Drucksache 17 / 10 535 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Klaus Lederer (LINKE) vom 30. Mai 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 30. Mai 2012) und Antwort Angebote für LSBTTI-Personen in Krisensituationen Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Teilt der Senat die Einschätzung der Gesamt- evaluation zur Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“ (ISV) durch das centrum für qualitative evaluations- und sozialforschung (ces), dass es in Berlin „keine spezifische Unterbringung für LSBTI-Personen in Krisen (AH 13.4) [gibt], worunter vor allem (junge) Männer und transgeschlechtliche Personen leiden, die Schutz vor Gewalt im Zusam-menhang mit ihrer sexuellen/geschlechtlichen Identität, bspw. nach einem Coming Out, suchen“? Welche Konsequenzen zieht der Senat aus diesem Evaluationsergebnis? Zu 1.: Der Senat teilt diese Einschätzung. Der Fach- bereich Gleichgeschlechtliche Lebensweisen der Landesstelle gegen Diskriminierung – für Gleichbehandlung (LADS) steht in fachlichem Austausch mit Projekten, Initiativen und Einrichtungen für die Versorgung und Betreuung der unter Frage 3 aufgeschlüsselten Zielgruppen und prüft derzeit das weitere Vorgehen. 2. Was hat der Senat inzwischen unternommen, um der Feststellung in der Mitteilung des Senats zur Kenntnisnahme vom 16.02.2010 (Drs. 16/2978) gerecht zu werden, dass es für Opfer trans- und homophober Gewalt bzw. für Personen, die unter Androhung solcher Gewalt stehen, häufig keine Zufluchtsmöglichkeiten gibt? 3. Welche spezifischen Unterkunftsmöglichkeiten in Krisensituationen (beispielsweise Gewaltandrohung oder Gefahr von Zwangsverheiratung) gibt es in Berlin für a) homo- und bisexuelle Jugendliche, b) homo- und bisexuelle erwachsene Frauen, c) homo- und bisexuelle erwachsene Männer, d) transgeschlechtliche Jugendliche, e) transgeschlechtliche Erwachsene, jeweils mit und ohne Migrationshintergrund? 4. Was will der Senat tun, um für LSBTI-Menschen in Krisensituationen sowohl flexible kurzfristige Wohnmöglichkeiten als auch, v. a. für Jugendliche, eine längere Unterbringung und Betreuung zu schaffen? 5. Unterstützt der Senat den im Bericht zur ISV- Gesamtevaluation enthaltenen Vorschlag, erstens flexible Finanzierungsmöglichkeit für bereits bestehende Projekte betreuten Wohnens für LSBTI-Menschen und zweitens eine queere Krisenwohnung (insbesondere für transgeschlechtliche Personen) zu schaffen? Wenn nein: Warum nicht? Wenn ja: Welche Schritte sind geplant, um diesen Vorschlag umzusetzen und wann soll dies erreicht sein? Zu 2.-5.: Im Rahmen der Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“ (ISV) wurden, zuletzt im Dezember 2010, Fachgespräche zur Situation jugendlicher lesbischer, schwuler, bisexueller , trans- und intergeschlechtlicher (LSBTI) Personen hinsichtlich Krisenwohnungen und homophober Gewalterfahrungen durchgeführt. Ein Ergebnis der Fachgespräche ist, dass vor dem Hintergrund der u.a. festgestellten Komplexität der Thematik die Differenzierung von Terminologien, Zielgruppe(n) und Problemlagen unerlässlich ist und die Einschätzung jeweiliger Bedarfe eng an diesen Prozess gekoppelt ist. Dabei spielt insbesondere die Differenzierung der Gründe bzw. Auslöser für die Gefährdung und den Hilfebedarf eine wesentliche Rolle – bei Jugendlichen wie Erwachsenen. Es geht um: • massiven Druck und Drohungen, um die Verheiratung von erwachsenen LSBTI-Personen mit Migrationshintergrund zu erreichen, • häusliche Gewalt oder ihre Androhung durch die Familie bzw. Lebenspartnerinnen/Lebenspartner aufgrund des Ausdrucks der sexuellen Identität oder eines Outings bei Jugendlichen und auch Erwachsenen bis hin zum • Verlust aller sozialen und familiären Bezüge wegen der sexuellen Identität und damit z.B. einhergehender Verlust einer Unterkunft. Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 535 Im Folgenden wird die Beantwortung der Fragen nach den Zielgruppen Jugendliche und Erwachsene differenziert . Zu LSBTI-Jugendlichen: Entsprechend dem gesetzlichen Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe besteht ein differenziertes Hilfeangebot, um den Schutz von Kindern und Jugendlichen in Gefährdungssituationen zu gewährleisten. Die Unterbringung erfolgt im Einzelfall auf Grundlage der Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII durch das jeweils zuständige Jugendamt. Zur Unterbringung in Krisensituationen steht für alle Kinder und Jugendlichen zunächst der Kinder- und Jugendnotdienst zur Verfügung. Ein spezielles Angebot bietet der Träger gleich & gleich e.V mit betreutem Jugendwohnen ab 15 Jahren für homound bisexuelle sowie für transgeschlechtliche Jugendliche . Für diese Jugendlichen stehen darüber hinaus alle Angebote, Kriseneinrichtungen und Unterkunftsmöglichkeiten der Jugendhilfe offen. Diese Angebote sind mit ihrer pädagogisch-therapeutischen Arbeit auch auf den Bedarf und die spezifischen Bedürfnisse der homo- und bisexuellen und der transgeschlechtlichen Jugendlichen eingerichtet. Zu LSBTI-Erwachsenen Frauen: Der Senat von Berlin stellt für gewaltbetroffene Frauen bereits seit langer Zeit ein breites Unterstützungsangebot zur Verfügung, das auch homo- und bisexuelle Frauen in Anspruch nehmen können. So fördert der Senat sechs Frauenhäuser, 40 Zufluchtswohnungen und fünf Beratungsstellen für Opfer häuslicher Gewalt sowie das Krisen- und Beratungszentrum LARA für von sexueller Gewalt Betroffene. Anders stellt sich die Situation für transgeschlechtliche Gewaltopfer dar. Zwar werden transgeschlechtliche Personen beiderlei Geschlechts im Einzelfall in den Frauenhäusern aufgenommen und die Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser sind zur Thematik sensibilisiert. Das Zusammenleben in Häusern gestaltet sich aber dennoch schwierig, weil sich die Lebenslagen der Frauenhausbewohnerinnen verändert haben und diese sich in immer komplexeren und schwierigeren Lebenssituationen befinden , die mit einem erheblich erhöhten Beratungsbedarf einhergehen. Transgeschlechtliche, von Gewalt betroffene Menschen benötigen ein besonderes Hilfeangebot, das ihrer spezifischen Situation gerecht wird. Dies ist von den Frauenhäusern aus o. g. Gründen nur im Einzelfall leistbar . Zur Situation gewaltbetroffener lesbischer Frauen be- steht schon seit Langem eine eigene Arbeitsgruppe bei der Berliner Initiative gegen Gewalt gegen Frauen (BIG e.V.), die sich mit der Thematik befasst. Für die Mitarbeiterinnen der Anti-Gewaltprojekte wurde zur Sensibilisierung eine Fortbildung durchgeführt, die von der Abteilung Frauen und Gleichstellung finanziert wurde. Parallel dazu wurde ein Flyer entwickelt. Die Durchführung weiterer Fortbildungen ist geplant. Männer: Krisenwohneinrichtungen für erwachsene schwule und bisexuelle Männer und trans- und intergeschlechtliche Personen mit männlicher Identität mit und ohne Migrationshintergrund sind dem Senat nicht bekannt. Die von der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales geförderten Angebote der Wohnungslosenhilfe richten sich an Menschen, die wohnungslos oder von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Ziel ist die Existenzsicherung und Integration ins Regelsystem. Die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen hierfür sind derart definiert, dass die besonderen Lebenslagen mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind. Aspekte wie die drohende Verheiratung von erwachsenen LSBTI-Personen mit Migrationshintergrund, häusliche Gewalt oder ihre Androhung durch die Familie bzw. Lebenspartnerinnen /Lebenspartner aufgrund des Ausdrucks der sexuellen Identität, können spezifische Gründe für Wohnungslosigkeit sein. Die Einrichtungen und ambulanten Dienste haben keine spezielle Funktion eines Schutzraums für von aufgrund der sexuellen Identität von Gewalt betroffene Menschen. Ein Angebot für diese Zielgruppen zum Schutz vor einem möglichen Weitererleben von Gewalt in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe aufgrund der sexuellen Identität und vor einem möglichen weiteren Abgleiten der Schutzsuchenden in eine insgesamt existenzbedrohende Lebenslage besteht somit bislang nicht. Bezogen auf alle oben genannten Zielgruppen steht der Senat im Fachaustausch mit Projekten, Initiativen und Einrichtungen für die Versorgung und Betreuung der Zielgruppen. Von Seiten der Projekte, die in der ambulanten Betreuung und Beratung der Zielgruppen tätig sind, wird als besonderes Problem benannt, dass LSBTIPersonen in Krisensituationen häufig ihre geschlechtliche Orientierung oder Identität verschweigen und diese nicht als Auslöser ihrer Krise bzw. der Notsituation benennen. Nach einer nicht repräsentativen, konservativen Schätzung dort tätiger Pädagoginnen und Pädagogen, würden sich allein 25% der Jugendlichen, die auf der Straße leben, als LSBTI beschreiben. Der Senat wird die Möglichkeiten der strukturellen Anbindungen und der Förderung weiterer Angebote im Rahmen der Haushaltswirtschaft 2012/2013 bzw. der Finanzplanung des Landes Berlin ab 2014/2015 prüfen. 6. Wie steht es um die Sensibilisierung und Schulung von Personal an den im Bericht zur ISV-Gesamtevaluation (S. 55) genannten zentralen Anlaufstellen für LSBTI-Menschen in Krisensituationen? Wie wird dieses Personal qualifiziert, um in Krisensituationen Unterstützung geben bzw. vermitteln und sich für die Opfer einsetzen zu können? Zu 6.: Im Rahmen der ISV sind Sensibilisierungsmaß- nahmen zu Lebenssituationen von LSBTI-Jugendlichen in den Tätigkeitsfeldern der Schule und der Jugendhilfe durchgeführt worden. Im Bereich der Jugendhilfe fanden u.a. 30 Infoveranstaltungen mit Schlüsselpersonen statt. 2 Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 535 3 Erwähnt sei hier konkret eine Kurzfortbildung beim Berliner Notdienst Kinderschutz (Jugendnotdienst, Kindernotdienst, Mädchennotdienst, Kontakt- und Beratungsstelle ) am 12.10.2011. Ein Überblick über alle Sensibilisierungsveranstaltungen in 2010 und 2011 findet sich unter http://www.queerformat.de/kinder-und-jugendhilfe /taetigkeitsbericht-dokumentation/ Als ein Ergebnis des Auseinandersetzungsprozesses mit sexuellen Identitäten haben einige Projekte, die von der Abteilung Frauen der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen gefördert werden, wie z.B. Alpha Nova e.V. (Kulturelle Angebote) und punktuell Spinnboden e.V. (Frauen- und Lesbenarchiv), bereits die Schreibweise des Unterstrichs1 eingeführt. Spinnboden bietet überdies Beratung für Trans-Menschen an. Darüber hinaus hat sich das Netzwerk Frauengesundheit Berlin (NFGB) in seiner letzten Sitzung am 6.06.2012 mit dem Thema "Geschlecht in Sprache und Schrift" befasst und mit der Debatte zur Anwendung des Unterstrichs in zukünftigen Veröffentlichungen des Netzwerks einen Sensibilisierungsprozess für die Vielfalt sexueller Identitäten angestoßen. Dieser Sensibilisierungsprozess wird weiter geführt. Das Frauenzentrum EWA. e.V. ist zudem Anlaufstelle des Pankower Registers zur Erfassung von rassistischen und rechtsextremen, homophob motivierten Vorfällen und Angriffen. 7. Was ist bislang geschehen, um Beschlussnummer 17 der ISV umzusetzen, nämlich darauf hinzuwirken, dass vom Senat oder den Bezirken geförderte Projekte – explizit u.a. Streetwork, Notunterkünfte, Nothilfedienste und Weglaufhäuser – das Ziel der Förderung der Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt qualifiziert und nachweisbar verfolgen? Welche verbindlichen Standards wurden hierfür entwickelt? Welches Qualitätsmanagement gibt es, um die Einhaltung dieser Ziele und Standards zu kontrollieren? Zu 7.: Bei der Umsetzung von fachlichen Standards zur Qualitätsentwicklung bei den vom Senat geförderten Projekten handelt es sich um einen langfristigen Prozess. So wurde in den Rahmenfördervertrag zwischen dem Land Berlin und den Wohlfahrtsverbänden (gem. § 79 Abs. 1 SGB XII für Hilfen in Einrichtungen einschließlich Diensten im Bereich Soziales), der am 16. Dezember 2010 abgeschlossen wurde, und in die dazugehörigen Kooperationsvereinbarungen zum Integrierten Sozialprogramm (ISP), zum Infrastrukturförderprogramm Stadtteilzentren (IFP-STZ) und zum Integrierten Gesundheitsprogramm (IGP), die Implementierung des Antidiskriminierungsansatzes als übergeordnetes Ziel aufgenommen . Im Rahmenfördervertrag ist die Förderung der Akzeptanz sexueller Vielfalt als wohlfahrtspflegerisches Ziel formuliert. Dies beinhaltet u.a. die Entwicklung von 1 Hier ist der sog. Gender Gap gemeint. Bei der Benutzung des Gender Gap wird zwischen der männlichen und der weiblichen Schreibweise ein Unterstrich eingefügt: _. Mit diesem Unterstrich können sexuelle Identitäten , die sich zwischen männlich und weiblich verorten, im Schriftbild sichtbar gemacht werden. Diese Schreibweise führt zu einer geschlechtergerechteren Sprache und hat verbesserte Sichtbarkeit von trans- und intergeschlechtlichen Menschen in der Sprache zum Ziel. Standards für die Akzeptanzförderung, die Selbstverpflichtung der Trägereinrichtungen zur Akzeptanzförderung , die Diversity-Qualifizierung und Fortbildung auf der Leitungsebene und der Ebene der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Schwerpunkt „sexuelle Identität“, die Akzeptanz sexueller Vielfalt als Bestandteil von Qualitätsmanagement und Monitoring sowie die Förderung der Entwicklung und Bereitstellung zielgruppenspezifischer Informationsmaterialien. In der Präambel des Rahmenvertrages bekennen sich die Vertragspartnerinnen und Vertragspartner zur kulturellen Vielfalt und zur Unterschiedlichkeit von Identitäten, sexueller Orientierungen und individueller Lebensentwürfe und treten allen Formen von Diskriminierung und Gewaltausübung entgegen. Im Hinblick auf die Überprüfung von DiversityMainstreaming -Prozessen arbeitet die LADS im Rahmen von Qualitätsfortbildungen mit den geförderten Projekten gleichgeschlechtlicher Lebensweisen derzeit modellhaft an der Entwicklung möglicher Dokumentations- und Monitoring-Instrumente. Berlin, den 05. Juli 2012 Dilek Kolat Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 11. Juli 2012)