Drucksache 17 / 10 542 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage des Abgeordneten Joschka Langenbrinck (SPD) vom 24. Mai 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 04. Juni 2012) und Antwort Zur Lagedarstellung der politisch motivierten Kriminalität in Berlin 2011 Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Welche Fakten sind für die aufgenommenen Fälle, die nach so genannten „Phänomenbereichen“ differenziert sind, für die Einordnung in der Lagedarstellung zur politisch motivierten Kriminalität (PMK) grundlegend und wenn die „Bewertung gemäß der angenommenen Tätermotivation“ (PMK, S.6) erfolgt, welche Kriterien werden für die Annahmen angelegt? Zu 1.: Grundlage für die Klassifizierung einer Straf- tat als Politisch motivierte Kriminalität (PMK) bildet das Definitionssystem PMK, welches das tatauslösende politische Element in den Mittelpunkt stellt. Das auf diesem Definitionssystem aufbauende System von Begrifflichkeiten ermöglicht eine differenzierte Einordnung von Straftaten zur PMK. Die Zuordnung einer Tat zu einem der drei Phänomenbereiche PMK – rechts, PMK – links und PM-Ausländerkriminalität erfolgt nach Würdigung aller bekannten Umstände der Tat und/oder der Motivation des Täters/der Täterin. Sollte eine Straftat keinem der drei Phänomenbereiche zugeordnet werden können, eine politische Motivation jedoch tatauslösend sein, erfolgt die Einordnung in den Bereich „Sonstige/Nicht zuzuordnen“. Darüber hinaus werden Tatbestände gemäß der §§ 80-83, 84-86a, 87- 91, 94-100a, 102-104a, 105-108e, 109-109h, 129a, 129b, 234a oder 241a Strafgesetzbuch (StGB) erfasst, weil sie Staatsschutzdelikte sind, selbst wenn im Einzelfall eine konkrete politische Motivation nicht festgestellt werden kann. Für eine „Bewertung gemäß der angenommenen Tätermotivation“ werden in erster Linie die im Rahmen der Ermittlungen erlangten Beweismittel, wie Aussagen des/der Beschuldigten oder von Zeugen sowie Sachbeweise, hinzugezogen. Darüber hinaus wird geprüft , ob über die/den Tatverdächtige/n bereits entsprechende polizeiliche Vorerkenntnisse vorliegen oder während der Tathandlung politisch motivierte Äußerungen getätigt wurden. Letztendlich erfolgt eine Würdigung aller bekannt gewordenen Umstände des Einzelfalls. Um eine Straftat entsprechend der drei Phänomenbereiche als politisch motiviert zu klassi- fizieren, müssen demnach konkrete Anhaltspunkte gegeben sein. 2. Welche „Bezüge“, die in der Lagedarstellung für den Bereich PMK-rechts völkischen Nationalismus, Rassismus, Sozialdarwinismus oder Nationalsozialismus “ (PMK, S. 7) als Kriterien zur Einordnung angeführt sind, gelten dabei als hinreichend bzw. welche Ausprägung müssen diese haben, um eine Tat eindeutig diesem „Phänomenbereich“ zuordnen zu können? Zu 2.: Die Begriffe „völkischer Nationalismus“, „Rassismus“, „Sozialdarwinismus“ oder „Nationalsozialismus “ orientieren sich am bundesweit verbindlichen „Themenfeldkatalog PMK“, der einen Teil des Definitionssystems PMK darstellt. Auch hier wird nach Betrachtung aller bekannten Umstände der Tat als auch der erwiesenen oder vermeintlichen Motivation des Täters/der Täterin eine Gesamteinschätzung vorgenommen und die Straftat dem jeweiligen Phänomenbereich zugeordnet. Bezüge zu den o. a. Themenfeldern liegen beispielsweise vor, wenn bei der Tat entsprechende Schriftzüge oder Symbole verwendet wurden oder Personen aufgrund ihrer Hautfarbe angegriffen werden. 3. Wie definiert der Senat die „durch nicht- deutsche Herkunft geprägte Einstellung“ als Beschreibung zur Eingruppierung von „politisch motivierter Ausländerkriminalität“ (PMK, ebd.) und nach welchen Kriterien wird bei der Aufnahme von Taten entschieden, inwiefern die Herkunft über die Motivation des Täters entscheidend war? Zu 3.: Der Phänomenbereich Politisch motivierte Ausländerkriminalität bildet ab, inwieweit im Ausland begründete Ideologien nach Deutschland übertragen und hier ursächlich für Straftaten werden. Derartige Straftaten können sowohl durch deutsche Staatsangehörige , als auch durch solche mit einem sogenannten Migrationshintergrund sowie durch Konvertiten begangen werden. Es ist also nicht die örtliche Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 542 2 Herkunft des/der Tatverdächtigen, sondern die Herkunft der Ideologie maßgeblich. Das Vorliegen konkreter Kriterien zur Entscheidung , inwiefern eine im Ausland begründete Ideologie für die Motivation eines Täters/einer Täterin entscheidend war, wird im Rahmen der Einzelfallprüfung anhand aller bekannten Umstände der Tat, der Aussagen von Geschädigten, Zeugen oder des Täters/der Täterin sowie anhand von Sachbeweisen geprüft. Diese Überprüfung erfolgt bei Bekanntwerden einer Straftat nicht abschließend, sondern wird im Laufe der Ermittlungen immer wieder geprüft und gegebenenfalls angepasst. 4. Welchem „Phänomenbereich“ werden homo- und transphobe Übergriffe zugeordnet? Zu 4.: Taten gegen die sexuelle Orientierung wer- den als Teil der Hasskriminalität nach verständiger Würdigung jedes Einzelfalls dem Phänomenbereich zugeordnet, der nach Betrachtung der Gesamtumstände der Tat bzw. der Motivation des Täters/der Täterin gemäß der Definition des jeweiligen Phänomenbereichs in Betracht kommt. Ist eine Zuordnung zu keinem der drei Phänomenbereiche möglich, wird die Tat dem Bereich „Sonstige/Nicht zuzuordnen“ zugerechnet. 5. Wenn Übergriffe mit homo- und transphobem Hintergrund von Nicht-Deutschen verübt werden, werden diese dem „Phänomenbereich“ „politisch motivierte Ausländerkriminalität“ zugeordnet und wenn ja, weshalb und wenn nein, in welchem Bereich sonst? Zu 5.: Taten gegen die sexuelle Orientierung wer- den nicht zwangsläufig dem Phänomenbereich Politisch motivierte Ausländerkriminalität zugeordnet, nur weil der bzw. die Täter/Täterinnen nichtdeutscher Herkunft sind. Entscheidend ist, ob Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Tat aufgrund einer im Ausland begründeten Ideologie verübt wurde oder im Ausland begründete Religionen und Weltanschauungen tatauslösend waren. Ist eine Zuordnung der Tat auch zu den PMK - Phänomenbereichen links oder rechts nicht möglich, wird der Fall dem Bereich „Sonstige/Nicht zuzuordnen “ zugerechnet. 6. Ist dem Senat bekannt, dass die Veröffent- lichung von „Fotos und persönlichen Informationen von vermeintlichen politischen Gegnern“ (PMK, S. 11) auf der Internetseite des „Nationalen Widerstands Berlin“ (NW-Berlin) in der Lagedarstellung als ursächlich dafür angeführt wird, dass „themenbezogene Farbschmierereien “ oder das „Anbringen von Plakaten an den Anschriften von Betroffenen“ (PMK, ebd.) auftraten ? Zu 6.: Explizite Ausführungen zur Veröffentlichung von „Fotos und persönlichen Informationen von vermeintlich politischen Gegnern“ auf nw-berlin finden sich in der Lagedarstellung PMK für das Jahr 2011 nicht. Dort wird auf Seite 11 lediglich ausgeführt, dass es sich beim Veröffentlichen „[…] von Fotos und persönlichen Informationen von vermeintlich politischen Gegnern, wie Angehörigen der linken Szene […] auf verschiedenen rechten Internetseiten […]“ um eine weitere Aktionsform der rechten Szene innerhalb der Konfrontation mit dem politischen Gegner handelt. Dies zielt auf das seit Jahren praktizierte „Outing“ von vermeintlich „Linken“ ab und beschreibt eine bekannte Aktionsform der rechten Szene. Vermutlich führten in Einzelfällen entsprechende Outing-Aktionen zu den beschriebenen Straftaten, wobei der Nachweis der Kausalität in der Regel kaum zu führen ist. 7. Ermittelt die Staatsanwaltschaft Berlin in Fällen gegen den Betreiber der Internetseite des „Nationalen Widerstands Berlin“ und wenn ja, wegen welcher Straftaten und wie ist der aktuelle Stand der Ermittlungen und wenn nein, weshalb nicht? Zu 7.: Gegen die Betreiber der Internetseite des „Nationalen Widerstandes Berlin“ wird ein Ermittlungsverfahren geführt. Gegenstand des Ermittlungsverfahrens sind die Tatvorwürfe der Volksverhetzung, des öffentlichen Aufrufens zu Straftaten, des Verstoßes gegen das Kunsturhebergesetz und der Beleidigung. Ein Abschluss der Ermittlungen ist derzeit noch nicht absehbar. 8. Handelt es sich bei dem in der Tabelle zum Fallaufkommen PMK-rechts (PMK, S. 58) für 2011 erwähnten Tötungsdelikt um den versuchten Totschlag in Schöneweide, der unter „herausragende Ereignisse“ (PMK, S. 20) beschrieben ist, gab es zu diesem Vorfall eine Pressemeldung der Berliner Polizei und wenn nein, weshalb nicht und ist bekannt, ob es sich bei dem Übergriff in der JVA Plötzensee im Februar 2012 um denselben Täter handelte? Zu 8.: Es handelt sich um diese Tat. Die Polizei Berlin hat dazu am folgenden Tag eine Pressemitteilung veröffentlicht. Der gleiche Täter griff im Februar 2012 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Plötzensee einen Mithäftling aus fremdenfeindlicher Motivation an. 9. Weshalb wird der Brandanschlag auf das Anton-Schmaus-Haus in Neukölln am 27. Juni 2011 als „Resonanzstraftat auf Aktionen der linken Szene“ (PMK, S. 21) bezeichnet, auf welcher Grundlage wird hier eine politische Einordnung vorgenommen, aufgrund welcher Ermittlungsergebnisse wird der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Vorfällen hergestellt und welcher Bezug besteht zwischen den NPD-Parteifunktionären und dem Kinder- und Jugendzentrum Anton-Schmaus-Haus der SJD Die Falken Neukölln? Zu 9.: Das Anton-Schmaus-Haus war in den ver- gangenen Jahren bereits mehrfach Angriffsziel von nach hiesiger Einschätzung „rechten“ Personen. So wurden am 06.01.2010 an ein Schild des Grünflächenamtes unmittelbar vor dem Zugang zum Anton- Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 542 3 Schmaus-Haus durch unbekannte Täter/Täterinnen Schriftzüge, wie „Rudower Spinne bleibt schwarzweiß -rot“ sowie ein Keltenkreuz angebracht. Konkrete Tatverdächtige konnten nicht ermittelt werden. Darüber hinaus wird es innerhalb der rechten Szene als eine Einrichtung der sozialistischen Jugendorganisation „Die Falken“ charakterisiert, dessen Räume auch von militanten Anhängern/Anhängerinnen der Antifa benutzt werden. Dies zeigt, dass das Anton-SchmausHaus für die rechte Szene eines von einer Vielzahl „linker Objekte“ darstellt. Konkrete Erkenntnisse, dass die Brandanschläge am 27.06.2011 und am 09.11.2011 durch Personen der rechten Szene begangen wurden, liegen nicht vor. Allerdings lassen sowohl die zeitliche Nähe zu den Straftaten zum Nachteil von Funktionären der Nationalsozialistischen Partei Deutschlands (NPD) als auch der Umstand, dass das Anton-Schmaus-Haus am 27.06.2011 nicht das einzige Objekt war, auf das ein Brandanschlag verübt wurde, sondern auch „linke Szeneobjekte“, wie das „Red Stuff“ oder das „TommyWeißbecker -Haus“ betroffen waren, den Schluss zu, dass die Täter/Täterinnen zumindest mit der rechten Szene sympathisieren. Aufgrund des Vorliegens dieser Anhaltspunkte erfolgte eine Zuordnung zum Phänomenbereich PMK – rechts gemäß des Definitionssystems PMK. Im Bericht „Lagedarstellung Politisch motivierte Kriminalität in Berlin 2011“ wird zu diesem Brandanschlag den obigen Ausführungen folgend dargelegt, dass es sich um Resonanzstraftaten auf Aktionen der linken Szene gegen NPD-Funktionäre und Personen der rechten Szene ein paar Tage zuvor handeln dürfte. Dabei handelt es sich nicht um eine „politische Zuordnung “, sondern um eine Bewertung von möglichen Hintergründen der Tat. Ein konkreter Bezug zwischen NPD-Parteifunktionären und dem Anton-SchmausHaus wird damit nicht hergestellt. 10. Weshalb wird bei der Darstellung des Brand- anschlages auf das Anton-Schmaus-Haus in der Nacht zum 09. November 2011 als Tatmotivation eine „Resonanz auf eine Störung der Totenruhe“ (PMK, S. 21) angeführt, handelt es sich hierbei um die Tat, die zuvor auf dem Nikolaifriedhof durchgeführt wurde, wann genau wurde diese „Störung der Totenruhe“ gemeldet , wann wurde sie in der Öffentlichkeit bekannt, wann genau wurde der Brand des Anton-SchmausHauses gemeldet, welche Ermittlungsergebnisse oder Anhaltspunkte führen zu der Einschätzung der Ermittlungsbehörden , dass die „Störung der Totenruhe“ motivierend für den Brandanschlag auf das AntonSchmaus -Haus war und wie schätzt der Senat die Möglichkeit ein, dass der Brandanschlag einen Bezug auf das historische Datum und die damit verbundene „Reichspogromnacht“ herstellt? Zu 10.: In der Nacht vom 08. auf den 09.11.2011 übergossen unbekannte Täter/Täterinnen den Grabstein von Horst Wessel auf dem St.- Nicolai- Friedhof in Berlin-Prenzlauer Berg mit Farbe. Diese Tat wurde auf der Internetplattform indymedia am 09.11.2011, 00:04 Uhr, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im dazugehörigen Kommentar beziehen sich die Täter/Täterinnen auf die Opfer der Novemberpogrome und die Märtyrerrolle Wessels für die rechte Szene. Die schwere Brandstiftung am Anton-SchmausHaus wurde am 09.11.2011, 07:20 Uhr, durch Bauarbeiter festgestellt, die auf dem gegenüberliegenden Gelände beschäftigt waren. Die Folgen dieser schweren Brandstiftung zeigen, dass die Brandlegung unmittelbar vor der Feststellzeit erfolgt sein muss. Dies steht im Widerspruch zum üblichen Täterverhalten bei Brandstiftungen. Erfahrungsgemäß werden derartige Tathandlungen, die häufig geplant sind, aufgrund der geringen Wahrscheinlichkeit der Entdeckung und der damit verbundenen erhöhten Erfolgswahrscheinlichkeit in den Nachtstunden durchgeführt. Insbesondere die eher ungewöhnliche Tatzeit legt den Schluss nahe, dass es sich um eine unmittelbare Reaktion auf die Veröffentlichung der zuvor begangenen Grabschändung handeln dürfte. Nach hiesiger Einschätzung liegen also zumindest Anhaltspunkte dafür vor, dass es sich bei den Tätern/Täterinnen um Sympathisanten/Sympathisantinnen der rechten Szene handeln könnte. Ein vorrangiger Bezug des Brandanschlags zu den Pogromen vom 09.11.1938 liegt nach Einschätzung der zuständigen Auswerteeinheit insofern nicht vor. 11. Seit wann nimmt das Landeskriminalamt in ihren Lageberichten politische Bewertungen vor, warum nimmt das Landeskriminalamt vor allem am Beispiel des Anton Schmaus-Hauses eine politische Wertung vor und ist das nicht eigentlich die Aufgabe des Verfassungsschutzes? Zu 11.: Neben der Verfolgung und Bekämpfung der Kriminalität in Berlin ist das Landeskriminalamt auch für die Aus- und Bewertung von Straftaten der Politisch motivierten Kriminalität zuständig. Die Klassifizierung einer Tat als Politisch motivierte Kriminalität bedingt, dass sich der Polizeiliche Staatsschutz mit politischen Entwicklungen in den einzelnen Phänomenbereichen auseinandersetzt. Mit der Einführung des Definitionssystems im Jahr 2001 werden alle Straftaten im Rahmen einer Einzelfallprüfung unter Hinzuziehung des Definitionssystems auf Vorliegen einer politischen Motivation geprüft und im Rahmen des KPMD-PMK an das Bundeskriminalamt (BKA) gemeldet. Es handelt sich insofern um eine Bewertung der Tatmotivation, nicht aber um eine „politische“ Bewertung. Berlin, den 26. Juni 2012 In Vertretung Krömer Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 24. Juli 2012)