Drucksache 17 / 10 531 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Marianne Burkert-Eulitz (GRÜNE) vom 24. Mai 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 29. Mai 212) und Antwort Was tut der Rot-Schwarze Senat für die Alphabetisierung von Erwachsenen? Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: In der 2010 durch das BM für Bildung und Forschung beauftragten ersten Studie ihrer Art, „leo. – Level-One“ wird deutlich, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Zahl des Analphabetismus bei den „erwerbsfähigen“ zwischen 18 und 64 Jahren Analphabetismus im engeren Sinne mehr als vier Prozent dieser Bevölkerungsgruppe, das sind etwa 2,3 Millionen Menschen, beträgt. 1. Wie viele Menschen der oben genannten Be- völkerungsgruppe sind von Analphabetismus im engeren Sinne (entsprechend dem Begriff in der oben genannten Studie) betroffen? Zu 1.: Funktionaler Analphabetismus betrifft kumu- liert mehr als vierzehn Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung (Lage auf Alpha-Level 1 - 3, 18 - 64 Jahre). Das entspricht einer Größenordnung von 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten/innen in Deutschland. Analphabetismus im engeren Sinne betrifft mehr als vier Prozent der erwerbsfähigen deutschen Bevölkerung (Lage auf Alpha-Level 1 - 2, 18 - 64 Jahre). Davon wird bei Unterschreiten der Satzebene gesprochen, d.h., dass eine Person zwar einzelne Wörter lesend verstehen bzw. schreiben kann, nicht jedoch ganze Sätze. Zudem müssen die betroffenen Personen auch gebräuchliche Wörter Buchstabe für Buchstabe zusammensetzen. Bei der Betrachtung der Alpha-Levels im Einzelnen zeigt sich, dass nur ein halbes Prozent der erwachsenen Bevölkerung auf dem untersten Alpha-Level 1 liegt, also die Wortebene beim Lesen und Schreiben nicht erreicht (0.6 % bzw. rund 0,3 Mio. des genannten Bevölkerungssegments). Weitere 3,9 Prozent liegen auf Alpha-Level 2, erreichen nicht die Satzebene, sondern können nur einige Wörter lesen und schreiben. Das entspricht zwei Millionen Personen aus der oben genannten Bevölkerungsgruppe. Insgesamt befinden sich auf dieser untersten Ebene (Level 1 und 2) 2,3 Mio. Menschen (vgl. hierzu leo.Level-One Studie). 2. Was haben die jeweiligen Regierungen im Land Berlin in den letzten 10 Jahren zur Änderung und Verbesserung der Situation der von Analphabetismus betroffenen Menschen konkret getan? Zu 2.: Die Maßnahmen, die der Senat zur Ver- besserung der Situation funktionaler Analphabetinnen und Analphabeten in den vergangenen Jahren ergriffen hat, sind in dem Bericht an das Abgeordnetenhaus über die Ergebnisse in der Bekämpfung des funktionalen Analphabetismus vom 05.05.2011 dargelegt (Drucksache 16/4111). Nachfolgend werden wesentliche Maßnahmen aus dem Bericht beschrieben und um weitere ausgewählte bzw. neu hinzugekommene Maßnahmen ergänzt. Maßnahmen an Volkshochschulen (VHS) Die Finanzierung der Alphabetisierungs-/Grundbil- dungskurse für funktionale Analphabetinnen und Analphabeten an den Berliner Volkshochschulen erfolgt kontinuierlich über Landesmittel; Einnahmen werden bei diesen Kursen nicht erzielt. Entweder sind die Angebote kostenfrei oder es wird nur eine geringe Verwaltungspauschale (4 bis 10 €) gemäß der Entgelt-Anweisung für VHS erhoben. Von 1998 bis 2010 wurden insgesamt rund 19.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erreicht. Die Berliner Volkshochschulen bieten ein zum Teil mehrstufiges Grund- und Elementarbildungsprogramm: - eine Regelberatung für kompetenzgerechte Kurseinstufung und Kursbegleitung, - besondere Angebote für Menschen mit Behinderung , - an sieben Volkshochschulen kann zudem im Rahmen des 2. Bildungsweges ein Haupt-, erweiterter Haupt- oder mittlerer Schulabschluss (Level 4) nachgeholt werden. Die Kursleitenden werden im Rahmen des Fort- bildungsangebotes für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Berliner Erwachsenenbildung bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft fort- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 531 gebildet. Hierbei handelt es sich um Einzelangebote und nicht um ein standardisiertes Qualifizierungssystem. In der Regel werden diese Angebote in Kooperation mit dem Deutschen Volkshochschul-Verband e.V. unterbreitet. Für gezielte Öffentlichkeitsarbeit und Werbung gibt es die VHS-Programme, die Internetseite, z. T. spezielle Flyer und Einzelaktionen von Volkshochschulen (z. B. Alphabetisierungstage). Im Hinblick auf eine Weiterentwicklung des Volkshochschulangebots sollten weiterhin nach Aussage des Deutschen Volkshochschulverbandes (DVV) in allen Bundesländern folgende Maßnahmen umgesetzt werden: Einführung eines standardisierten Niveaustufensystems; Einführung eines standardisierten Aus- und Fortbildungssystems für Dozentinnen und Dozenten; regelmäßige standardisierte Sprachstandserhebungen für Erwachsene; standardisierte Evaluierungen der Unterrichtsprozesse sowie flankierende Maßnahmen (aufsuchende Bildungsarbeit , Öffentlichkeitsarbeit). Angesichts der knappen Mittelausstattung der Berliner Volkshochschulen ist die Umsetzung dieser Maßnahmen derzeit nicht zu realisieren. Weitere ausgewählte Maßnahmen Der gemeinnützige Verein Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe e. V. (AOB) wurde im Juni 1977 gegründet und hat sich als erste Institution in Deutschland dem alleinigen Vereinszweck der Alphabetisierung für deutsch sprechende Jugendliche und Erwachsene verschrieben . Der Verein erhält eine institutionelle Förderung von 138.000 €/Jahr durch die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft. Das Angebot umfasst Kurse, Beratungen und Psychotherapien. Außerdem werden für die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und andere Institutionen, die mit bildungsbenachteiligten Personen arbeiten, Fortbildung und Supervision angeboten. An den AOB werden Personen vermittelt, die noch nicht über ausreichende Kompetenzen verfügen, um an regulären VHS-Kursen teilzunehmen. Im Rahmen des Programms Soziale Stadt wird im Modellprojekt „Stärkung der Roma-Community in Berlin“ das in Kooperation der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft und der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt durchgeführt wird u.a. das Thema Alphabetisierung bearbeitet. Neben dem Träger südost Europa Kultur e.V. sind die Volkshochschulen Mitte und Neukölln wichtige Partner im Projekt. Ziel ist die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien zur Alphabetisierung von Kindern und Jugendlichen in Schulen und entsprechende Fortbildungsmodule für Lehrkräfte. Dabei geht es um spezifische Alphabetisierungskurse für Kinder ab 8 Jahre und Jugendliche ohne oder mit geringer Schulerfahrung, die in der Muttersprache nicht alphabetisiert wurden und nicht Deutsch sprechen. Eingebunden ist das Thema Alphabetisierung in Maßnahmen zur Stärkung der speziellen aufsuchenden Sozialarbeit und den langfristigen Aufbau einer Selbsthilfestruktur für die ethnische Minderheit Roma. Die Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen (SenArbIntFrau) unterstützt und fördert seit einigen Jahren 2 Projekte im Bereich Grundbildung und Alphabetisierung: Bereits seit 2005 führt die Proson GmbH erfolgreich Kurse zur Alphabetisierung und Deutscher Sprache im Blended Learning im Auftrag der SenArbIntFrau durch und arbeitet mit 81 Kooperationspartnern zusammen. In diesem Zusammenhang wurde ein interaktives Kompetenzzentrum entwickelt, das berlinweite und auch zunehmend bundesweite Angebote für Lehrende und Lernende bündelt und Erfahrungen aus unterschiedlichen Projekten für funktionale Analphabetinnen und Analphabeten mit und ohne Migrationshintergrund verbreitet . Ende 2011 wurde zum Thema Alphabetisierung u.a. auch ein Imagefilm gedreht. Die berlin- und bundesweiten Angebote für Geringqualifizierte und Lernende werden auf der Webseite www.deutsch24.de des interaktiven Netzwerkes „Deutsch als Fremdsprache“ unter der Rubrik Alphabetisierung zur Verfügung gestellt. Das mit Bundesmitteln (Modellvorhaben des Bundesministeriums für Bildung und Forschung „AlphaZ - Grundbildung für den Beruf“) entwickelte Sensibilisierungs - und Informationskonzept für die Beratung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in JobCentern der Zukunftsbau GmbH konnte durch die Kofinanzierung der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen erfolgreich an Berliner Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus den Bereichen ƒ Schule (Berliner Programm vertiefte Berufsorientierung für Schülerinnen und Schüler, (BvBo)), ƒ Jugend- und Berufsberatungseinrichtungen, ƒ Bildungsträger (BvBo, Berufsvorbereitung und außerbetriebliche Ausbildung) im Land Berlin weitergegeben werden. Durch die Workshops wurden etwa 60 und Multiplikatorinnen und Multiplikatoren direkt erreicht und damit ein Adressatenkreis von schätzungsweise 200 bis 300 Fachkräften. 3. Was unternimmt der amtierende Senat zur Ver- besserung und Änderung der Situation der von Analphabetismus betroffenen Menschen derzeit und in dieser Legislatur konkret? Zu 3.: Neben den unter 2. beschriebenen Maßnahmen, die überwiegend auch in der laufenden Legislaturperiode weitergeführt werden, beteiligt sich der Senat an der Umsetzung der Nationalen Strategie für Grundbildung und zur Bekämpfung des funktionalen Analphabetismus des Bundes und der Länder, die im Dezember 2011 von der Kultusministerkonferenz (KMK) und Bundesregierung vorgestellt wurde. Diese wird auch in den Berliner Richtlinien zur Regierungspolitik unter Abschnitt VI, Bildung, Nr. 6 genannt. Darin heißt es, dass das Land im Rahmen der von Bund und Ländern umzusetzenden „Nationalen Strategie für Grundbildung“ Beratung und Information für die Betroffenen ausbauen und zusätzliche Möglichkeiten schaffen will, Lese- und Schreibkompetenzen so zu verbessern , dass eine gesellschaftliche Teilhabe möglich wird. 2 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 531 3 Die Nationale Strategie ist eine Reaktion auf die unter 1. genannten Ergebnisse der Leo.Level-One Studie. Die Bundesländer haben sich in diesem Kontext zu einem Katalog an Maßnahmen zur Bekämpfung des funktionalen Analphabetismus verpflichtet über deren Umsetzungsstand sie einmal im Jahr berichten werden. Der erste Umsetzungsbericht wird im 2. Quartal 2013 vorgelegt . Als einen ersten Schritt zur Umsetzung des Länderbei- trages hat die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (SenBildJugWiss) im März 2012 eine Kontakt- und Koordinierungsstelle Grundbildung/Alphabetisierung eingerichtet. Die noch im Aufbau befindliche Stelle, angesiedelt in der SenBildJugWiss, wird die in der Stadt tätigen Akteurinnen und Akteure im Themenfeld Grundbildung aus Verwaltung, Verbänden und Zivilgesellschaft vernetzen und ihre Aktivitäten koordinieren . Sie wird zudem Informationen zum Thema Grundbildung sammeln und an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren weiterverbreiten und Fachgespräche und Fachtagungen zum Thema initiieren und gemeinsam mit Dritten durchführen. Eine direkte Beratung funktionaler Analphabetinnen und Analphabeten bietet die Kontaktstelle nicht an. Die Kontakt- und Koordinierungsstellen der Bundesländer werden sich zukünftig mindestens einmal im Jahr über ihre Arbeit austauschen und den Austausch und Transfer guter Praxisansätze erproben. Zudem strebt der Senat im Rahmen der Nationalen Strategie den verstärkten Einsatz von ESF Mitteln für die Bereitstellung von Kursangeboten an Volkshochschulen an. Die für Arbeit und Bildung zuständigen Senatsver- waltungen streben an, im Laufe dieser Legislatur Grundbildung stärker als Querschnittsaufgabe zu verankern und gemeinsam entsprechende neue konzeptionelle und fördertechnische Modelle zu entwickeln. Sie streben an, hierfür verstärkt Mittel des Europäischen Sozialfonds (ESF) zu nutzen. Dazu werden sie vermehrt zusammenarbeiten und ihre Potenziale bündeln. Berlin, den 29. Juni 2012 In Vertretung Mark Rackles Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 09. Juli 2012)