarfs- orientiert über die Möglichkeiten der Jugendhilfe informiert . Hervorzuheben sind die notwendigen Unterstützungsleistungen der zuständigen Jugendämter, der Jugendgerichtshilfe , von Betreuungspersonen oder Vormündern . Entsprechende Gespräche mit der Jugendhilfe werden nach individuellem Bedarf vermittelt, es finden auch gemeinsame Besprechungen statt. 4. Welche verbindlichen Kooperationsvereinbarungen gibt es zwischen Jugendhilfe und Jugendstrafvollzug? Zu 4.: Um die Resozialisierung jugendlicher und her- anwachsender Straftäterinnen und Straftäter zu verbessern , wird derzeit an einer ressortübergreifenden Kooperationsvereinbarung der Bewährungshilfe für Jugendliche und Heranwachsende (Senatsverwaltung für Bildung , Jugend und Wissenschaft) und dem Jugendstrafvollzug (Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz ) gearbeitet. Die Kooperationsvereinbarung wird sowohl die Gestaltung des Übergangs des jungen Straftäters von der Bewährungshilfe in den Vollzug als Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 337 auch die verbindliche Beteiligung der Jugendbewährungshelfer an der Vollzugsplanung regeln. Darüber hinaus dient sie der Sicherung von Informationen über den bisherigen Betreuungsverlauf, welche für die Erhebung des Förder- und Erziehungsbedarfes (§ 10 JStVollzGBln) notwendig sind. Mit der Kooperationsvereinbarung soll außerdem sichergestellt werden, dass die Bewährungshilfe für Jugendliche und Heranwachsende rechtzeitig, d. h. mindestens sechs Monate vor der Entlassung des jungen Straftäters bzw. der jungen Straftäterin, informiert und in die Entlassungsplanung einbezogen (§ 19 JStVollzG) wird und dass gemeinsam mit den Sozialdiensten realistische Ziele für die weitere Betreuung für die Zeit nach dem Vollzug erarbeitet und umgesetzt werden können. 5. Wie werden die bestehenden Hilfen und Hilfepläne der Jugendhilfe in den Vollzugsplan integriert? Zu 5.: Soweit Hilfepläne der Jugendhilfe vorliegen, werden sie in den jeweiligen Vollzugsplänen und Vollzugsplanfortschreibungen integriert. 6. Wie wird der Grundsatz der Betreuungskontinuität (Betreuung des jungen Menschen durch Fachkräfte der freien und öffentlichen Jugendhilfe, die bereits vor der Haftzeit begonnen hat) über vor, nach und während der Haft praktisch und tatsächlich umgesetzt? Zu 6.: Der Grundsatz der Betreuungskontinuität bleibt bei der Bewährungshilfe für Jugendliche und Heranwachsende stets gewahrt; der Bewährungshelfer/die Bewährungshelferin , die vor der Inhaftierung eines Probanden /einer Probandin zuständig war, ist auch für den jungen Menschen nach der Haftentlassung grundsätzlich weiter zuständig. 7. Wie häufig und in welcher Art besteht Kontakt zwischen Sozialarbeiter_innen der freien und öffentlichen Jugendhilfe und den jungen Menschen während der gesamten Haftzeit? Zu 7.: Die Betreuung und erzieherische Einfluss- nahme zur Förderung der Entwicklung der jungen Menschen während der Haftzeit erfordert ein koordiniertes, enges Zusammenwirken der beteiligten Sozialdienste, einschließlich verstärkter Kontakte mit dem jungen Menschen selbst. Die Häufigkeit und Art der Kontakte sind durch die fallzuständige Fachkraft Jugendhilfe im Strafverfahren über die gesamte Haftzeit regelmäßig zu gestalten ; sie richten sich grundsätzlich nach dem individuellen Hilfebedarf des jungen Menschen. Junge Menschen , die vor Inhaftierung der Aufsicht und Betreuung der Bewährungshilfe für Jugendliche und Heranwachsende unterstellt waren, haben darüber hinaus am Anfang der Inhaftierung bis zur Vollzugsplanung und sechs Monate vor dem Ende der Haft mit den Ziel der Vorbereitung der Entlassung sowie im Falle einer vorzeitigen, noch nicht vollständig verbüßten Strafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde sowie im Falle einer angeordneten Führungsaufsicht, im Rahmen ihres Unterstellungsverhältnisses regelmäßig Kontakt zur Jugendbewährungshilfe . 8. Wie hoch ist der sozialpädagogische und psycho- logische Betreuungsschlüssel innerhalb des Berliner Jugendstrafvollzuges ? Zu 8.: In der Jugendstrafanstalt Berlin (JSA) liegt der Betreuungsschlüssel des Sozialdienstes (einschließlich der Psychologen und Psychologinnen) bei 12 Inhaftierten pro Gruppenleiter/-in, in der Sozialtherapeutischen Abteilung (SothA) bei 9,3 Inhaftierten. Der Jugendbereich der Justizvollzugsanstalt für Frau- en Berlin (JVAF) wird von einer Psychologin mit 30 Std./Wo und einer Sozialpädagogin betreut. Der Bereich ist durchschnittlich mit ca. 20 Inhaftierten belegt. 9. Welche pädagogische Ausbildung haben die Voll- zugsbeamten, die die meiste Zeit mit den jungen Menschen arbeiten? Zu 9.: Die Bediensteten des allgemeinen Vollzugs- dienstes durchlaufen eine zweijährige Ausbildung, untergliedert in mehrere theoretische und praktische Anteile. Bei der theoretischen Fachausbildung beträgt der pädagogische Anteil am Lehrstoff rund 30%, hinzu kommen 10 Ausbildungstage in der Justizvollzugsanstalt, in der der spätere Diensteinsatz vorgesehen ist. Während der Praxis, dem Dienst auf der Wohngruppe, die immer vom Sozialdienst geleitet wird, ist jeder/jede Vollzugsbedienstete täglich in die pädagogischen Belange eingebunden. Weiterhin werden in jedem Jahr diverse Fortbil- dungsmaßnahmen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des allgemeinen Vollzugsdienstes angeboten. Exemplarisch ist die Qualifizierungsreihe Sozialtherapie zu erwähnen , deren Zielgruppe die in den drei Sozialtherapeutischen Anstalten des Berliner Justizvollzuges tätigen Vollzugskräfte sind. Fachspezifisch lauten die Themen u. a.: - Entwicklungspsychologie, - spezielle psychiatrische Erkrankungen und psychische Störungsbilder, - deliktspezifische Themen z. B. Sexualstraftaten, Fallbeispiele, - Behandlungs- und Therapieansätze, - Spannungsfelder, Behandlung vs. Sicherheit, - Selbstverständnis der in SothA’en arbeitenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, - Teams bzw. unterschiedliche Berufsgruppen und deren Kommunikation. 2 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 337 Für das erste Halbjahr 2012 gibt es u. a. folgende Fort- bildungsangebote für alle Vollzugskräfte: - Umgang mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, aktuelle Probleme und Gegenreaktionen, - Krisenintervention und Suizidprophylaxe, - Gesprächsführung und Konfliktmanagement für Frauen, - Umgang mit Konflikten und Grenzen im Vollzugs- alltag, - Umgang mit psychisch auffälligen Gefangenen, - Was ist eine dissoziale Persönlichkeitsstörung?, - Was ist Borderline? 10. Wann und wie wird der weitere Hilfebedarf nach §§ 27 ff., § 35a und § 41 SGBVIII der zur Entlassung anstehenden jungen Menschen geprüft? Zu 10.: Die Aufgabe der Jugendämter zur Mitwirkung in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) umfasst auch die Mitwirkung bei der Vorbereitung der Entlassung aus dem Strafvollzug. Im Land Berlin regeln die Ausführungsvorschriften über die Mitwirkung der Jugendhilfe in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz (AV-JGH), wie Aufgaben der Jugendhilfe während der Inhaftierung der jungen Menschen, insbesondere im Hinblick auf eine rechtzeitige Entlassungsvorbereitung und Wiedereingliederung umzusetzen sind. Insoweit ist vorgegeben , dass sowohl ein verstärkter Kontakt zu den in Untersuchungshaft oder in Strafhaft befindlichen jungen Menschen als auch eine entsprechende Mitwirkung der fallzuständigen Sozialarbeiterin bzw. des Sozialarbeiters an der Wiedereingliederung bis zu einem halben Jahr nach Haftentlassung erfolgt (AV-JGH Nr. 3, Absatz 1 g, i, j und Nr. 22). Während der Inhaftierung und rechtzeitig am spezifischen Einzelfall orientiert vor der Entlassung, prüfen die fallzuständigen Fachkräfte der Jugendhilfe im Strafverfahren im engen Zusammenwirken mit den entsprechenden Sozialdiensten, den Bedarf, die Art und den Umfang notwendiger Hilfen zur Erziehung im Rahmen des Hilfeplanverfahrens gemäß § 36 Sozialgesetzbuch (SGB) Achtes Buch (VIII) sowie Leistungen für junge Volljährige gemäß § 41 SGB VIII. 11. Wie werden die jungen Menschen über diese Hil- femöglichkeiten aufgeklärt, wie werden die Sorgeberechtigten mit einbezogen? Zu 11.: Die Beratung im Vorfeld der Hilfegewährung ist Bestandteil jeder Hilfeplanung. Sie erfolgt durch die für Jugendhilfe im Strafverfahren zuständigen Sozialarbeiter /innen. Die Beratung bezieht die Sorgeberechtigten regelhaft mit ein. Darüber hinaus findet die Aufklärung über Hilfemöglichkeiten durch die Bewährungshilfe für Jugendliche und Heranwachsende statt und von der Jugendhilfe beauftragte freie Träger, die im Rahmen von Projekten die Entlassungsvorbereitung und Wiedereingliederungsprozesse begleiten. Hier wird insbesondere auf das von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft finanzierte Modellprojekt Startpunkt verwiesen. 12. Wie wird die anstehende Hilfeplanung in den Entlassungsplan eingepasst? Zu 12.: Zur Vorbereitung und Begleitung der Wieder- eingliederung hält die Jugendhilfe im Strafverfahren neben dem verstärkten Kontakt mit dem/der Inhaftierten insbesondere auch Kontakt zu den Sozialdiensten der JSA und der JVAF (§ 19 JStVollzGBln). Die Anstalten unterrichten die Jugendhilfe mindestens ein halbes Jahr vor der Entlassung und berücksichtigen die bereits eingeleitete bzw. noch zu entwickelnde Hilfeplanung im Rahmen ihrer Vollzugsplanungen. 13. Welche personellen und sachlichen Ressourcen stehen für diese Aufgabe den bezirklichen Jugendämtern zur Verfügung? Zu 13.: Die Organisationshoheit für die Umsetzung von Aufgaben der Jugendhilfe im Strafverfahren/Jugendgerichtshilfe liegt bei den bezirklichen Jugendämtern. Mit den Ausführungsvorschriften über die Mitwirkung der Jugendhilfe in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz (AV-JGH) ist eine ausreichende Begleitung verbindlich vorgeschrieben. Die 12 Berliner Jugendämter haben zur Durchführung der Aufgaben der Jugendhilfe bei der Vorbereitung der Entlassung aus dem Strafvollzug entsprechende Ressourcen vorzuhalten. 14. Wenn davon auszugehen ist, dass die massive Straffälligkeit der jungen Menschen, die zur Verurteilung und Haft geführt hat, Ausdruck einer Gefährdungssituation zumindest bei den jugendlichen Straftäter_innen ist, wäre die Konsequenz daraus, dass sie alle nach der Haft Anspruch auf Hilfen zur Erziehung oder Hilfen für junge Volljährige hätten - welche personellen und finan-ziellen Ressourcen werden dafür vorgehalten, wie hoch ist der tatsächliche Bedarf? Zu 14.: Grundsätzlich hat jeder junge Mensch einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, der auf seinem gesetzlich verankerten Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gründet (SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, § 1). Beachtet werden muss jedoch, dass dieser generelle Anspruch ein individueller ist, und er sich damit in der Praxis am jewieligen Einzelfall orientiert. Für die Prüfung des individuellen Hilfebedarfes bzw. die Durchführung von Hilfe zur Erziehung und Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche und Hilfe für junge Volljährige regeln Ausführungsvorschriften das entsprechende Verfahren, hier das Hilfeplanverfahren gemäß § 36 SGB VIII (AV-Hilfeplanung). Im Rahmen der Hil- 3 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 337 feplanung wird geprüft, ob die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind; vorrangig sind alle Angebote der Förderung außerhalb der Hilfen zur Erziehung bzw. der Jugendhilfe zu prüfen (AV-Hilfeplanung, Nr. 2 Abs. 3). Jeder Hilfeanspruch ist individueller Natur. Deshalb können Umfänge und Bedarfe nicht auf der Grundlage von generellen, rein hypothetischen Annahmen ermittelt bzw. erfasst werden, was darüber hinaus auch den für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Rahmen sprengt. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 13 verwiesen. Berlin, den 23. April 2012 Thomas Heilmann Senator für Justiz und Verbraucherschutz (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 02. Mai 2012) 4