Drucksache 17 / 10 564 Kleine Anfrage 17. Wahlperiode Kleine Anfrage des Abgeordneten Sven Rissmann (CDU) vom 05. Juni 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 06. Juni 2012) und Antwort Paralleljustiz und Rechtsstaat – Lagebild Berlin Die Drucksachen des Abgeordnetenhauses sind bei der Kulturbuch-Verlag GmbH zu beziehen. Hausanschrift: Sprosserweg 3, 12351 Berlin-Buckow · Postanschrift: Postfach 47 04 49, 12313 Berlin, Telefon: 6 61 84 84; Telefax: 6 61 78 28. Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt: 1. Ist dem Senat das Phänomen der aus dem vorder- asiatischen Kulturkreis stammenden Paralleljustiz, also der Ersetzung oder Begleitung von Strafverfahren durch Streitschlichter oder sogenannte Friedensrichter im Wege der Vermittlung zwischen Täter und Opfern oder deren Familien, bekannt und wenn ja, wie bewertet er diese? Zu 1.: Dem Senat ist bekannt, dass es unter Mi- grantinnen und Migranten ebenso wie unter anderen Bevölkerungsgruppen Personen gibt, die mittels Mediation und Schlichtung versuchen, Konflikte außergerichtlich zu lösen. Der Senat begrüßt generell außergerichtliche Streitschlichtungen , sofern sie die geltende Rechtsordnung nicht untergraben. Das gilt grundsätzlich und folglich wird hierbei nicht zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund unterschieden. Dem Senat sind die Diskussionen um Einzelfälle be- kannt, bei denen eine Konfliktlösung außerhalb der geltenden Rechtsordnung angestrebt wurde. Bestrebungen zu einer so genannten Paralleljustiz verurteilt der Senat und tritt ihnen entgegen. Die Einflussnahme von „Streitschlichterinnen und Streitschlichtern“ oder „Friedensrichterinnen und Friedensrichtern “ auf Ermittlungs- und Strafverfahren oder familienrechtliche Verfahren geschieht im Verborgenen und ist daher auch für die öffentlichen Stellen meist nicht erkennbar. Eine derartige Einflussnahme ist daher äußerst kritisch zu sehen und ihr ist entgegenzutreten. Die Einschätzungen von Expertinnen und Experten, ob es sich bei den außergerichtlichen Streitschlichtungen um ein nennenswertes Problem der Justiz handelt, variieren stark. Der Senat hält hierzu weitere wissenschaftliche Klärung und mehr gesicherte empirische Evidenz für erforderlich und verweist hierbei auch auf die Schlussfolgerungen der diesjährigen Frühjahrskonferenz der Justizministerinnen und Justizminister. Ergänzend merkt der Senat an, dass der Titel „Friedensrichterin sowie Friedensrichter“ abzulehnen ist, soweit hiermit fälschlicherweise der Eindruck erweckt wird, die betreffende Person erfülle die formalen Voraussetzungen für ein staatlich anerkanntes Richteramt. 2. Liegen dem Senat empirische Erkenntnisse darüber vor, wie häufig Strafverfahren in Berlin von diesem Phänomen betroffen sind? 3. Werden überhaupt Fälle erfasst, bei denen ein An- fangsverdacht dahin gehend besteht, dass durch Einflussnahmen auf Zeugen parallel zum Strafverfahren dieses nicht mehr ordnungsgemäß durchgeführt werden kann oder Beweismittel verloren gehen? 4.Hat der Senat Vorstellungen über ein diesbezüg- liches Dunkelfeld? 5. Wie viele Ermittlungsverfahren (vor allem wegen des Verdachts einer Straftat nach §§ 153, 154, 145d, 164, 223 ff., 240, 258 StGB) wurden seit 2005 geführt, die dem Problemkreis der unzulässigen Form der außergerichtlichen Streitbeilegung (Paralleljustiz) zugerechnet werden können und zu wie vielen Verurteilungen kam es? Zu 2. bis 5.: Belastbare Zahlen liegen dem Senat nicht vor. 6. Gibt es Projekte oder dergleichen bzw. sind welche geplant, um bei Bevölkerungsgruppen, die von Erscheinungen der „Paralleljustiz“ betroffen sein könnten für Vertrauen in die deutsche Rechtsordnung zu werben? Zu 6.: Derartige Projekte existieren bislang nicht. Die Justizministerinnen und Justizminister haben sich auf ihrer Frühjahrskonferenz vom 13. bis 14. Juni 2012 jedoch des Themas der Paralleljustiz angenommen. Sie haben einhellig die Bedeutung von Anstrengungen, durch Aufklärung über unser Rechtssystem und damit verbundene vertrauensbildende Maßnahmen der Entstehung Abgeordnetenhaus Berlin – 17. Wahlperiode Drucksache 17 / 10 564 und Ausbreitung einer Paralleljustiz entgegenzuwirken, betont. Der Senat teilt diese Auffassung. Die Stärkung des Vertrauens in die Arbeit der Polizei und das deutsche Rechtssystem ist daher ein zentrales Anliegen des Senats. Im Rahmen der Präventionsarbeit werden beispielsweise vielfältige Kontakte u. a. zu Migrantenorganisationen genutzt, um in Gesprächen mit Verantwortlichen die Grundgedanken sowie die wesentlichen Prinzipien unserer Rechtsordnung darzustellen. Um das Vertrauen der Bevölkerung mit Zuwan- derungsgeschichte dahingehend zu stärken, unterstützt der Polizeipräsident in Berlin seit 2003 das Projekt „Transfer Interkultureller Kompetenz (TiK)“, das im vergangenen Jahr in die Regelorganisation der Berliner Polizei überführt wurde. Interkulturelle Aspekte sind inzwischen fester Bestandteil der polizeilichen und justiziellen Ausund Fortbildung, der Netzwerk- und Präventionsarbeit, des täglichen Dienstes sowie des Personalmanagements. Zur Fortentwicklung und Koordinierung dieser interkulturellen Arbeit wurde beim Landeskriminalamt Berlin eine zentrale Ansprechstelle eingerichtet. Diese Bestrebungen sind über Netzwerkpartner, Multiplikatoren und Öffentlichkeitsarbeit in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bekannt, haben das Vertrauen in die Arbeit der Polizei maßgeblich gestärkt sowie die Schwelle zur Kontaktaufnahme deutlich gesenkt. 7. Werden Richter, Staats- und Amtsanwälte sowie Rechtsreferendare geschult, um im Strafverfahren Erscheinungen unzulässiger außergerichtlicher Streitschlichtung (Paralleljustiz) zu erkennen? Zu 7.: Derartige spezielle Schulungen sind bisher nicht erfolgt, erscheinen jedoch sinnvoll. 8. Gibt es eine Stelle bzw. ist es geplant, eine Stelle einzurichten, die beispielsweise bei der Generalstaatsanwaltschaft Erkenntnisse über das Phänomen „Paralleljustiz “ sammeln und auf dieser Grundlage Strategien entwickeln soll? Zu 8.: Die Schaffung einer auf das Phänomen „Paralleljustiz“ spezialisierten Stelle ist bei der Staatsanwaltschaft bzw. Generalsstaatsanwaltschaft bislang nicht beabsichtigt. 9. Welche „Formen von Wiedergutmachung“ sind dem Senat bekannt, die eingesetzt werden, um strafrechtliches relevantes Verhalten einem geordneten Strafverfahren zu entziehen? Zu 9.: Der Senat geht davon aus, dass in Einzelfällen Geldzahlungen an Zeugen mit dem Ziel erfolgen, das Aussageverhalten im Strafverfahren nachhaltig zu beeinflussen . Auch gibt es Anhaltspunkte dafür, dass geldwerte Vorteile, wie z. B. das Überlassen von Immobilien oder Geschäften zur Nutzung, aber auch das Erwerben von vermeintlicher Anerkennung innerhalb der Strukturen Mittel einer „Wiedergutmachung“ sind. 10. Gibt es Erkenntnisse, ob und inwieweit es einen Zusammenhang zwischen unzulässigen Formen außergerichtlicher Streitschlichtung (Paralleljustiz) und der organisierten Kriminalität gibt? Zu 10.: Auch im Bereich der organisierten Kriminali- tät, beispielsweise im sogenannten Rockermilieu, werden Auseinandersetzungen ohne Beteiligung der Justiz geklärt . Dies beruht zum einen auf der den meisten RockerClubs -Codices zugrundeliegenden „Outlaw“-Mentalität, zum anderen auch auf einer deliktsbedingten Abschottung . Insofern ist auch in diesen Milieus eine Einflussnahme auf Geschädigte und Zeugen und damit eine Art Paralleljustiz vorhanden. 11. Gibt es derzeit bzw. ist es geplant, in Berlin für das hier behandelte Problem eine behördenübergreifende Zusammenarbeit, z. B. zwischen dem Integrationsbeauftragten , der Polizei, den Bezirksämtern, den Finanzämtern , dem Zoll, dem Jobcenter und Schulen sowie unter Einbeziehung relevanter Körperschaften wie z. B. der Rechtsanwaltskammer Berlin, zu errichten? Zu 11.: Derartige Projekte gibt es bislang noch nicht. Grundsätzlich ist eine ressort- und behördenübergreifende Zusammenarbeit in jedem Falle zu begrüßen. Entsprechend hat sich auch die Justizministerkonferenz auf ihrer Frühjahrssitzung darauf verständigt, die Integrationsministerkonferenz , die Innenministerkonferenz sowie die Kultusministerkonferenz zu bitten, sich ebenfalls des wichtigen Themas der Paralleljustiz anzunehmen. Es ist daher beabsichtigt, Maßnahmen im Rahmen einer übergreifenden institutionalisierten und weit gefächerten Integrationspolitik zu erarbeiten. 12. Wo verläuft aus Sicht des Senats die Grenze der zulässigen außergerichtlichen Streitbeilegung? Zu 12.: Die formalen Grenzen der zulässigen außer- gerichtlichen Streitbeilegung sind in den derzeit geltenden Gesetzen, beispielsweise der Zivilprozessordnung (ZPO), der Strafprozessordnung (StPO) oder dem Berliner Schiedsamtsgesetz festgeschrieben. Die Schwelle zur unzulässigen außergerichtlichen Streitbeilegung ist aus Sicht des Senats vorbehaltlich der Beurteilung des jeweiligen Einzelfalls jedenfalls dort überschritten, wo Konfliktlösungen den formellen Instanzen entzogen sind und die Beeinflussung der Beteiligten die Grenze zu einem Straftatbestand, insbesondere einer Nötigung im Sinne von § 240 des Strafgesetzbuches (StGB), einer Strafvereitelung nach § 258 StGB oder einer Anstiftung zur Falschaussage bzw. zum Meineid gemäß der §§ 153ff, 26 StGB überschreitet. Berlin, den 17. August 2012 Thomas Heilmann Senator für Justiz und Verbraucherschutz (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 03. Sep. 2012) 2